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Obwohl es das Lieblingsessen aller war, hatte es keinem sonderlich geschmeckt. Da hatten auch die Weizenbiere und der württembergische Rotwein nicht nachhelfen können. »Schade, ihr hättet mehr Hunger mitbringen sollen«, zeigte sich Gisela Temming enttäuscht, als sie mit Schwiegertochter Sylvia die Reste abräumte, die zweifelsohne noch für mehrere Portionen gereicht hätten.

»Ich glaube«, ergriff Sven die Initiative, nachdem sie sich nebenan im Wohnzimmer im Schein eines mit elektrischen Kerzen bestückten Kronleuchters in altehrwürdigen Polstersesseln niedergelassen und Vater Walter nun weiteren Rotwein kredenzt hatte, »wir sollten nicht so tun, als herrsche Friede, Freude, Eierkuchen.«

»Langsam, langsam«, unterbrach ihn der unerwartet redselig gewordene Senior: »Lasst uns anstoßen – auf die Küche und da­rauf, dass wir uns heute zusammengefunden haben. Dank Mutter.« Er erhob das Glas und deutete mit einer Geste an, dass er mit allen anstoßen wolle. Doch eine Armlänge reichte an dem großen Couchtisch dazu nicht aus, sodass sie sich alle erheben mussten.

»Okay«, begann Sven erneut, nachdem sie getrunken und sich wieder gesetzt hatten. »Sylvia ist in Sorge, jemand könnte unsere Familie – na, sagen wir mal – attackieren. Sie meint deshalb, es wäre dringend geboten, darüber zu reden.«

Sylvia nickte und sah hilfesuchend zu ihrer Schwiegermutter, die sogleich erkannte, dass nun sie gefragt sein würde: »Sylvia und ich hatten heute Vormittag denselben Gedanken. Und ich bin dir dankbar« – sie wandte sich an die Schwiegertochter – »dass du uns hast wissen lassen, was geschehen ist.«

»Geschehen ist gar nichts«, fuhr Sven dazwischen, entschuldigte sich aber sofort für den scharfen Ton und ließ seine Mutter weiterreden.

»Dieser Schlüsselanhänger, den ihr in den Briefkasten gesteckt bekommen habt, ist ein Zeichen, dass wir die Angelegenheit ernst nehmen müssen.«

Sylvia kramte ihn wie aufs Stichwort aus ihrer kleinen Handtasche und legte ihn auf den Tisch.

Ihre Schwiegermutter hielt inne und griff danach, während Walter stumm und regungslos in seinen Sessel versunken war. »Dieser Schlüsselanhänger hat Siegfried gehört. Eine Apollo-Weltraumkapsel«, fuhr Gisela fort. »Das Ding ist damals bei dem …« – sie zögerte – »… Vorfall abhandengekommen.«

Sven runzelte die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und was haben wir damit zu tun? Ich kenne weder Papas Bruder Siegfried, noch war ich zum Zeitpunkt dieses Vorfalls auf der Welt.« Das Wort ›Vorfall‹ hatte er auf seltsame Weise betont und damit zum Ausdruck gebracht, dass der Fenstersturz innerhalb der Familie seit jeher so bezeichnet wurde. »Und wer ist diese Barbara, die das Ding gefunden haben soll?« Er glaubte zu wissen, dass dieser Name früher hin und wieder gefallen war.

Seine Eltern sahen sich an. Vater Walter, noch immer schweigsam, ließ seiner Frau den Vortritt.

»Barbara«, begann sie mit einem tiefen Seufzer und wandte sich an Sven, »das war damals die Hausangestellte bei deinem Großvater. Eigentlich müsstest du das doch wissen.«

»Lebt die denn noch?«, fragte Sven, ohne nachzurechnen, wie alt sie jetzt sein müsste.

»Nein, sie lebt nicht mehr«, erklärte seine Mutter sachlich. »Sie ist schon kurze Zeit danach bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.«

»Verkehrsunfall?«, hakte Sven nach. »Hier?«

»Ja«, erwiderte Gisela und sah zu ihrem Mann, der mit zitternder Hand zu seinem Weinglas griff. »Nicht weit von hier. Sie ist mit dem Fahrrad gefahren und wurde von einem Auto erfasst.«

»Mit dem Fahrrad«, wiederholte Sven ungläubig. Vor seinem geisten Auge tauchte die Szene von heute Abend auf.

