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Walter Temming hatte sich fest vorgenommen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Es war schließlich helllichter Tag und auch jetzt, an so einem Herbsttag wie heute, war der Turm des Ulmer Münsters ein beliebtes Touristenziel. Da war nichts zu befürchten, denn so dreist konnte niemand sein und ihn dort oben bedrohen.

Er parkte seinen BMW in der Rathaustiefgarage, von wo aus er entschiedenen Schrittes durch den üblichen Passantenstrom in der sogenannten Neuen Mitte, in der Schlucht moderner Hochhäuser, zum Münsterplatz hinüberging. Er wollte, wie von dem anonymen Schreiber gefordert, zuerst in das Kirchenschiff gehen. Es schadete ja nichts, sich mental auf eine irgendwie geartete Begegnung vorzubereiten. Er war zwar kein überaus christlicher Mensch, aber dass es irgendeine Kraft und Macht gab, die hinter allem steckte, hinter jedem Tier, hinter jeder Pflanze und hinter jedem Menschen, das stand für ihn außer Frage. Nur die Zeremonien, die die Religionsgemeinschaften daraus gemacht hatten, um ihre Schäfchen an sich zu binden, vermochte er nicht nachzuvollziehen. Alles war schließlich von Menschen gemacht – von Menschen, die zwar an etwas Göttliches glaubten, die aber aus ihrer eigenen Vorstellungswelt heraus Bilder und Geschehnisse geformt und gedeutet hatten, die zu ihrer jeweiligen Einstellung passten. Natürlich hatte Gisela recht, wenn sie sich trotz der harten Geschäftswelt, in die sie beide ein Leben lang eingebunden waren, mit Dingen befasste, die möglicherweise viel wichtiger waren als Luxus, Wohlstand und Einfluss. Vielleicht war es sogar das bisherige Leben in relativem Luxus, das sie dazu bewogen hatte, sich nun anderen Themen zuzuwenden. Seine kritische Haltung dazu war nur darauf zurückzuführen, dass sie auch in der Öffentlichkeit zu ihrem neuen Interessengebiet stand. Er hingegen wollte unbedingt vermeiden, dass die Familie ins Gerede kam, sich womöglich mit Spuk und bösen Geistern auseinanderzusetzen. Wenn so etwas in gewissen Kreisen bekannt wurde, bestand schnell die Gefahr, nicht mehr ernst genommen und ausgegrenzt zu werden. Auch wenn Gisela glaubhaft versicherte, ihr Gesprächskreis werde immerhin von einer Sozialpädagogin geführt und einige der Damen gehörten der gehobenen Gesellschaftsschicht an. Temming entsann sich, dass sie erst kürzlich voller Stolz berichtet hatte, dass sogar ein Journalist aufgekreuzt sei, der sich im Ruhestand nun dieser Themen annehme.

Als die Kirchentür, die von einem Vorraum ins Innere führte, hinter ihm sanft zufiel, drang von weit oben, vom mächtigen Turm, dumpf und ein bisschen dröhnend der Viertelstundenschlag herab. Dann war Temming von der Stille und dem gedämpften Licht des riesigen Kirchenschiffs umgeben. Es war ihm, als sei er in eine andere Welt eingetaucht, draußen das grau-triste Licht eines Herbsttages, die Hektik auf dem Münsterplatz, der Verkehr auf den nahen Straßen – hier drinnen andächtige Stille, die hoch aufragende Gotik, kunstvoll gestaltete bunte Fenster, ganz weit oben eine Reihe klarer Fenster, durch die das Tageslicht hereinfallen konnte, das heute von starken elektrischen Strahlern verstärkt wurde. In den Bänken verloren sich zwei Dutzend Menschen, überwiegend Touristen, was man an ihren Rucksäcken und dem unablässigen Bedürfnis, nach allen Richtungen ihre Fotohandys auszurichten, unschwer erkennen konnte. Hallende Schritte. Husten, das sich in der akustischen Weite verlor.

