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Eigentlich kam ihr der Besuch ziemlich ungelegen. Aber nachdem sie dieser junge Schnösel, wie sie den Chef der Firma Temming insgeheim bezeichnete, vorgestern so brüsk abserviert hatte, war sie gegenüber dem Ansinnen des Mannes, der unbedingt mit ihr reden wollte, nicht mehr ganz so abgetan. Ein Schriftsteller hatte sich vorgestern bei ihr gemeldet und erklärt, er sei mit einer Dokumentation über die Industrialisierung im Filstal beauftragt worden – also für die Gegend zwischen Geislingen an der Steige und Plochingen, wo die Fils in den Neckar mündete. Er wolle nicht nur über das bekannteste Unternehmen in diesem Landstrich, nämlich die WMF, berichten, sondern natürlich auch über Temmings Chemieimperium, das seine familiären Wurzeln hier hatte. Und weil eine solche Dokumentation keinesfalls nur die Sicht des Betriebes widerspiegeln solle, sondern auch einer sozialen Komponente bedürfe, seien die Meinungen ehemaliger Betriebsräte oder noch besser von Betriebsratsvorsitzenden gefragt. Im Rahmen seiner aufwendigen Recherche sei auch ihr Name gefallen, zumal sie schon mit knapp über 20 dieses Amt bei Temming innegehabt habe.

Ursula Fuchs hatte sich am Telefon zunächst geschmeichelt gefühlt, war dann aber zurückhaltend gewesen, zumal sich der Betrieb doch in Ulm befinde. Erst nach mehreren kritischen Rückfragen und dem überzeugenden Hinweis des Anrufers namens Ulrich Stanek, sie dürfe sich gerne bei einem bestimmten Verlag erkundigen, dass er tatsächlich an historischen Veröffentlichungen arbeite, hatte sie sich umstimmen lassen. Sie verzichtete sogar darauf, solche Erkundigungen einzuziehen, zumal sie davon ausging, dass ihr der Mann für seine Referenzen keine falsche Adresse genannt hätte, weil ansonsten der Schwindel noch lange vor dem auf heute ausgemachten Termin aufgeflogen wäre.

Jetzt saß er vor ihr in ihrem Wohnzimmer: braun gebranntes Gesicht, Schnauzbart, schlecht rasiert, ungepflegtes schwarzes Haar, rahmenlose Brille, groß und sehr schlank, fahrige Bewegungen. Als sie ihm ein Glas Wasser anbot, überlegte sie, ob dieser Mann ihren Vorstellungen von einem seriösen, fundiert recherchierenden Schriftsteller entsprach. Immerhin hatte er sich beim Betreten des Hauses artig für ihre Bereitschaft bedankt, ihm ein paar Fragen zu beantworten. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen allzu viel berichten kann«, hatte sie erwidert.

Jetzt zückte er einen zerknitterten Notizblock und erklärte, dass es ihm insbesondere um den alten Georg, also den Gründer des Unternehmens, gehe – aber auch um dessen beiden Söhne Walter und Siegfried.

Ursula Fuchs, die sich für den Besuch besonders fein gemacht hatte, um die 76 Jahre, die sie zählte, so gut es ging zu kaschieren, wurde hellhörig. Man hatte dem Schriftsteller also offenbar geflüstert, dass sie als couragierte Frau mit der Nachfolgeregelung im Betrieb nicht einverstanden gewesen war. Und was wusste er sonst noch? »Ich geh mal davon aus, dass Sie wissen, dass der Übergang von Vater auf Sohn nicht ganz unumstritten war«, begann sie vorsichtig und wartete auf eine Reaktion ihres Gegenübers. Doch der Autor nickte nur stumm.

»Ich weiß nicht, ob Sie das interessiert«, blieb Ursula Fuchs distanziert.

»In der Tat ist es diese Zeit, die mich interessiert. Es war ja ein Generationenwechsel – sozusagen vom Firmengründer auf die nächste Generation. Immer ein schwieriges Kapitel, wie man weiß.« Er runzelte die braun gebrannte Stirn und rückte die Brille zurecht.