»Ja – und ganz besonders tragisch war, dass der schuldige Autofahrer Unfallflucht begangen hat.«

Betretenes Schweigen.

Gisela Temming holte aus einer Ablage, die in Reichweite stand, das Schriftstück, das mit der Post gekommen war. »Das könnte in einem Zusammenhang mit dem Kuvert stehen, das ihr erhalten habt.«

Sven und Sylvia versuchten vergeblich, die schweren Sessel näher an den Tisch heranzurücken, um das Papier gemeinsam genauer sehen zu können. Sie setzten sich auf die äußerste Polsterkante und überflogen den Text. Walter Temmings Blick wanderte zu den stehen gebliebenen Zeigern der Uhr. Er hatte in den vergangenen Stunden mit Gisela heftig darüber gestritten, ob es Sinn machte, die Kinder – wie sie Sven und dessen Frau gerne titulierten – in alles einzuweihen. Gisela hatte da­rauf bestanden, es heute zu tun – zumindest teilweise. Sie brauchten ja nicht gleich alles preiszugeben. Jetzt aber, das spürte Walter, war der Moment der Wahrheit ganz nahe. Eine Minute des eisigen Schweigens verging, bis Sven sachlich resümierte: »Das liest sich, als schreibe dein Bruder Siegfried aus dem Jenseits.«

Sylvia zitierte leise: »›Aber nun wurde mir die Gelegenheit geboten, ins Vergangene einzugreifen.‹ Das klingt ja richtig unheimlich.«

Ihre Schwiegermutter Gisela nickte. »Die Welt ist voller Zeichen, die uns von anderswo her zugespielt werden. Wir sind meist nur nicht bereit, sie zu erkennen oder zu deuten.«

»Bitte, Gisela!«, fuhr ihr Walter über den Mund. »Verschon uns jetzt mit solchen Dingen.«

Auch Sven hielt es eher für angebracht, Konkretes zu vertiefen und zitierte: »›Du hast mich um das Erbe des Vaters gebracht. Ein gnädiges Schicksal oder besser gesagt: eine Geldzuwendung und ein Todesfall haben dich davor bewahrt, dafür büßen zu müssen.‹« Er suchte Blickkontakt zu seinem Vater, doch der wich aus. Sven blieb hartnäckig: »Kannst du dir vorstellen, was damit gemeint sein könnte? Und welche Rolle spielt diese Barbara?«

Nach einer peinlichen Stille, die ein paar Sekunden drohend den Raum erfüllte, sah sich Gisela zu einer Erklärung genötigt: »Es hat damals bei diesem Vorfall viele Gerüchte gegeben, die geeignet gewesen wären, den Ruf der Familie zu schädigen.«

Walter nickte langsam, ohne etwas hinzuzufügen.

Die Blicke der beiden jungen Leute waren gespannt auf Gisela gerichtet, die sich augenscheinlich schwer damit tat weiterzureden. »Diese Barbara, von der hier die Rede ist, hab auch ich noch gekannt. Walter und ich waren zu diesem Zeitpunkt verlobt, und ich hab zeitweilig hier gewohnt.« Sie verkniff sich ein verschämtes Lächeln. »Barbara war 25 und damals zwei Jahre hier im Haushalt. Dienstmädchen, hat man damals gesagt.«

Walters Blick hing wieder an der Uhr, während Sohn und Schwiegertochter aufmerksam lauschten.

»Barbara war, das kann man so sagen, ein kleines Luder …« Sie sah verstohlen zu ihrem Ehemann, der keinerlei Reaktion zeigte und nur verkrampft mit den Fingern spielte. »Sie hat die Männer reihenweise um die Finger gewickelt. Anfangs wohl auch Walters Vater, den Georg. Ihr erspart mir bitte, dass ich tiefer da­rauf eingehe, aber das hat zu gewissen Spannungen geführt, aufgrund derer sich mein Schwiegervater Georg veranlasst sah, die Barbara zu entlassen.«

