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ОглавлениеZeus ~ Dis Pater ~ Jupiter
Höchster der Unsterblichen,
viele Namen nennen dich,
ewig allmächtiger Zeus,
dich, Urquell allen Werdens,
der nach ewigen Gesetzen
herrscht im All, ich grüße dich, Zeus.
Ja, ich darf’s. Allein von allem,
was da lebt und kriecht auf Erden,
ist ein Abbild er des Alls:
wir sind deines Geschlechtes.
Zeus-Hymnus des Kleanthes36
Unter dem Namen Zeus verehrten die Griechen das höchste göttliche Prinzip, einerlei ob als konkrete menschliche Person vorgestellt oder als allgemeines Weltgesetz. Zeus ist der „Vater Äther“ in Hölderlins ergreifendem Hymnus, die alldurchdringende Lebenskraft; die Zeusnatur lebt aber auch in uns selbst, wie Kleanthes sagt („wir sind deines Geschlechts“). Diesen Gedanken griff später der Apostel Paulus auf, als er den Athenern vom „unbekannten Gott“ predigte: „Denn in ihm leben, weben und sind wir, wie auch einige der Dichter bei euch gesagt haben: Wir sind seines Geschlechts“ (Apg. 17,28). Zeus kann sowohl theistisch als auch pantheistisch gedeutet werden; Hölderlin besingt ihn in seinem Hymnus An den Äther so:
Himmlischer! Sucht nicht dich mit ihren Augen die Pflanze, streckt nach dir die schüchternen Arme der niedrige Strauch nicht?
Dass er dich finde, zerbricht der gefangene Same die Hülse, dass er, belebt von dir, in deiner Welle sich bade, schüttelt der Wald den Schnee, wie ein überlästig Gewand, ab.
Auch die Fische kommen herauf und hüpfen verlangend über die glänzende Fläche des Stroms, als begehrten auch diese aus der Wiege zu dir; auch den edlen Tieren der Erde wird zum Fluge der Schritt, wenn oft das gewaltige Sehnen, die geheime Liebe zu dir sie ergreift, sie hinaufzieht.37
In Zeus können wir nur allzu deutlich einen uralten indogermanischen Wetter- und Himmelsgott erkennen. Sein Name (altgriechisch Ζεύς, neugriechisch Δίας oder Dias) leitet sich von dem Wortstamm div- für „leuchten“ her und ist identisch mit dem Namen des höchsten Gottes im indogermanischen Pantheon. Auch die indischen Götter waren Devas, Leuchtende, und dis ist gleichbedeutend mit theos – Urform und Prototyp des Gottes überhaupt. Zeus ist Dis Pater, Gott-Vater, und somit Jupiter (im Lateinischen) oder Dyaus Pitar (vedisch). Der Name kennzeichnet ihn als den Gott des glänzenden, heiteren, hellen Himmels; er ist in erster Linie der Wettergott, der die Wolken versammelt, den Regen sendet, Gewitter heraufziehen lässt, oft den Donnerkeil schleudert und zuckende Blitze niederwirft, eine gefährliche Waffe im Kampf gegen die Feinde des Olymp, die als Titanen oder chthonische Götter zu denken sind. Als Wettergott thront er im Himmel oder auf hohen Bergen, und als Regenspender und Träger der Fruchtbarkeit ist er der Kultgemahl der Mutter Erde, mit der er die „Heilige Hochzeit“ vollzieht. Solche Gedankengänge verfolgt auch Pherekydes von Syros (den man üblicherweise zu den Vorsokratikern rechnet): „Zas (Zeus) und Chronos waren von Ewigkeit her, ebenso Chthonie; für Chthonie aber entstand der Name ‚Erde‘, da Zas ihr die Erde als Brautgabe zum Geschenk machte.“38
