Читать книгу November-Blues auf Wangerooge - Malte Goosmann - Страница 8

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Petersen war wieder der erste, der das Dienstzimmer betrat. Zwar bedauerte er, dass es kein gemeinsames Frühstück gab, so wie in alten Zeiten. Auf der anderen Seite empfand er eine gewisse Distanz zu seiner neuen Kollegin und zu dem in seinen Augen viel zu jungen Oberkommissar Erhardt. Die fehlende Vertrautheit erleichterte es ihm, auf die so geliebten morgendlichen Rituale zu verzichten. Als er seinen PC hochfuhr, war die Enttäuschung groß. Weder die KTU noch die Rechtsmedizin hatten ihre Berichte geschickt. Sie würden sich also gedulden müssen. Heike Wohlers betrat als nächste das Revier. „Moin, Lars, sind die Berichte da?“

Petersen schüttelte mit dem Kopf.

Wohlers legte ihm einen Zettel auf den Schreibtisch. „Ich war schon bei der Gemeinde. Enzo Poppinga wohnt gleich hier in unserer Nachbarschaft, in der Charlottenstraße, da über dem leerstehenden Laden.“

„Gute Arbeit, wir haben bloß keinen Schlüssel. Seine Klamotten sind mit in die Rechtsmedizin nach Oldenburg gegangen.“

„Brauchen wir nicht auch einen Beschluss, um die Wohnung zu öffnen?“

„Normalerweise ja, aber ich denke, es ist Gefahr im Vollzug. Wir müssen Beweise sichern.“ Petersen griff zum Telefon und rief die örtliche Tischlerei an.

Auf Heike Wohlers Stirn kräuselten sich ein paar Falten. Ihr war sichtlich unwohl bei der Aktion ihres Kollegen.

„In einer halben Stunde kommt jemand und öffnet uns die Wohnung.“

In diesem Moment betrat Oberkommissar Erhardt das Dienstzimmer. „Moin allerseits, wie bekommen wir die Handynummer von Poppinga? Ich soll doch die Verbindungsdaten recherchieren.“

Heike Wohlers grinste und legte genüsslich einen Prospekt über die Appartementanlage auf den Tisch, in dem die Handynummer des „Facility Managers“ angegeben war. Auch Petersen musste grinsen. Wohlers hatte Erhardt vorgeführt. Das gefiel ihm. Allerdings war Erhardt von der Absicht Petersens, die Wohnung Poppingas gewaltsam öffnen zu lassen, überhaupt nicht angetan. „Das kannst du nicht machen, dafür brauchen wir einen Beschluss.“

„Da können wir nicht drauf warten“, erregte sich Petersen, „was ist, wenn der Täter den Schlüssel an sich genommen hat und in Poppingas Wohnung spaziert? Ich nehme das auf meine Kappe.“

Erhardt wiegte seinen Kopf hin und her. „Okay, mach aber eine Notiz für die Akte.“

Wohlers und Petersen verabschiedeten sich und gingen das kurze Stück in Richtung Zedeliusstraße. Vor dem weißen Gebäude mit dem leerstehenden Laden stand schon der E-Karren der Tischlerei. Ein lang aufgeschossener Mann in Arbeitsklamotten und mit einem Werkzeugkasten in der Hand begrüßte die Polizisten. „Moin, ihr beiden, was liegt an? Ich soll Einbrecher spielen?“

Petersen nickte. Er kannte den Tischlergesellen aus dem „Störtebeker“. Er gehörte zu den „After work-Knoblern“ und war Fan von Mainz 05. Wenn Mainz Werder besiegt hatte, was in letzter Zeit häufiger vorgekommen war, musste Petersen sich seine Kommentare anhören. „Okay, wie heißt Andy mit Nachnamen?“, frotzelte Petersen.