Walter nickte und holte tief Luft. Offenbar war das Ziffernblatt der Standuhr so etwas wie ein Rettungsanker, an dem seine Augen hingen, um niemanden anschauen zu müssen. In ihm brodelte ein Gefühlscocktail aus Zorn, Wut, Angst und Scham. Hier dazusitzen wie ein Häuflein Elend, von einem anonymen Briefschreiber attackiert und wegen lange zurückliegender Gerüchte von der Familie wie in einem Kriegstribunal zur Rechenschaft gezogen, das entsprach ganz und gar nicht seinem Naturell. Er hasste sich selbst, so untätig und still den Lauf des Geschehens abzuwarten. Wie stand er da – vor Sohn Sven und Schwiegertochter Sylvia? Er hatte heute Nachmittag zwar mit Gisela das Vorgehen besprochen und ihr letztlich die Wortwahl überlassen. Aber ob Sven und Sylvia glaubten, was sie zu hören bekamen, war eine ganz andere Frage. Er selbst hatte bisweilen sogar das Gefühl, nach der langen Zeit kaum noch unterscheiden zu können, was Realität und Wunschtraum war. Nie, niemals hätte er geglaubt, dass er sich damit noch einmal würde so intensiv befassen müssen. Er hatte es doch zugeschüttet, verdrängt und wie einen bösen Geist abgewehrt. Doch es war wie mit jedem Schutt und Müll: Es gärte langsam vor sich hin, tief im Untergrund – und schien explosive Gase entwickelt zu haben. Walter Temming hörte bei diesen Gedanken wie in Trance die Stimme seiner Frau, die über Barbara sprach.

»Das alles war zu der Zeit, als es geschehen ist – die Sache mit Siegfried. Barbara hatte in den Tagen danach, als die Kündigung schon ausgesprochen war, Walter und seinen Vater Georg und schließlich sogar mich mit der Behauptung erpresst, sie habe gesehen, Walter und ich hätten Siegfried bei der Reparatur einer Jalousie von der Leiter ins Freie hinausgestoßen.« Giselas Stimme versagte. Sie schien von Emotionen übermannt zu werden und kämpfte mit Tränen. Sven und Sylvia saßen ihr regungslos gegenüber und wagten in der neuerlich aufkommenden Stille kaum zu atmen.

Walter drehte sich langsam her und erklärte mit belegter Stimme: »Mein Vater hat dann versucht, solche Gerüchte gleich gar nicht aufkommen zu lassen. Denn wäre da etwas an uns allen hängen geblieben, wäre sein Lebenswerk mit einem Schlag vernichtet gewesen. Es war zu befürchten gewesen, sie würde ihm noch eine Vergewaltigung anhängen wollen.«

Sven hatte minutenlang die Lippen zusammengepresst, doch hielt es nun für geboten, in seiner kühlen, distanzierten Art nachzuhaken: »Und mit dieser Geldzuwendung, von der in diesem Schreiben die Rede ist, hat man das Gerücht aus der Welt schaffen können?«

»So ungefähr, ja«, erwiderte Gisela. »100.000 D-Mark sollten es sein. Zur damaligen Zeit ein Betrag, der heute wohl einer Million Euro gleichkäme. Und es hat auch danach ausgesehen, als wäre damit das Thema erledigt. Immerhin hat die Polizei, die den Unfall untersucht hat, kein Fremdverschulden festgestellt.«

»Dann wäre es aber doch gar nicht notwendig gewesen, so viel Geld zu bezahlen«, stellte Sven fest und hatte bewusst auf die Bezeichnung ›Schweigegeld‹ verzichtet.

»Natürlich wäre es nicht notwendig gewesen, Sven«, beeilte sich seine Mutter zu sagen und wurde von Walter unerwarteterweise unterbrochen: »Was willst du aber machen, wenn da so eine junge Hure aus Rache für die bereits ausgesprochene Kündigung dir ans Bein pinkeln will – oder dir gar eine Vergewaltigung anhängt?« Walter Temming war drauf und dran, die Beherrschung zu verlieren. »Wir hätten alles verloren. Alles. Für das, wie mein Vater reagiert hat, müssen wir ihm alle heute noch dankbar sein.«

Gisela versuchte, mäßigend auf ihn einzuwirken. »So ist es. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Walters Vater Georg dies in einer Zeit durchstehen musste, als einer seiner Söhne tödlich verunglückt ist.«

Sven ließ ein paar Sekunden verstreichen, ehe er sich ruhig an seinen Vater wandte: »Das Verhältnis zwischen dir und Siegfried war aber wohl nicht ganz ungetrübt, wenn man dem folgt, was in diesem Schreiben steht.«

»Ungetrübt«, entfuhr es Walter Temming. »Was heißt da ›nicht ganz ungetrübt‹? Junge Kerle in diesem Alter sind nicht immer einer Meinung. Okay, das ist ja kein Geheimnis, ich hab mich damals den Achtundsechzigern angeschlossen. Das waren überwiegend Linke, manchmal sogar Kommunisten, klar, das hat dem Vater nicht so gefallen. Siegfried war eher auf seiner Linie …«