»Der ›alte Georg‹ – man hat auf schwäbisch immer nur Schorsch gesagt –, der war halt einer der alten Sorte«, lächelte sie und nahm einen Schluck Wasser. »Ein jähzorniger Bruddler, wie sie damals alle waren. Gepoltert hat er und ständig in der Angst gelebt, man nehme ihm sein Geld weg. Ich kann mich gut entsinnen, wie er einmal durchs Büro gebrüllt hat: ›Ihr nehmt mir nur mein Geld weg.‹ Das sollte wohl heißen, dass die Büroangestellten in seinen Augen völlig überflüssig und nur unproduktiv waren.«

»Aber trotzdem musste er schließlich das Zepter aus der Hand geben – wie man so schön sagt«, resümierte Stanek.

»Na ja, er war 65 – im Jahre 1987. Zeit war’s, auch wenn die kantigen Seniorchefs damals allgemein nur ungern von Bord gegangen sind. Heute ist das anders. Da wird das Familienerbe in vielen Betrieben schnell mal versilbert – nach China verscherbelt oder sonstwohin –, um sich ein Leben in Reichtum und Luxus zu gönnen. Glauben Sie mir, mancher Unternehmer, der sich nach dem Krieg abgerackert hat, würde sich im Grabe rumdrehen, wüsste er, was die heutige Generation mit all dem Erbe macht.«

»Sie haben dem Sohn Walter nicht viel zugetraut?«, hakte Stanek unerwartet schnell nach.

»Sie haben sich informiert«, grinste sie. »Wenn Sie mich nirgendwo zitieren, verrat’ ich Ihnen ein paar Dinge, die aber keinesfalls ein Geheimnis sind. Oder sagen wir mal: die ein offenes Geheimnis sind.«

Der Schriftsteller legte demonstrativ seinen Block auf den Tisch, um damit zu signalisieren, dass er das Vertrauliche nicht notieren wolle.

»Walter hatte von der Materie keine Ahnung«, entschied sich Ursula Fuchs zu einer klaren Aussage. »Er hat, wie man das leider oftmals erlebt, fehlende Kompetenz durch Arroganz ersetzt.« Sie zögerte. »Und wie man so hört, hat sich diese Eigenschaft auf seinen Sohn Sven vererbt, der jetzt am Ruder sitzt. Wie sagt man so schön? Sie sind alle von Beruf Sohn.«

Über Staneks ernstes Gesicht huschte ein Lächeln. »Das heißt, die Belegschaft war nie davon angetan, dass Walter Chef wird?«

»So kann man das sagen, ja. Ich hab das ja mitgekriegt, damals Anfang 1969, als Schorsch den Walter – damals glaub ich gerade mal 22 Jahre alt – als seinen künftigen Nachfolger ins Geschäft geholt hat. Vom ersten Tag an hat der Lausbub dem Alten nachgeeifert – in allen negativen Eigenschaften. Auch was Frauen anbelangt.«

Stanek nahm’s zur Kenntnis, ohne darauf einzugehen. »Was hat der denn gelernt?«

»Nichts wirklich Gescheites«, kam es prompt von Frau Fuchs zurück. »Philosophie hat er studieren wollen – oder es angefangen. Genau weiß ich es nicht. Er ist damals der 68er-Bewegung nachgehangen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ho-Chi-Minh-Rufe und kommunistische Parolen. Kapitalisten waren die Erzfeinde. Rumlungern in Kommunen war angesagt.«

Stanek wollte auch dies nicht kommentieren. »Das hat dem Alten aber gar nicht gefallen, nehm’ ich an.«

»Natürlich nicht. Da war der andere Sohn, der ein Jahr ältere Siegfried, ein ganz anderer Kerl. Ehrgeizig, hat Naturwissenschaften studiert und war fachlich in vielem besser drauf als der Schorsch, sein Vater.«

»Aber dann gab es wohl diesen Unfall«, lenkte Stanek das Gespräch auf jenes Thema, das ihn am meisten interessierte.