„An die Arbeit“, kam es zurück, „ Mensch, Sheriff, der Gag hat einen Bart, du hattest schon mal bessere Sprüche auf Lager.“

Langsam betraten die drei nun den Flur des Hauses. Vor der Wohnungstür von Poppinga holte der Tischlergeselle sein Werkzeug aus seiner Kiste und begann, das Schloss aufzubohren. Nach nur zwei Minuten war die Tür geöffnet. Petersen bat den Gesellen, in ungefähr einer Stunde wiederzukommen, um dann die Tür mit einer Notverriegelung zu versehen.

Heike Wohlers und Petersen zogen sich ihre Gummihandschuhe über und betraten langsam die Wohnung, die eigentlich nur aus einem schlauchartigen Zimmer bestand. Muffiger Geruch schlug ihnen entgegen. Nur an der Stirnseite des Zimmers gab es ein Fenster, das geschlossen war.

„Das nur zum Thema Wohnungsnot auf der Insel. Wer will schon in so einem Loch hausen?“, bemerkte Petersen trocken.

In der Mitte des Raumes stand ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Rechts davon war eine Art Bücherbrett an der Wand angebracht, auf dem zwei Kochplatten standen. Neben dem kleinen Bett an der Stirnseite befand sich ein Kleiderschrank. Vom Eingang ging eine Tür zum Badezimmer ab, das eigentlich nur eine fensterlose Nasszelle war.

„Aufgeräumt und sauber ist es ja.“ Heike Wohlers fuhr mit ihren Fingern über den Tisch, der mit einer rotweißkarierten Tischdecke bedeckt war. Über dem Tisch hing ein Poster, das eine Fußballmannschaft zeigte. Darunter stand U.S. Lecce.

„U.S Lecke, was ist das denn für ein Verein?“, las Heike Wohlers.

Petersen entgleisten die Gesichtszüge. Er unterdrückte ein Lachen. „Das ist italienisch und wird ‚Lätsche‘ ausgesprochen. Lecce ist eine Stadt ein Apulien.“

„Woher weißt du das denn nun wieder, kannst du italienisch?“

„Nein, ich bin mit einem italienischen Restaurantbesitzer in Bremen befreundet und der kommt aus Apulien. Wenn ich da bin, erzählt er mir immer, wo der U.S. Lecce in der Tabelle der Serie A steht.“

„Poppinga ist ja nun kein typisch italienischer Name, oder?“

„Nein, aber ich glaube ein Elternteil kommt aus Italien. Ich denke es war die Mutter.“ Petersen deutete auf ein Bild, das auf dem Nachttisch neben dem Bett stand. Es zeigt eine wunderschöne Frau mit langen schwarzen Haaren. „Das wird ‚la Mamma‘ sein. Die Mutter wird in Italien sehr verehrt“, dozierte Petersen.

„Okay, danke für deine Einführung in die Lebensweise der Italiener. Lass uns weitermachen.“

Petersen ärgerte sich über diese Bemerkung. „Das Erfassen der Lebensumstände eines Mordopfers gehört zu einer guten Ermittlerarbeit“, erklärte er in belehrendem Ton.

Heike Wohlers vermied es zu antworten. Petersens Vorträge gingen ihr auf die Nerven.

„Ich sehe keinen Lap-Top oder PC“, wechselte sie das Thema.

„Wahrscheinlich hat er einen Dienst-PC in seinem Büro“, entgegnete Petersen, der sich jetzt den Spiegelschrank im Bad vornahm. Als er den Schrank öffnete, pfiff er durch die Zähne: „Hallo, was haben wir denn hier?“ Triumphierend hielt er eine Packung Viagra und eine Packung Cialis in die Höhe.