Gisela ließ ihn nicht ausreden, sondern gab sich diplomatisch: »Wir alle sind alt genug, um zu wissen, dass man im jugendlichen Alter manchen Unfug macht, den man später nicht mehr tun würde. Und bei manchem, was man getan hat, ist man froh, dass man nur selbst noch daran denkt und sich schämt, während glücklicherweise kein Hahn mehr danach kräht.«

Sylvia, die bisher geschwiegen hatte, ließ diese Bemerkung kurz auf sich wirken, um dann zaghaft einzuwerfen: »Aber dennoch scheint es in diesem Fall jemanden zu geben, der es nicht vergessen hat und der sogar ziemlich viele Details kennt.«

Gisela nickte. »Ja, als ob es Siegfried persönlich wäre. Eine Botschaft aus dem Jenseits.«

»Ich bitte dich, Mama«, widersprach ihr Sven sofort. »Wir wissen, dass du dich mit so etwas beschäftigst, aber wir können davon ausgehen, dass Tote keine Briefe schreiben.«

»Das hab ich auch schon gesagt«, pflichtete ihm sein Vater bei. »Wir dürfen uns nicht mit Spukgeschichten verrückt machen lassen. Hier geht es einzig darum, einer ganz realen Person das schmutzige Handwerk zu legen. Keinem Gespenst und keinem Geist.«

Kaum hatte er es gesagt, ließ ein kräftiger Donnerschlag das Haus erbeben und jagte allen vier Personen einen gewaltigen Schrecken ein. Sven hatte sich als Erster gefangen, sprang auf und zog den geschlossenen Rollladen nach oben. Erst jetzt wurde ihnen bewusst, dass sich ein herbstliches Unwetter zusammengebraut hatte und kräftiger Regen niederprasselte. Ein aufkommender Sturm zerrte an den Rollläden und heulte schaurig in den Ritzen des alten Gebäudes. Dicke Regentropfen klatschten gegen die Scheibe, draußen war es stockfinster.

Ein Blitz zuckte drei-, viermal – und nahezu gleichzeitig erfüllte ein weiterer ohrenbetäubender Donner den Raum. »Das ist ziemlich schnell aufgezogen«, meinte Sven, während er in seinen Sessel sank. »Steht wohl direkt überm Ort.«

Die elektrisch geladene Luft schien die ohnehin angespannte Atmosphäre im Zimmer weiter anzuheizen. Walter Temming wischte sich Schweiß von der Stirn. Wieder ein Blitz, ohne Verzögerung ein neuerlicher Donnerschlag. Sven ließ sich davon nicht beirren und war um kühle Sachlichkeit bemüht. »Diese 100.000 D-Mark, die sind dann aber nicht geflossen?«, fragte er, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen.

»Nein, sind sie nicht«, antwortete seine Mutter schnell und wurde leise: »Da kam dieser schreckliche Fahrradunfall dazwischen.« Ihre Stimme wurde beinahe von dem Brausen des Sturmes übertönt, so, als würden die geballten Naturkräfte am gesamten Gebäude zerren.

Sven nahm es nur beiläufig zur Kenntnis, denn vor seinem geistigen Auge spielte sich erneut die Szene von heute Abend ab: der Radfahrer, der urplötzlich hinter der Mauer aufgetaucht war. Ein Wunder eigentlich, dass es keinen Zusammenprall gegeben hatte.

Ein neuerlicher Blitz hüllte das Wohnzimmer eine halbe Sekunde lang in grellblendendes Licht, gefolgt von einem gewaltigen Donnerknall. Gleichzeitig zuckten die Lampen des abgedimmten Kronleuchters. Walter Temming erhob sich und ging zum Fenster, um in die Nachtschwärze hinauszublicken, in der es hier, abseits des Kuchener Ortsrandes, nichts zu sehen gab. Der kleine Park, der das Haus umgab, war nicht beleuchtet – und der Bewuchs war so dicht, dass von nirgendwoher ein Licht herüberschimmern konnte. Nur wenn ein Blitz zuckte, konnte Temming den Gartenweg und die abgestorbenen Stauden erkennen. Sie standen dort, wo einst das Wasserbecken gewesen war, direkt unter dem Giebelfenster. Noch ein Blitz – und wieder ein dumpfer Schlag.