»Unfall, ja«, echote die Frau. »Ich will dazu eigentlich gar nichts sagen.«

»Eigentlich?«

Ursula Fuchs trank einen Schluck Wasser, als wolle sie Zeit zum Nachdenken finden. Ihre Augen funkelten, als sie sagte: »Wenn Sie recherchiert haben, wird man Ihnen gesagt haben, dass es damals viele Gerüchte gab.«

Stanek legte wieder die Stirn in Falten. »Gerüchte gibt es überall – und bei jedem.« Er entschied, sich unwissend zu geben.

»Es war ein Unfall, ja«, machte sie weiter. »Siegfried hat an diesem alten Haus irgendetwas am Rollladen repariert. Dass er es war, der auf die Leiter gestiegen ist und nicht sein Bruder Walter, zeigt ja schon, dass der Siegfried viel praktischer veranlagt war.«

»Und dabei kam es zu dem Unfall?«

»Ja, so heißt es. Siegfried hat am offenen Fenster auf der Leiter gestanden, hat das Übergewicht gekriegt und ist rausgefallen.«

Stanek schob erneut seine Brille zurecht. »Zeugen dazu gibt es keine?«

»Seinen Bruder, natürlich. Und dessen damalige Verlobte – und jetzige Frau. Und …« Sie stockte und zuckte mit den Schultern.

»Und – was?«, hakte Stanek nach.

»Na ja, es gab damals das Gerücht, die Haushälterin sei zufällig ins Zimmer gekommen.«

»Gerücht oder Wahrheit?«

»Keine Ahnung. Angeblich hatte das Mädel an dem Tag frei und hätte gar nicht da sein können.«

»Das Gerücht besagt dazu was?« Stanek verbarg sein gesteigertes Interesse.

»Wie das bei Gerüchten so ist«, wich die Frau aus und hob eine Augenbraue. »Die Polizei hat das Ganze als Unfall betrachtet.«

»Aber die Haushälterin? Wenn sie denn da war, hätte doch etwas zur Aufklärung beitragen können«, wandte der Autor ein.

»Hätte, ja. Aber ein, zwei Wochen später ist sie bei einem Unfall ums Leben gekommen. Hochschwanger übrigens. Glücklicherweise hat man in der Klinik das ungeborene Kind retten können.«

»Ach«, staunte Stanek. »Was war das für ein Unfall?«

»Mit dem Fahrrad. Ein Auto hat sie erfasst – und der Fahrer ist geflüchtet.«

»Wie? Unfallflucht?«

»Ja, bis heute – soweit ich das wenigstens weiß – hat man den Fahrer nicht ermitteln können.«

»Na ja, das ist jetzt 49 Jahre her.«

»Eben. Deshalb ist es müßig, in alten Geschichten zu kramen«, wiegelte Frau Fuchs ab.

»Aber danach hat der Firmenchef seinen Sohn Walter ins Unternehmen geholt«, fasste Stanek zusammen.

»Ja, gleich zu Beginn des folgenden Jahres, 1969.«

»Aber wenn ich mich in der Firmengeschichte richtig auskenne, stand er dabei lange im Schatten des Alten?«

»Ja, wie gesagt, bis 1987. Da war Schorsch 65 und sein Sohn Walter 40.« Sie lehnte sich in den abgegriffenen Polstersessel zurück. »Eine Fehlentscheidung, wenn Sie mich fragen. Aber damit hatte Walter sein Ziel erreicht, das er bereits im jugendlichen Alter angestrebt hat, als er noch im Schatten von Siegfried stand.«

Stanek glaubte zwischen den Zeilen etwas zu hören, das ihn hellhörig machte. »Sie mögen nicht so recht an einen Unfall glauben?«

Ursula Fuchs holte tief Luft, überlegte kurz und seufzte: »Was ich glaube oder nicht, das spielt keine Rolle mehr, Herr Stanek. Beschränken Sie sich besser auf die Firmenhistorie und lassen Sie das, was einmal war. Oder nicht war.« Sie sah ihn eindringlich an: »Erwähnen Sie dann aber bitte auch, unter welch widrigen Umständen die Belegschaft gearbeitet hat – in dieser Zeit, in der sich keine Behörde ernsthaft darum gekümmert hat, wie viel Schadstoffe das Personal einatmen musste. Ich könnte Ihnen einige schlimme Krankheitsfälle aufzählen, die noch Jahre danach aufgetreten sind.«

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