Temming ging auf dem Mittelgang ein paar Schritte nach vorne und setzte sich links in eine Bank. Er sah verstohlen auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor halb zehn, wie von dem Briefeschreiber vorgegeben.

Temming lehnte sich zurück und ließ diese sakrale Atmosphäre des Friedens und der Ruhe auf sich wirken. Sein Blick klammerte sich an das große Kruzifix, das vor dem Altarraum von der Decke hing und einen leidenden Jesus auf die Menschen blicken ließ.

Von den Tausend Gedanken, die durch Temmings Kopf schossen, empfand er einen als geradezu absurd und völlig unangemessen. Wieso nur hatte ihn dieses Kreuz an die horrende Summe Kirchensteuer erinnert, die er während seines bisherigen Lebens bezahlt hatte? Nicht aus Überzeugung, sondern weil er es einfach nicht übers Herz gebracht hatte, hochoffiziell seine Mitgliedschaft zu kündigen. Auch wenn er nur schweren Herzens die Steuer bezahlte, so war es doch das schlechte Gewissen, das ihn bei einem Kirchenaustritt geplagt hätte. Dabei war diese Steuer nicht gott-, sondern menschengemacht. Andererseits, so argumentierte er in sich hinein, standen die Kirchen auch für Soziales, für Trost und Zuversicht. Allerdings hätte er sich gewünscht, dass sie sich noch mehr in das gesellschaftliche Leben einmischen würden.

Von innerer Unruhe getrieben, brach er nach 15 Minuten auf, um die Kirche zu verlassen und draußen im Vorplatz an einem der beiden Automaten eine Eintrittskarte für die Turmbesteigung zu lösen. Er entschied sich für das linke Gerät, warf nacheinander zwei Zwei-Euro- und eine Ein-Euro-Münze ein, ohne dass sich etwas tat. Er drückte noch einmal die Taste für die Einzelkarte, überflog die Hinweise – und sah sich hektisch um, doch da war niemand, der ihn hätte drängen, beobachten oder vielleicht ihm helfen können. Er drückte die Taste, mit der der Vorgang abgebrochen werden konnte. Wieder nichts. Noch einmal ein kräftiger Druck auf ›Abbruch‹ – dann endlich schepperten Münzen in den Ausgabeschacht. Er griff danach, aber es waren nur die beiden Zwei-Euro-Münzen. Während er vergeblich den ganzen Ausgabeschacht noch einmal mit den Fingern absuchte, verfluchte er insgeheim die Automatenwelt, die alles kompliziert gemacht hatte und die die meiste Zeit ohnehin nicht funktionierte. Er verdammte die Schwachköpfe, die die Welt automatisiert hatten. Unbändiger Zorn stieg in ihm auf, während er durch wütendes Drücken der Abbruchtaste die fehlende Ein-Euro-Münze herauszubekommen hoffte. Vergeblich. Am liebsten hätte er mit dem Fuß dagegengetreten, doch dann besann er sich des sakralen Orts und bemerkte, dass ihn andere Besucher durch eine Glasscheibe beobachten konnten. Er wandte sich deshalb dem rechten Automaten zu, ließ dort die zwei Zwei-Euro-Münzen und eine neue Ein-Euro-Münze im Eingabeschlitz verschwinden – und erhielt endlich die gewünschte Zutrittskarte, mit der er das Drehkreuz zur Turmbesteigung öffnen konnte, während sich hinter ihm zwei Männer am defekten Automaten zu schaffen machten. »Ist kaputt«, rief er ihnen über die Schulter hinweg zu. »Nehmen Sie den anderen.« Kaum hatte er es gesagt, drehte er sich ganz zu ihnen um. Waren sie es, die ihn dort oben treffen wollten? Es handelte sich augenscheinlich um Touristen. Beide waren mittleren Alters und trugen kleine Rucksäcke. Sie lächelten ihm zu, worauf er in Richtung Turmaufgang verschwand.