Gisela hatte ein paar Sekunden verstreichen lassen, ehe sie ein zweites Blatt Papier auf den Tisch legte. Es war der Ausdruck jener E-Mail, über die sie und Walter den ganzen Nachmittag diskutiert hatten.

»Post mortem«, las Sven, während Sylvia sich zu ihm herlehnte. »Ihr wisst bestimmt, was das heißt.«

»Natürlich wissen wir das«, wandte sich Walter Temming vom Fenster ab. »Und inzwischen weiß ich auch, dass sich der Absender eines E-Mail-Accounts bedient, der vermutlich keine Nachforschungen ermöglicht.« Er ließ sich aufgebracht in den Sessel sinken und schwieg. Giselas Versuch, etwas zu sagen, wurde von einem weiteren Blitz und dem anschließenden Donner zunichtegemacht. Sylvia unterbrach das Lesen des Textes und sah ängstlich zum Fenster. »Das hört sich gefährlich an.«

Weil niemand etwas erwiderte, widmete sie sich der ausgedruckten E-Mail, während das Heulen des Sturmes anschwoll und in ein bedrohliches Pfeifen und Brausen überging.

Ein paar Sekunden später hatte Sven den Text überflogen. »Du sollst zum Ulmer Münster kommen?«, fragte er seinen Vater ungläubig. »Gehst du hin?«

Walter Temming saß verkrampft in seinem Sessel. Er war auf diese Frage seines Sohnes vorbereitet gewesen. »Ich werde …«, doch dann blieben ihm die Worte im Halse stecken. Ein blendender Blitz, viel greller und giftiger als die bisherigen, schien sie alle zu elektrisieren. Gleichzeitig ein Donner, als stünden sie inmitten eines barbarischen Artillerieangriffs, das Haus erzitterte, dann hing schwefliger Geruch in der Luft. Das elektrische Licht erlosch.

Nach einem Sekundenbruchteil lähmenden Entsetzens sprangen alle vier Personen wie auf ein Kommando auf. Ein Weinglas kippte um und zerbrach. Im Schein der flackernden Kerze tropfte Rotwein wie Blut vom Tisch. »Einschlag«, rief Gisela hysterisch. »War das ein …« Mehr brachte sie nicht aus ihrer Kehle hervor. Denn trotz des heulenden Windes war von draußen ein klirrender Schlag zu vernehmen, als sei etwas aus großer Höhe auf den gefliesten Vorplatz vor dem Gebäude gefallen und zerbrochen.

Sven rannte zum Fenster und riss es ruckartig auf. Sogleich schlug ihm sintflutartiger Regen ins Gesicht, der Wind griff augenblicklich auf den Innenraum über; der Vorhang flatterte, die Kerze erlosch.

Es war stockfinster.

Während sich Sven aus dem Fenster beugte und gegen den Sturm ankämpfte, sorgte ein Blitz dafür, dass sich die anderen drei Personen für einen kurzen Moment orientieren und im Donnergetöse ebenfalls zum Fenster hasten konnten. Für Sven hatte der Blitz ausgereicht, die Ursache des Schlages zu sehen. Draußen auf dem Steinboden lag ein völlig zertrümmerter hölzerner Fensterflügel. Drumherum schien alles mit Scherben übersäht zu sein.

»Ein Einschlag?«, hörte er hinter sich die zitternde Stimme seiner Mutter, während Sylvia geistesgegenwärtig in ihrer Handtasche nach dem Smartphone kramte, um mit der Taschenlampenfunktion ein bisschen Licht in den Raum zu bringen.

»Keine Ahnung«, erwiderte Sven und spürte beim Schließen des Fensters den enormen Winddruck. »Der Sturm hat irgendwo oben etwas rausgerissen.«

»Oben?«, wiederholte sein Vater gereizt. »Was rausgerissen?«

»Ein Fenster – jedenfalls sieht’s so aus.«

Sylvia richtete den LED-Strahl auf die Tür. »Es riecht brenzlig«, presste sie hervor. Wieder zuckte ein Blitz. Erleichtert nahmen sie zur Kenntnis, dass der Donner jetzt mit zwei, drei Sekunden Verzögerung eintraf.

Sven eilte voraus in die Diele und zur geschwungenen Holztreppe, die in die oberen Etagen führte, wo die undurchdringliche Nachtschwärze geradezu drohend wirkte.

»Gibt es einen Feuerlöscher?«, brüllte Sven, ohne eine Antwort zu erhalten. Natürlich hatten sie einen, entsann sich Sven, aber in der Aufregung und ohne ausreichendes Licht wäre er kaum zu finden, geschweige denn herzuschleppen gewesen.