Heike Wohlers blickte um die Ecke und staunte. „Wofür braucht ein so junger Mann diese Dinger? Das ist doch was für alte Männer, die nicht mehr können.“

Petersen schluckte seinen Ärger über diese Bemerkung herunter. „Vielleicht hat er damit seinen Ruf als ‚Wunder-Stecher‘ von der Insel begründet.“

„Mann, Lars, was soll denn wieder dieses Macho-Gelaber?“

„Stopp, diese Pillen werden von jungen Männern als Lifestyle-Droge eingesetzt. Bevor die ins Party-Wochenende gehen, pfeifen sie sich diese Pillen ein.“

„Hab‘ ich noch nie gehört und was soll das bringen?“

„Allzeit bereit zu sein, immer zu können, sich keine Blöße zu geben.“

Heike Wohlers schüttelte den Kopf. „Das ist krank“, mit diesen Worten ging sie zum Kleiderschrank, und begann diesen zu durchsuchen. Nach einigen Minuten rief sie aufgeregt: „Lars, komm mal!“

Petersen hatte gerade eine Großpackung Kondome in der Hand. „Was ist?“

Sie hielt ihm ein Bündel mit Geldscheinen entgegen.

„Oha, jetzt wird es wirklich interessant.“ Er setzte sich an den kleinen Tisch, während Wohlers immer mehr Scheine auf den Tisch warf. Nach einigen Minuten des Geldzählens hatten sie die Summe erfasst, 10.000 EUR lagen vor ihnen.

„Unglaublich, woher hat der so viel Geld und dann noch in bar bei sich rumliegen?“, fragte eine sichtlich aufgeregte Heike Wohlers.

Leicht grinsend sah Petersen seine Kollegin an. Die Lust zur Provokation war in ihm erwacht. „Vielleicht war er ein Callboy und hat sich seine Dienste von der Weiblichkeit bezahlen lassen.“

Heike Wohlers war sichtlich verärgert. Ihre Backen verfärbten sich. „Petersen, was ist mit dir los? Du hast ja nur diese Sex-Scheiße im Kopf. Das ist ja unerträglich.“

Er wusste, dass jetzt die Zeit für einen Rückzug gekommen war. Sie mussten wieder zur Sacharbeit zurückkehren. „Okay, okay, ich hatte Kopfkino. Wir sollten mit Erhardt nachher alle Möglichkeiten durchspielen. Er muss uns die Kontounterlagen besorgen. Wir müssen Einsicht in Poppingas finanzielle Verhältnisse bekommen. Was hat er verdient? Nebeneinkünfte? Erbschaft usw.“

„Geht doch“, kam es trocken von seiner Kollegin.

Sie brauchten noch etwa 30 Minuten, bis die komplette Wohnung durchsucht war, wobei es keine Überraschungen mehr gab. Pünktlich stand der Tischlergeselle vor der Tür. Er verriegelte die Wohnungstür provisorisch und Petersen klebte ein Polizeisiegel über den Türspalt.

„Rechnung geht an euch, oder?“

Petersen nickte. Kaum war der E-Karren der Tischlerei abgefahren, hörten sie eine tiefe, verrauchte Stimme.

„Das beste am Norden sind unsere Kommissare“, rief der Magister, der ihnen entgegenkam, um seinen morgendlichen Cappuccino zu trinken.

„Ich weiß schon, warum ich heute Nacht so gut geschlafen habe. Bei so viel polizeilicher Kompetenz auf der Insel fühlt man sich sicher“, setzte er nach und begann die erste Zeile der Titelmelodie aus der Fernsehserie „Großstadtrevier“ von Truck Stop zu singen.

Wenn der Schutzmann ums Eck kommt, nimmt der Ede reiß aus…“

Heike Wohlers war drauf und dran zu platzen. Sie fühlte sich schlichtweg verarscht.

„Du hast schon mal besser gesungen. Trink deinen Cappo und lass uns unsere Arbeit machen, denn wie du arbeitest, möchte‘ ich auch mal Urlaub machen“, konterte Petersen.

„Du würdest keine Schicht bei mir durchhalten, mein Lieber. Aber okay, man sieht sich. Macht’s gut, ihr Streifenhörnchen“, mit diesen Worten zog der Magister von dannen. Der Erregungspegel bei Heike Wohlers war wieder gestiegen.

„So was muss man sich doch nicht gefallen lassen und du spielst auch noch mit“, empörte sie sich.

