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Es waren tatsächlich alles Kirchen, Kathedralen, Dome und Münster. Walter Temmings Augen wanderten schnell über die gerahmten Bilder, die über den beidseits angebrachten langen Holzbänken hingen. Unter einem davon saß dieser Mann, der wie aus dem Nirgendwo plötzlich aufgetaucht zu sein schien. Temming stand wie angewurzelt und musterte ihn. Mittleres Alter, Dreitagebart, kantiges Gesicht, fülliges Haar, lockig, hellblond. Temming versuchte, sich dies alles einzuprägen, während sie sich anstarrten. Der Fremde verzog sein Gesicht zu einem Lächeln, Temming erwiderte es nicht. Er war unschlüssig, blieb stehen wie ein schüchterner Schuljunge. Doch allein der Gedanke daran, im entscheidenden Moment Schwäche zu zeigen, spornte ihn dazu an, energisch vorzugehen. Er vergewisserte sich, dass sich zu diesem Zeitpunkt niemand in dem Raum aufhielt, und schritt auf den Fremden zu. »Das Münster von Bern?«, fragte er mit gedämpfter Stimme, um gleichzeitig die Bildunterschrift über dem Kopf des Mannes zu lesen.

»Münster von Bern«, erwiderte der Angesprochene, als sei dies eine Losung, und erhob sich. Seine Augen verrieten Unsicherheit, seine Gesten wirkten einstudiert. Er deutete mit dem Daumen nach hinten auf das Bild: »Sie sind richtig, wenn Sie der Herr Temming sind. Walter Temming.«

Die beiden Männer sahen sich fest in die Augen, während gerade ein junges Paar mit einem Kind hereinkam.

»Und?«, zischte Temming leise. »Ich glaube, Sie sind mir eine Antwort schuldig.«

»Das glaube ich nicht. Eher umgekehrt dürfte es sein«, kam es unerwartet streng zurück. Das Paar mit dem Kind hatte schnell die Gucklöcher entdeckt und begann, sich intensiv mit den Glocken und deren Namen zu beschäftigen.

»Was soll das Theater mit den anonymen Schreiben?«, herrschte ihn Temming an und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, den Raum zu verlassen, um das Gespräch im Freien fortzusetzen, wo sie sich in eine der vielen Nischen verdrücken konnten.

Der Fremde folgte ihm und erwiderte: »Theater nennen Sie das? Ich dachte, Ihnen wäre daran gelegen, die Angelegenheit ein für allemal zu klären.«

»Angelegenheit?«, drehte sich Temming beim Hinausgehen in die kühle Höhenluft um. »Sie unterliegen doch hoffentlich nicht dem Irrtum, dass ich glaube, Sie seien Siegfried«, riskierte er einen Frontalangriff. Sie wichen einigen japanischen Touristen aus und blieben abseits anderer Turmbesucher in einer Ecke stehen, von der aus der Blick übers Kirchenschiff und den beiden kleineren Türmen hinweg zur Donau ging.

»Jetzt hören Sie mal gut zu«, fauchte der Fremde gefährlich leise. »Sie werden keine Ruhe kriegen, solange Siegfried Sie nicht findet. Und Sie wissen genau, was ich meine.«

»Was wollen Sie von mir?« Temmings Stimme zitterte. Er hatte Mühe, sich nicht einschüchtern zu lassen.

»Das werden Sie früh genug erfahren«, bläffte der Mann. »Früh genug. Wenn Siegfried es will.«

»Reden Sie doch keinen Unfug«, unterbrach ihn Temming. »Siegfried ist tot. Tot seit 49 Jahren. Das wissen Sie sehr wohl. Und es grenzt an Totenschändung, wenn Sie mit solchen Geschichten daherkommen.«

»Tot?«, kam es spöttisch zurück. »Tot ist man erst wirklich, wenn man vergessen ist. Und manche Tote hängen so an ihrem Leben, dass sie im Gedächtnis der anderen tatsächlich noch leben.«

Temming musste diese Worte zuerst verdauen, weshalb sein Gegenüber fortfuhr.

»Hier«, er zog ein Kuvert aus der Tasche seiner Freizeitjacke, »das soll ich Ihnen von Siegfried übergeben. Er will Sie sehen und mit Ihnen über den 5. Oktober 1968 reden.«

»Er will was?« Walter Temming griff mit zitternder Hand nach dem Kuvert und sah in das finstre Gesicht des Mannes.

»Er will Sie sehen. Sie, seinen Bruder.«

In diesem Moment wurden sie von einer jungen Frau beäugt, die an der äußeren Balustrade an ihnen vorbeiging und ihnen einen verstohlenen Blick zuwarf.

»Sind Sie sich bewusst, was Sie da sagen?«, flüsterte Temming nun sichtlich geschockt.

»Ich mache keine Späße«, erwiderte der Mann. »Hier steht alles drin. Treffpunkt Friedhof Geislingen. Morgen Abend, 23 Uhr. Genaue Ortsangabe entnehmen Sie dem Schreiben. Ich hoffe, Sie haben mich verstanden.« Er wandte sich ab und verschwand um die nächste Ecke.

Temming hielt wie erstarrt das Kuvert in der Hand, sekundenlang nicht in der Lage, etwas zu unternehmen. Als er wieder zu sich fand und dem Fremden hinterhereilte, war dieser längst verschwunden. Entweder weiter auf den Turm raufgestiegen oder über die abwärtsführende Wendeltreppe. Oder er hatte irgendein Versteck gefunden.

Temming sah sich um, ließ mehrere Touristen an sich vorbeigehen und entschied, in den Raum zurückzugehen und sich auf die Bank zu setzen. Unter ihm dröhnte der Viertelstundenschlag, den er erst nach einigen Sekunden wahrzunehmen glaubte. Hatte es nun doch geschlagen? In eine der Ecken gekauert, riss er das Kuvert auf, dessen zusammengefaltetes Schreiben aus wenigen gedruckten Sätzen bestand:

»Mein lieber Bruder Walter, der Überbringer dieser Nachricht wird Dir gesagt haben, dass ich Dich sehen will, um all unsere Probleme ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Wo könnten wir uns besser treffen als an meinem Grab? Ich erwarte Dich morgen um 23 Uhr. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde Dich nur um Reue und Sühne bitten. Aber komm allein, denn es ist mir nur möglich, mich Dir allein zu zeigen.«

Temmings Herz pochte bis zum Hals. Er las den Text ein zweites Mal, ohne zu bemerken, dass sich der Raum inzwischen mit einer mehrköpfigen Reisegruppe gefüllt hatte. Darüber erschrocken, faltete er das Papier zusammen und steckte es zitternd in das Kuvert zurück. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißtropfen gebildet.

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