»Soll ich die Feuerwehr rufen?«, drang Gisela Temmings hysterisch gewordene Stimme durch das Heulen des Sturmes zu Sven herauf, der bereits das erste Obergeschoss erreicht hatte und erleichtert feststellte, dass es dort oben keinen Brandgeruch und nirgendwo einen lodernden Feuerschein gab.

»Keine Feuerwehr«, rief er zurück. Sylvia war ganz dicht hinter ihm, während der LED-Strahl ihrer Smartphone-Taschenlampe an den Wänden und Türen entlang tanzte. Sven kannte aus Kindheitstagen jeden Winkel und jedes Zimmer. Sein eigenes war in dieser Etage gewesen. Er wusste deshalb, wo ungefähr sich der Fensterflügel gelöst haben musste. Wenn es im ersten Obergeschoss war, dann konnte es nur im elterlichen Schlafzimmer sein. Während ein neuerlicher Blitz zuckte und der Abstand zum Donner deutlich länger wurde, wandte er sich der entsprechenden Tür zu und öffnete sie vorsichtig. Sylvia war ihm ganz nah. Der Lichtstrahl ihres Smartphones verlor sich zunächst in dem stockdunklen Zimmer, traf dann auf Betten und Kleiderschrank und schließlich auf das Fenster. Durch die zugezogenen weißen Vorhänge hindurch war der ganz nach unten gefahrene Rollladen zu sehen, an dem der Sturm kräftig rüttelte.

»Alles okay«, sagte Sven und deutete an, dass sie das Schlafzimmer nicht betreten mussten. Er schloss die Tür, während Sylvia den Lichtstrahl auf eine weiße Wand richtete, um den Treppenbereich indirekt schemenhaft zu beleuchten. Ihre Schwiegereltern waren kreidebleich zurückgeblieben.

»Und?«, fragte Walter Temming knapp. »Habt ihr was entdeckt?« Seine Stimme war so schwach geworden, dass sie im Toben des Sturmes beinahe unterging.

Sven wies mit einer Kopfbewegung zur Treppe, die ins Dachgeschoss weiterführte. »Es muss von ganz oben gekommen sein.«

»Von ganz oben«, wiederholte Walter Temming angsterfüllt und trat zur Seite, weil Sven und Sylvia an ihm vorbei zur Treppe eilten, wo ihnen mit jeder Stufe, die sie erklommen, das Unwetter bedrohlicher vorkam. Der Sturm heulte, rauschte, pfiff und dröhnte, Regen peitschte über das Dach.

»Seid bitte vorsichtig«, rief Temming die Treppe hinauf. Seine Stimme hatte einen geradezu jämmerlichen Klang angenommen.

Sven hatte es gar nicht hören können, weil er bereits den oberen Absatz erreicht hatte und ein neuerlicher Donnerschlag das alte Haus vibrieren ließ.

Walter Temming blieb in der dunklen ersten Etage zurück, während Gisela in respektablem Abstand den Jüngeren ins Dachgeschoss hinauffolgte.

Sven hatte vor dem Giebelzimmer seine energischen Schritte verlangsamt. Sylvia bemerkt es und sah ihm ins nur schemenhaft beleuchtete Gesicht. »Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte sie.

Er nickte und näherte sich der Tür, durch deren Ritzen der Wind pfiff – ein eindeutiges Zeichen dafür, dass drinnen im Raum ein Fenster offen sein musste.

Für einen kurzen Moment überlegte er, was sie erwartete. Dann aber obsiegte die Vernunft, die ihm suggerierte, dass das Fenster möglicherweise gekippt gewesen war und der orkanartige Sturm es aus der Verankerung gerissen hatte. Was auch sonst?

»Und, was ist?«, riss ihn die Stimme seines Vaters aus diesen Gedanken. Walter Temming war in der ersten Etage zurückgeblieben. Wieder zuckte ein Blitz, doch inzwischen war die Gewitterzelle weitergezogen.

Sven griff zur Klinke und schwenkte die Tür nach innen auf. Sofort peitschten ihm und Sylvia aus dem finstren Raum Regentropfen ins Gesicht. Der LED-Strahl von Sylvias Smartphone verlor sich in diesem Unwetterchaos, das über diesen Raum he­reingebrochen war. Ein weißer Vorhang flatterte quer durch den Raum – wie ein wild gewordenes Gespenst, das gewaltsam an einer Leine zerrte. Es bestand kein Zweifel mehr: Ein Teil des Fensters fehlte. Auf dem Parkettboden davor reflektierten Wasserpfützen das Licht von Sylvias Smartphone.