„Er ist gewöhnungsbedürftig, aber es macht Spaß, mit ihm zu frotzeln.“

Ungläubig schüttelte Heike Wohlers ihren Kopf. Sie überquerten die Straße. Im Revier wartete Oberkommissar Erhardt schon ungeduldig auf die beiden. „Es gibt ein Problem. Der Typ von der Hausverwaltungsfirma aus Oldenburg ist schon da und ist bereits in Poppingas Büro. Das passt mir gar nicht.“

Petersen nickte. „Wir gehen sofort hin. Heike, du hältst bitte hier die Stellung. Bitte fertige in der Zwischenzeit eine Notiz über die Hausdurchsuchung an!“

Ihre säuerliche Miene zeigte Petersen, dass sie nicht unbedingt mit dieser Form der Arbeitsteilung einverstanden war.

Beide Kommissare eilten in Richtung Appartementanlage. Das Hausmeisterbüro befand sich im Erdgeschoss des ersten Hauses. Als sie dort eintraten, durchwühlte gerade jemand einen Schreibtischauszug.

„Moment mal, was machen Sie da?“, rief Kommissar Erhardt mit strenger Stimme.

„Ich suche die Liste mit den Buchungen für die Weihnachtstage“, erklärte der Mann, der sich sichtlich ertappt fühlte. „Ich darf mich erst einmal vorstellen, Dennis Wartmann, Vertreter der Hausverwaltungsagentur.“

Nachdem auch die beiden Kommissare sich vorgestellt hatten, begannen sie eine kurze Befragung zur Person von Enzo Poppinga, die aber nichts Neues zum Vorschein brachte. Poppinga war als Hausmeister tätig, empfing die Gäste und überprüfte, ob das Inventar nach Beendigung des Urlaubs noch vollständig und unbeschädigt war. Von etwaigen Nebeneinkünften war Wartmann nichts bekannt. Wartmann hatte nichts dagegen, dass die Polizisten sich in dem Büro umschauten. Allerdings eskalierte die Situation, als Erhardt bat, den Rechner mitnehmen zu dürfen.

„Hierfür brauchen Sie doch nach meiner Kenntnis einen Beschluss oder irre ich mich da?“

„Ich dachte, Sie seien bereit, mit uns zu kooperieren?“, bemerkte Erhardt verärgert.

„Da dies ein Firmencomputer ist und nicht das persönliche Eigentum von Herrn Poppinga, muss ich auf einen Beschluss bestehen.“

Jetzt wurde Erhardt förmlich. „Okay, dann ist das Büro jetzt gesperrt, auch für Sie, Gefahr im Vollzug. Ich werde mir diesen Beschluss noch heute besorgen. Bitte verlassen Sie das Büro und händigen Sie uns die Schlüssel aus!“

Wartmann fühlte sich überrumpelt, nur widerwillig händigte er die Schlüssel aus. Alle drei verließen das Büro. Wartmann hinterließ seine Handynummer und Erhardt versprach, ihn sofort zu kontaktieren, wenn der Beschluss da war.

Auf der Stelle telefonierte Erhardt mit Wilhelmshaven, um einen Beschluss zu bekommen. Auf dem Rückweg zum Revier äußerte Petersen einen Verdacht. „Der hat doch nicht die Buchungen für die Weihnachtstage gesucht. Das kann mir niemand erzählen. Solche Buchungen laufen immer über den PC. Er hat etwas anderes gesucht. Da gehe ich jede Wette ein.“

„Das kam mir auch alles etwas komisch vor.“

„Ich hoffe nur, dass der liebe Herr Wartmann uns tatsächlich alle Schlüssel vom Büro gegeben hat und nicht jetzt wieder heimlich an den PC geht.“

Erhardt nickte. „Vielleicht hätten wir das Büro versiegeln sollen. Scheiße, hab‘ ich nicht dran gedacht.“

Im Revier angekommen, wurden sie von Heike Wohlers freudig begrüßt. „Die KTU hat die Ergebnisse der ballistischen Untersuchung geschickt, höchst interessant.“

„Nun mach das nicht so spannend, was steht drin?“

Wohlers genoss es sichtlich, dass sie nun die Informationen in der Hand hielt. Betont langsam rief sie die Seite auf ihrem PC auf und studierte noch einmal die Mail aus Oldenburg.

