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Sven Temming, der aus der Firma herbeigeeilt war und Anzug und Krawatte trug, hatte mit einer Schaufel die tote Katze beseitigt und sie hinter einer Hecke im Garten hastig begraben. Wahrscheinlich war sie vergangene Nacht vor dem Haus überfahren worden, dachte er, obwohl er in der Nachbarschaft nie zuvor ein solches Tier beobachtet hatte. Für einen kurzen Moment zögerte er beim Zurückgehen ins Haus, als er im Blumenbeet vor der Terrasse einen Fußabdruck zu sehen glaubte. Er zeichnete sich im humusartigen Erdreich ab, das seine Frau erst vor einigen Tagen dort frisch hergerichtet hatte. Aber vermutlich war sie dabei selbst hineingetreten. Oder doch nicht? Er wollte gerade weitergehen, da fiel ihm etwas auf, das ihm normalerweise egal gewesen wäre, doch an einem Tag wie heute, an dem alles von Bedeutung zu sein schien, war auch er sensibilisiert: Die Abdeckung einer Außensteckdose abseits der Terrassentür klaffte ein paar Millimeter auf. Nicht richtig zugeklappt und deshalb nicht eingerastet, überlegte er und hakte die Beobachtung ab. Allerdings nahm er sich vor, Sylvias Bitte nach einer Einbruchsicherung nun endlich ernsthaft zu verfolgen.

Er wusch die Hände und verabschiedete sich, um in die Firma nach Ulm zurückzufahren. Seine junge Sekretärin sah ihm offenbar an, dass er Probleme hatte. »Alles in Ordnung?«, fragte sie mit erotischem Augenaufschlag, als er an ihr vorbei in seinem Büro verschwand.

»Alles bestens«, brummte er, während er hörte, wie sie ihm beim Schließen seiner Tür nachrief: »Ich hab Ihnen die Akte, die Sie gesucht haben, auf den Schreibtisch gelegt.«

Akte, durchzuckte es Sven. Er hatte schon gar nicht mehr daran gedacht. Er ließ sich in den gepolsterten Bürosessel fallen und blickte auf eine vergilbte grau-braune Akte, die offenbar aus den tiefsten Tiefen des Archivs herausgesucht worden war. Eine alte Personalakte, wie er unschwer erkannte. Erstaunlich, dass es sie noch gab. Aber sein Großvater und sein Vater waren beide pingelige Aktensammler gewesen – als hätten sie alles für die Familienchronik aufbewahren wollen. Dabei hatte heutzutage doch kein Firmenchef mehr Zeit für nostalgische Anwandlungen, dachte Sven. Ein Geschäftsführer musste entschlossen in die Zukunft schauen, damit auch die von morgen eines Tages stolz auf die von heute zurückblicken konnten, auch wenn denen das Gestern genau so egal war wie den Heutigen das Vergangene. Wirre Gedanken, riet er sich selbst zur Mäßigung und führte seine innere Unruhe auf die familiäre Belastung zurück.

Er nahm einen Schluck Wasser und schlug den kartonierten Aktendeckel wie ein wertvolles Artefakt aus historischen Zeiten auf. Es war eine Art Schnellhefter, der die mit Schreibmaschine verfassten Dokumente mit angerosteter Klammer zusammenhielt. Die Buchstaben waren offenbar mit unterschiedlicher Intensität angeschlagen worden. Zumindest deuteten die verschiedenen Schwarz- und Grauschattierungen der Schrift darauf hin. Oder das Farbband hätte längst ausgetauscht werden müssen, was Sven Temming eher für möglich hielt, weil unter seinem sparsamen Großvater solche Anschaffungen – und mochten sie noch so wenig gekostet haben – so weit wie möglich hinausgezögert wurden. So jedenfalls wurde noch heute kolportiert.

Sven überflog einige Zeilen, blätterte weiter, stieß auf dünne, pergamentartige Blätter, die offenbar Kopien von Originalen waren. Dunkel konnte er sich entsinnen, dass auf diese Weise einst mit den Schreibmaschinen mühsam Durchschläge von Briefen angefertigt wurden, indem man zwischen die einzelnen Papierschichten Kohlepapier legte.

Er überflog die wenigen Zeilen, bei denen es sich um Regelungen von Überstunden und Urlaub handelte. Schließlich entdeckte Sven Temming, was er suchte: die Einstellung von Barbara Kauler, geboren am 27. Februar 1943 in Göppingen, wohnhaft in Süßen, einer Kleinstadt nur fünf Kilometer vom Wohnort seines Großvaters entfernt. Dazu ein vergilbtes Schwarz-Weiß-Passfoto, das eine junge Frau mit hellen Lockenhaaren und einem freundlichen Lächeln zeigte. Sie – so konnte es der Personalakte entnommen werden – war am 1. Juli 1965 als Haushaltshilfe eingestellt und am 18. Oktober 1968 bei der Sozialversicherung abgemeldet worden. Sven überlegte: Das war 13 Tage nach dem tödlichen Unfall von Siegfried. Temming blätterte vor und zurück. Aber eine Kündigung, von der seine Mutter gesprochen hatte, fand sich nicht.

Er machte sich Notizen und blätterte aufgeregt und neugierig weiter, doch es gab keine weiteren Einträge mehr. Dann schloss er die verstaubte Akte sorgfältig und legte sie in seinen Ablagekorb. Gleichzeitig drückte er eine Taste am Telefon, um direkt mit seiner Sekretärin im Vorzimmer verbunden zu werden. »Frau Yilmaz, könnten Sie bitte bei den beiden Tageszeitungen in Geislingen und Göppingen nachfragen, ob sie im Archiv etwas über einen tödlichen Verkehrsunfall mit Fahrerflucht im Oktober 1968 herausfinden?« Er lauschte kurz und beantwortete eine Frage seiner Sekretärin: »Ja, ich kann es eingrenzen. Zwischen dem 6. und 17. Oktober.« Wieder eine kurze Pause, dann fügte er an: »Sagen Sie denen, dass wir sämtliche Unkosten erstatten. Es sollte aber in den nächsten Tagen sein.« Er beendete das Gespräch und lehnte sich zurück. Jetzt wollte er alles ganz genau wissen.

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