»Böse Bescherung«, entfuhr es Sven, während Sylvia den LED-Strahl durch das verwüstete Zimmer streifen ließ: Ein altes Bett, das an der Querwand stand, war ebenso nass wie ein eichener Schreibtisch, auf dem ihnen eine klobige Schreibmaschine ins Auge stach. Ein vergilbtes Poster an der Wand zeugte davon, dass hier schon lange niemand mehr gewohnt hatte: Es war ein großformatiges Bild der jungen miniberockten Schlagersängerin Wencke Myhre. Sven hatte es als Jugendlicher schon bewundert. Vermutlich war die Frau mal Siegfrieds Schwarm gewesen, dachte er, während ihm der Sturm unablässig Regentropfen in die Augen schoss.

»Was ist da los?«, übertönte Walters Stimme von unten nun das Unwettergetöse.

Sven wollte den Raum verlassen, doch Sylvia deutete ihm an, dass sie die Szenerie mit ihrem Smartphone dokumentieren wollte. Er hielt deshalb die Tür gegen den mächtigen Druck des orkanartigen Sturms offen, während sich seine Frau dem trockenen Vorplatz zuwandte, die Taschenlampenfunktion ihres Gerätes ausschaltete und auf dem beleuchteten Display die Foto-App aktivierte. Dann setzte sie sich wieder dem peitschenden Regensturm aus, um blindlings mehrfach in das Zimmer hineinzufotografieren. In die automatischen Blitze des Geräts mischten sich wieder einige echte, gefolgt von entferntem Donnergrollen. »Okay«, sagte sie schließlich, worauf Sven die Tür schloss.

Sylvia ließ unterdessen wieder das LED-Licht leuchten, sodass sie sahen, dass die beiden älteren Herrschaften inzwischen hochgestiegen waren.

»Verdammt noch mal, was geht hier vor?«, brüllte Walter wütend und verängstigt gleichermaßen.

»Fensterflügel aus der Verankerung gerissen«, erwiderte Sven sachlich. »Ihr habt vermutlich vergessen, es zu schließen.«

»Zu schließen?«, echote Walter verunsichert. »Das ist doch niemals stundenlang gekippt, oder? Gisela«, wandte er sich unwirsch an seine Frau, »oder hast du das heute gekippt?«

Schweigen. Noch immer heulte der Sturm, krachten Donnerschläge.

»Sind wir froh, dass es kein Einschlag war«, sagte Gisela und ging verärgert an ihrem Mann vorbei die Treppe hinab. Sven und Sylvia folgten ihr, Walter für ein paar Sekun-den im Flur vor den Zim-mern stehen blieb, dann aber wohl einsehen musste, dass er sich ohne Licht allein nicht würde orientieren können. Er entschied deshalb, ebenfalls ins Wohnzimmer zurückzukehren.

»Ist da eine Sicherung rausgeflogen?«, hörte er die Stimme seiner Frau.

»Glaube ich zwar nicht«, antwortete Sven, »es wird wohl eher ein Blitzschlag ins öffentliche Stromnetz gewesen sein. Aber ich kann ja mal nachschauen.«

Als sie unten ankamen, ließ sich Gisela mit der Smartphone-Lampe ihrer Schwiegertochter den Weg zu einem Schrank weisen, in dem Kerzen und Gasanzünder aufbewahrt wurden. Ein paar Minuten später war im Donnergrollen und Sturmgebraus das Wohnzimmer von flackernden Lichtern erhellt.

Sven war mit seiner eigenen Smartphone-Lampe zum Stromzähler in den Keller geeilt, um festzustellen, dass die Unterbrechung kein hausinternes Problem war.

Walter hatte sich in seinen Sessel gesetzt, die beiden Frauen standen am Fenster, gegen dessen Scheiben noch immer der sintflutartige Regen prasselte.

»Ist da oben alles verwüstet?«, fragte Gisela. Sylvia nickte, griff zu ihrem Smartphone, um ihr die Fotos zu zeigen. Es waren insgesamt fünf.