„Hallo, was ist denn nun?“, quengelte ein reichlich genervter Petersen.

Langsam drehte Wohlers sich auf ihrem Bürostuhl zu den beiden Kommissaren. „Also“, sprach sie betont provozierend. Petersen schäumte vor Ungeduld, was sie zu genießen schien. „Poppinga wurde mit einer Jennings 6 mm erschossen. Die Waffe hat ein 6 Schuss-Magazin. Es wurde nur einmal geschossen.“

„Jennings, noch nie gehört“, staunte Erhardt.

Petersen lächelte verschmitzt und strich sich mit der rechten Hand langsam über seinen Dreitagebart. „Jennings Firearms heißt die Firma mit Sitz in Chino, Kalifornien. Diese Waffe ist sehr klein und wird in den USA vom FBI als versteckte Waffe benutzt, was natürlich einige Fragen aufwirft.“

Wohlers und Erhardt konnten ihr Erstaunen über Petersens Kenntnisse kaum unterdrücken. Aber es blieb keine Zeit für weitere Diskussionen. Das Faxgerät ratterte. Gespannt starrte Erhardt auf das Gerät. „Endlich wird mal schnell gearbeitet“, jubelte er, „der Beschluss ist da. Laut §§ 94ff. StPO können wir den PC beschlagnahmen, unterzeichnet von einem Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Wilhelmshaven. Wie kriegen wir den PC denn zum Flughafen, denn dort wird er abgeholt und nach Oldenburg zur KTU gebracht?“ Jetzt hatte Kommissar Erhardt unbewusst einen wunden Punkt angesprochen.

Petersens Blutdruck fuhr hoch. „Seit Jahren fordern wir hier ein Fahrzeug für den Polizeiposten Wangerooge. Alle wichtigen Institutionen haben hier Fahrzeuge: Feuerwehr, Rettungsdienst, Seehundrettung usw. nur wir nicht. Selbst Helgoland hat ein Fahrzeug und jetzt auch Juist. Die haben einen vollelektrisch angetriebenen Squad bekommen, überdacht und in jedem Gelände einsetzbar. Und was machen wir jetzt? Ich hole den Bollerwagen aus dem Schuppen und dann ziehen wir damit den PC zum Flughafen. Ich könnte kotzen!“

Seine Kollegen waren über diesen Gefühlsausbruch Petersens überrascht. Eben noch war er der coole Ermittler, der über FBI-Waffen Bescheid wusste und nun diese Reaktion wegen eines fehlenden Dienstfahrzeugs. Nachdem Petersen sich beruhigt hatte, holte er den Bollerwagen aus dem Schuppen. Heike Wohlers bot sich an, Erhardt zur Appartementanlage zu begleiten. Petersen nahm das Angebot dankend an. Er wollte die Zeit nutzen, um die aufgelaufenen Informationen zu ordnen, denn nun waren auch weitere Berichte von KTU und Rechtsmedizin eingetroffen. Wieder beschrieb er ein neues Blatt auf dem Flipchart-Board. Unter der Überschrift „gesicherte Erkenntnisse“ trug er die Ergebnisse der Untersuchungen ein. Als er die Berichte noch einmal durchlas, stutzte er. Die KTU hatte bei Poppinga ein Fitness-Armband am Handgelenk gefunden und die Daten des Fitness-Trackers ausgelesen. Der genaue Todeszeitpunkt stand damit exakt fest, weil danach kein Pulsschlag mehr aufgezeichnet worden war.