Die Steinstufen führten in engen Windungen empor. Für einen Moment überlegte Temming, wie es sein würde, falls jemand ihm entgegenkäme. Doch dann entsann er sich, dass es bis zur Ebene vor dem Turmhelm getrennte Auf- und Abstiege gab. Den obersten Bereich, der erst 1890 exakt 513 Jahre nach der Grundsteinlegung fertiggestellt worden war, konnte er sich glücklicherweise ersparen. Treffpunkt war schließlich der Raum vor dem Büro des Turmwarts. Was es jedoch mit dem ›Münster von Bern‹ auf sich hatte, vermochte er immer noch nicht nachzuvollziehen. Er war etwa 50 Stufen hochgestiegen, als er zum ersten Mal verweilte, um durchzuatmen. Aus einer mit Drahtgitter gesicherten Maueröffnung sah er auf den Münsterplatz hinunter. Gerade erst hatte er maximal die Höhe des benachbarten Stadthauses erreicht, jenes schneeweißen Kolosses, den nicht nur er, sondern viele Ulmer einst bei der Planung als völlig unpassend angesehen hatten.

Jetzt aber drehten sich seine Gedanken um das, was auf ihn zukommen würde. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm, dass er viel zu früh war. Zehn Uhr war angegeben gewesen. Jetzt war es erst 9.44 Uhr. Er hatte wohl den Halbstundenschlag überhört, stellte er fest. Dabei müsste er doch der Glockenstube schon ziemlich nahe sein. Jeden Moment müsste es dreimal schlagen.

Die Wendeltreppe ging in einen schmalen finstren Gang über, an dessen Wänden Schmierfinken irgendetwas hingeschrieben hatten. Mit wenigen Schritten erreichte Temming die weiterführende Wendeltreppe und blieb nach einigen Umdrehungen in dieser steinernen Spirale erneut an einer Maueröffnung stehen. Schwer atmend und trotz der kühlen Temperaturen schwitzend, ging sein Blick über die Dächer der umliegenden Geschäftshäuser hinweg. Von Sekunde zu Sekunde stieg seine Nervosität und Anspannung. Schritte, die aus der Tiefe der Wendeltreppe am kahlen Mauerwerk zu ihm heraufhallten, rissen ihn aus den Gedanken, die ihm einen bitteren Mix aus Angst, Zorn und Verunsicherung bescherten.

Wurde er verfolgt?, jagte ihm ein neuerlicher Adrenalinstoß durch den Körper.

Die Schritte kamen näher.

Er wischte sich mit dem Handrücken Schweiß von der Stirn und zwang seine müden Beine weiterzugehen. Gleichzeitig mied er es, durch die Mauerluken zu schauen, die sich mit jeder Umdrehung in der engen und steilen Wendeltreppe wiederholten und einen Blick über den belebten Münsterplatz hinweg ermöglicht hätten.

Wo waren eigentlich die Glocken?, durchzuckte es ihn. Konnte man sie nicht sehen? Oder gar hören? Hatte er auch die drei Schläge des dritten Viertels überhört? War er so tief in Gedanken und Ängsten versunken, dass er die Glockenschläge nicht registrierte?

Noch während er darüber nachdachte, ging die steile Treppendrehung vor ihm in helleres Licht über. Er hatte jene Ebene erreicht, auf der sich die Turmstube befand. Sein Ziel.

Kaum hatte er die Wendeltreppe verlassen, begegnete er einigen anderen Besuchern, die ihn aber gar nicht zur Kenntnis nahmen. Es schienen Chinesen oder Japaner zu sein, die es ziemlich eilig hatten, den weiteren Aufstieg zu suchen.

Temming fand sich schnell zurecht und entdeckte zwischen den mächtigen, reichlich verzierten Sandsteinpfeilern den Eingang zu einer Art Aufenthaltsraum, der mit seiner dunklen Holzvertäfelung eine bedrückende Atmosphäre verbreitete. Temmings Augen waren noch von der Helligkeit geblendet, sodass er beim Betreten des Raumes zunächst nur die Silhouetten einiger Personen erkannte und feststellte, dass es gegenüber ebenfalls einen Zu- oder Ausgang gab. Entlang der beiden Seitenwände war eine durchgehende Holzbank angebracht, die Mitte des länglichen Raumes wurde von einem klobigen Holzkasten dominiert, der wie eine überdimensionale Truhe wirkte, deren Sinn Temming nicht auf Anhieb feststellen konnte. Zwei Männer bückten sich darüber und schauten konzentriert durch schmale rechteckige Schlitze auf etwas hinab.