»Hier«, sagte Sylvia und tippte auf das erste, das sich daraufhin aufs gesamte Display vergrößerte. Ihre Schwiegermutter nahm das Gerät vorsichtig in die Hand, um das teilweise unscharfe und nur schwach ausgeleuchtete Bild genauer sehen zu können. Zwei dicke graue kreisrunde Punkte, bei denen es sich um Regentropfen zu handeln schien, deckten nahezu die Hälfte des Bildes ab. Sie waren offenbar zum Zeitpunkt der Aufnahme vom Sturm ganz dicht an das Objektiv herangetrieben und vom Blitzlicht getroffen worden.

Gisela konnte damit nichts anfangen. Sie drehte das Gerät, worauf sich auch das querformatige Bild automatisch der hochformatigen Perspektive anpasste und, deshalb am oberen und unteren Rand einen Großteil aussparte.

»Du musst es quer halten«, erklärte Sylvia und drehte das Gerät in der Hand ihrer Schwiegermutter in die richtige Position.

Gisela hob es erneut dicht vor ihr Gesicht. Es dauerte einige Sekunden, bis sie es noch näher an die dicken Brillengläser he­ran­führte. »Sag mal, siehst du das auch?«, flüsterte sie mit schwacher Stimme.

Sylvia wirkte verwirrt, und Sven, der zu ihnen herangekommen war, ebenfalls. »Was sollen wir da sehen?«, fragte er verwundert und sah auf das Display.

»Hier«, seine Mutter deutete mit zitterndem Zeigefinger auf besagte Stelle. »Ein Kopf, ein Mann.«

Sylvia nahm das Gerät an sich, um das Bild aus allernächster Nähe betrachten zu können. Sven sah ihr seitlich über die Schulter. »Ein Mann?«, wiederholte Sylvia zaghaft. Sie konzentrierte sich auf die unscharfen gräulich-weißen Schleier, aus denen einer der beiden großen Kreise bestand, die sie als Regentropfen gedeutet hatte. Und tatsächlich: Da schien sich ein Männerkopf abzuzeichnen, ein junges Gesicht.

»Das …«, Sylvia blieben die Worte in der trockenen Kehle stecken. »Das bilden wir uns ein, das …«

Sven griff nach dem Gerät. »Lass mal sehen«, sagte er, um sich selbst zu überzeugen. Nach zwei Sekunden, während denen nun auch Walter bemerkt hatte, dass etwas Ungewöhnliches geschehen war, meinte Sven: »Mit viel Fantasie könnte man es meinen.«

Seine Mutter war inzwischen kreidebleich geworden, was trotz des fahlen Kerzenlichts nicht zu übersehen war.

»Ist dir nicht gut?«, fragte Sven besorgt, nachdem er die Veränderung bei seiner Mutter bemerkt hatte.

Auch Walter hatte sich aus seinem Sessel erhoben und war zum Fenster gekommen. »Darf ich erfahren, was passiert ist?«

Sven hielt das Smartphone mit dem Foto in der Hand. »Mutter glaubt, hier einen Mann gesehen zu haben.« Er hielt seinem Vater das Display entgegen, während seiner Mutter eine Träne über die Wange rollte.

Sylvia schwieg verlegen und wartete auf eine Reaktion ihres Schwiegervaters, der die Brille abnahm, um auf kurze Distanz scharf sehen zu können. Ein paar Sekunden des Schweigens später gab er sich fassungslos: »Das ist ja«, er unterdrückte die restlichen Worte und konnte den Blick nicht von dem blassgrauen Punkt auf dem Foto wenden.

»Was geht hier vor?«, fragte Sven dazwischen und sah in das blass gewordene Gesicht seiner Mutter.

Sylvia legte einen Arm um sie. »Was ist so schlimm an diesem Bild?«

Noch immer hingen Walter Temmings Augen an dem Foto. »Das ist reine Fantasie«, murmelte er. »Reine Fantasie.«

Sven verlangte Klarheit: »Was ist so schimm an diesem Foto?«, wiederholte er und sah seine Mutter eindringlich an.

»Das Gesicht«, antwortete sie schwer atmend und mit tränenerstickter Stimme. »Das Gesicht … es ist …« – wieder ein schweres Durchatmen – »es ist Siegfried.«

Sven nahm das Smartphone an sich und warf einen kritischen Blick auf das Bild. »Das …« – er zögerte einen Moment – »das kann alles Mögliche sein.« Er schob das Gerät zurück und ergänzte kühl: »Ich kenn Siegfried nur von Fotos. Aber er ist seit 49 Jahren tot und als solcher nicht mehr hier.«

Nebelbrücke

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