Petersen goss sich einen neuen Kaffee ein und blickte aus dem Fenster. Der Nebel hatte sich verzogen, aber der Wind hatte zugenommen. Für den Nachmittag war Windstärke 8 vorhergesagt, was für diese Jahreszeit nicht ungewöhnlich war. Er musste an Susanne denken, die sich jetzt wahrscheinlich mit der „Bad Bramstedt“ durch die Wellen kämpfte. Das abrupte Ende ihres Treffens vor dem „Hotel am Park“ gärte immer noch in ihm, auch von Mona war nichts mehr zu hören. Sie würde, ehrgeizig wie sie war, zielstrebig an ihrer Karriere arbeiten. Gerade als Petersen sich im Selbstmitleid ergehen wollte, kamen seine beiden Kollegen vom Flugplatz zurück.

„Es brist auf“, bemerkte Heike Wohlers, „hast du einen frischen Kaffee für uns?“

Petersen nickte und schenkte den beiden ein. Klaus Erhardt war der erste, der Petersens Notizen auf dem Flipchart bemerkte. „Oh, du warst nicht untätig. Gibt es neue Erkenntnisse?“

Petersen stand auf, nahm ein Lineal vom Schreibtisch, das ihm nun als Zeigestock dienen sollte.

Heike Wohlers grinste. „Du hättest Lehrer werden sollen, aber Frontalunterricht ist aus der Mode gekommen.“

Selbst Petersen musste lachen. „Das nächste Mal mach‘ ich euch eine Power-Point-Präsentation. Okay, was haben wir jetzt als gesicherte Erkenntnis? Poppinga wird mit einer Jennings erschossen, in Deutschland selten benutzt, sehr kleine Waffe, wird in den USA vom FBI und häufig von Frauen benutzt.“

„Wie kommst du darauf?“, unterbrach Wohlers.

„Die Waffe passt mühelos in eine Handtasche. Der Todeszeitpunkt steht exakt fest, 1:35 Uhr. Die Farbe, die auf seinen Unterleib gegossen wurde, ist Lebensmittelfarbe. Poppinga war mit Viagra vollgepumpt. Anhand der ausgelesenen Daten des Trackers ist der Puls im Laufe der Nacht viermal extrem hochgeschossen.“

„Oha“, bemerkte Erhardt süffisant, auch Petersen verzog sein Gesicht.

„Kann mir mal einer sagen, was ihr hier so feixt?“, warf Heike Wohlers verärgert ein.

„Na ja, er hatte vermutlich viermal Geschlechtsverkehr“, erläuterte Erhardt, „eine stramme Leistung.“

„Na ja, mit den entsprechenden Hilfsmitteln.“ Heike Wohlers war dieses Thema sichtlich unangenehm. „Wurde DNA gefunden?“, versuchte sie das Thema zu wechseln.

Die Antwort kam von Petersen: „Jede Menge weibliche DNA und auch Spuren von Scheidensekret, aber auch jede Menge männlicher DNA, was bei einer Ferienwohnung nicht weiter verwunderlich ist, wurde gefunden. Auf seinem Körper befanden sich auffällig viele blonde Haare, was vermuten lässt, dass seine letzte GV-Partnerin blond war. Verlassen wir nun das Sexuelle. Ein Handy wurde nicht gefunden. Nur eine Geldbörse mit Ausweispapieren. Im Geldbeutel befanden sich 1.200 Euro, etwas ungewöhnlich viel für einen Hausmeister, finde ich.“

„Okay, hat er sich vielleicht doch seine Liebesdienste bezahlen lassen?“, gab Erhardt zu bedenken.

„Auszuschließen ist das nicht. Ich halte das aber eher für unwahrscheinlich. Nach allem, was ich in Erfahrung gebracht habe, sind ihm die Weiber nachgelaufen.“

„Macho, Chauvi“, zischte Heike Wohlers.

„Entschuldigung, ist mit so rausgerutscht, ich meinte natürlich Frauen“, korrigierte sich Petersen und fuhr dann fort.

„Poppinga und die Frauen, das Thema bleibt für uns wichtig. Eifersucht und Ähnliches können Mordmotive sein. Ich denke, dass die Auswertung der Verbindungsdaten uns da weiterhilft, obwohl mir davor graut.“

„Wieso das denn?“, wollte Erhardt wissen.