Temming stand regungslos in dem diffus beleuchteten Raum, in dem seine Augen endlich Details erkannten: die Tür mit der Aufschrift ›Turmwart‹ – und über den Holzbänken akkurat aufgehängte Bilder und Fotos. Prüfend ließ er seinen unsteten Blick von einer zur anderen Person wandern. Ein knappes Dutzend waren’s nur, stellte er fest. Darunter eine junge Mutter mit einem quengelnden Buben, ein Stück weiter vermutlich ein Rentnerehepaar und inzwischen die beiden Rucksack tragenden Männer, denen er am Eingang den richtigen Ticketautomaten gezeigt hatte.

Temming sah auf die Uhr. 9.58 Uhr. Er entschied, sich unter die Touristen zu mischen. Hier oben konnte ihm garantiert nichts passieren. Und doch musste etwas geschehen – etwas, das in irgendeiner Weise mit dem ›Münster von Bern‹ zu tun hatte. Wo­rauf musste er achten? Er trat an den klobigen Holzkasten heran, um sich über eines der freien Gucklöcher zu bücken. Zuvor entdeckte er jedoch eine ziemlich kontrastarme Skizze, die auf der hölzernen Vorrichtung angebracht war. Es handelte sich eindeutig um die Anordnung und Bezeichnung der Glocken. Temming überflog deren Namen: Kreuzglocke, Taufglocke, kleine Betglocke, Schiedglocke, Landfeuerglocke, Schwörglocke, Leichenglocke, große Betglocke, Dominica und Gloriosa.

Er bückte sich nach vorne, um mit den Augen ganz dicht an das Guckloch heranzukommen. Tatsächlich war von hier aus der gesamte Glockenstuhl zu überblicken. Temming schielte auf seine Armbanduhr. Sie ging ganz genau – und stand jetzt auf zehn Uhr. Gleich würde sich da unten etwas bewegen. Ein Drahtseil oder eine andere Vorrichtung, die ein großes Spektakel auslösen würde. Viermal die volle Stunde, zehnmal die Anzahl der Stunden. Temming starrte wie gebannt hinab, neben ihm offenbar ebenso neugierig einer der Rucksackträger.

Temming hörte Stimmen um sich herum, das quengelnde Kind, zwei Frauen, die sich unterhielten, und eine Männerstimme, die auf Sächsisch leicht verärgert brummte: »Eigentlich müsste das Ding doch schon geschlagen hab’n.«

Temming schielte wieder auf seine Armbanduhr: 10.02 Uhr.

Sein Puls beschleunigte sich. Was war da geschehen? Er sah auf und drehte seinen Kopf vorsichtig nach allen Seiten. Nur noch drei Personen im Raum. Die beiden Rucksackträger und ein neu hinzugekommener Mann mit auffallend hellen Haaren, der sich ans Ende einer der beiden langen Holzbänke gesetzt hatte. Direkt unter einem dieser Bilder, die Temming erst jetzt zu interessieren begannen.

Er erhob sich aus der leicht gebückten Haltung, sah zu dem Mann hinüber, der etwa vier Meter von ihm entfernt saß. Gleichzeitig ließ Temming seinen Blick über die Bilder streifen, die er bislang nicht wirklich zur Kenntnis genommen hatte. Doch jetzt fühlte er sich wie elektrisiert: Das waren alles Darstellungen von anderen Kirchenbauten. Und plötzlich durchzuckte es ihn: Das Münster von Bern? Das war ganz sicher auch irgendwo abgebildet. Womöglich auf dem Bild da drüben, unter dem dieser Mann saß?

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