„Dies ist eine Insel. Durch unsere Befragungen greifen wir tief in das Privatleben ein. Die möglichen Verwerfungen möchte ich mir gar nicht vorstellen. Da ist äußerste Sensibilität geboten.“

„Richtig“, bemerkte Wohlers, die Petersen gar nicht so viel Fingerspitzengefühl zugetraut hätte.

„Kommen wir nun zum nächsten Punkt“, fuhr Petersen fort, „wir finden relativ viel Bargeld in seinem Portemonnaie, zusätzlich zu dem Fund von 10.000 Euro in bar aus seiner Wohnung. Woher hat der Mann so viel Geld? Seine Kontodaten könnten uns da vielleicht weiterhelfen.“

„Bin ich dran“, warf Erhardt ein.

„In diesem Zusammenhang ist auch das Verhalten des Herrn Wartmann von der Hausverwaltungsagentur interessant, der sichtlich nervös wurde, als wir an Poppingas PC wollten.“

„Die Agentur muss durchleuchtet werden, eine Aufgabe für Oldenburg, denn da sitzen die ja.“

„Sehe ich genauso, Klaus“, stimmte Petersen zu.

Nachdem Petersen geendet hatte, trat eine gewisse Stille ein. Alle Anwesenden schienen das Gesagte auf sich wirken zu lassen. Heike Wohlers ging noch einmal die Punkte durch, die auf dem Flipchart standen, dann fasste sie sich ein Herz. „Ihr mögt ja über mich lachen, aber was ist mit einer möglichen Verbindung nach Italien?“

„Wo ein Italiener auftaucht, ist auch die Mafia nicht weit“, witzelte Klaus Erhardt.

„Ja, das ist ein Klischee“, verteidigte sich Wohlers.

„Stopp“, unterbrach Petersen, „wir sollten alle Hypothesen prüfen.“ Er notierte „Verbindung nach Italien“ auf das Flipchart-Papier.

„Gibt es überhaupt in Apulien Mafiaorganisationen?“, fragte Erhardt, der sich jetzt wieder um Sachlichkeit bemühte.

„Mafia ist überall, auch hier in Deutschland, da sollten wir uns nichts vormachen“, dozierte Petersen, „die apulische Mafia, die ‚Sacra Corona Unità‘, was etwa Heilige Vereinigte Krone heißt, ist im Bereich Zigarettenschmuggel, Drogen und Menschenhandel unterwegs, aber auch die klassische Schutzgelderpressung gehört zu ihrem Gewerbe. Ihr erinnert euch vielleicht noch an den großen italienischen Weinskandal aus dem Jahre 2008, da hat die apulische Mafia etwa 70 Mio. Liter Wein mit Düngemitteln gestreckt.“

Wohlers und Erhardt waren von Petersens Ausführungen beeindruckt. Was der alles so draufhat und so einer ist hier Dorfpolizist, dachte Heike Wohlers.

„Wieviel italienische Lokale habt ihr hier auf der Insel?“, fragte Erhardt.

„Drei, aber ich denke wir sollten den zweiten Schritt nicht vor dem ersten machen. Wir müssen zuerst rauskriegen, ob unser Enzo noch Kontakte nach Apulien hatte. Der Vater in Esens muss befragt werden.“

Beide Kollegen nickten zustimmend. In diesem Moment betrat ein Mann in Arbeitskleidung, mit gelber Warnweste und weißem Bauhelm die Wache. „Ich möchte eine Anzeige aufgeben.“

Wie sich herausstellte, waren von einer Baustelle im Bereich Schulstraße, Zedeliusstraße, Kapitän-Wittenberg-Straße zwei hochwertige Baustrahler gestohlen worden. Beide Strahler waren an einem Lichtmast befestigt gewesen und hatten einen Wert von ca. 2.500 Euro. Der Inselalltag hatte die Polizisten eingeholt.

November-Blues auf Wangerooge

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