Stellt man sich die Götter als Teile des Jahreskreislaufs vor, dann gehört Zeus in die Periode des Frühlings, denn Regen und Gewitter fallen in diesen Zeitabschnitt hinein; damit steht er in einer Reihe mit anderen indogermanischen Frühjahrsgöttern. Hier wäre etwa der baltische Perkunas zu nennen oder der bei den Slawen verehrte Perun: „Wie bei der Mehrheit der Indogermanen, so stand an der Spitze des slawischen Pantheons der Gott des Gewitters, Donners und Blitzes, unter dem Namen Perun bekannt“, so Zdeněk Váňa in seinem Standardwerk über die slawische Mythologie39. Bei den Kelten haben wir in ganz ähnlicher Gestalt Taranis, den Donnerer, bei den Germanen den hammerschwingenden Thor, ein Feind der Riesen und der Midgardschlange. Selbst bei den Hethitern, dem ältesten indogermanischen Kulturvolk, ist diese Gottheit bezeugt: „Der König des Himmels und Herr des Hethiterlandes ist vielmehr der Wettergott, von dem wir auch nur den altertümlichen hattischen Namen Taru (…) kennen, aber nicht den hethitischen.“40
So sehr Zeus ein indoeuropäischer Gott sein mag – er besitzt auch Bezüge zur kretisch-minoischen Kultur. Hierher gehört vor allem der Mythos, der besagt, dass Zeus auf Kreta geboren und großgezogen wurde. Die Göttermutter Rhea, so die Erzählung, begab sich noch als Schwangere nach Lyktos auf Kreta und verbarg ihr Kind in einer Höhle des Berges Aigaion. Dort nahmen drei diktäische Eschennymphen, diktaiai meliai, das göttliche Kind in Empfang; als Amme des Kindes wird oft Adrasteia genannt, die das Neugeborene in eine goldene Wiege legte und ihm einen goldenen Ball schenkte, Symbole einer künftig zu erwartenden Weltherrschaft des Zeus. Und doch musste der Ort, an dem das Kind aufgezogen wurde, streng geheim gehalten werden. Denn der Vater aller Olympier, der Titanengott Kronos, trachtete Zeus nach dem Leben. Er hatte ja alle seine Kinder schon verschlungen, da er erwartete, von einem seiner Söhne gestürzt zu werden. Als Kronos aber Zeus verschlingen wollte, gab Rhea ihm stattdessen einen Stein: so wurde Kronos getäuscht und Zeus an jenen geheimen Ort gebracht, wo er aufwuchs.
Es gibt auf Kreta mehrere Höhlen, die für sich in Anspruch nehmen, Geburtsort des Zeus gewesen zu sein; auch werden verschiedene Personen als dessen Amme genannt. Amaltheia beispielsweise, die das Kind aus ihrem berühmten Horn trinken ließ, dem Horn eines Stieres übrigens, und wenn das Kind schrie, rief sie Knaben herbei, die mit ehernen Schilden und Lanzen Lärm schlugen und wild umhertanzten; so wurde das Schreien übertönt. Diese Knaben wurden Kureten oder Kabiren genannt; sie waren wohl eher Baumnymphen als Menschen (Dryaden vielleicht, Nymphen der Eichen), und später rankte sich ein Kult um sie auf der Insel Samothrake. Dass Zeus später dann, groß geworden, den Kronos mit einer eisernen Sichel entmannte und von seinem Thron stürzte, wurde bereits erwähnt.
Das sakrale Tier des Zeus war in erster Linie der Adler, sein heiliger Baum die Eiche, ein majestätischer Baum von ausladender Wucht, der Blitze anzieht. Sicherlich war mit Zeus ursprünglich auch ein Baumkult verbunden, und die älteste Mysterienstätte Griechenlands ist das dem Zeus geweihte Baumorakel von Dodona. Schon von Odysseus wurde behauptet, „er sei nach Dodona gegangen, um den Rat des Zeus aus dem Gipfel der Eiche zu lauschen“ (Odyssee XIV, 327). Dodona – so heißt ein hochgelegener dichtbewaldeter Ort bei Epirus im Norden Griechenlands, wo einst ein heiliger Eichenhain stand, dem Hauptgott Zeus und der Titanin Dione geweiht. Die Eichen zu Dodona konnten jedoch weissagen, denn es hieß, dass im Rauschen ihrer Blätter die Stimme des Göttervaters ertönte und den Ratschluss der Götter verkündete.
Älter als das Orakel zu Delphi, älter noch als die Kultstätten des Zeus zu Olympia und Epidauros, älter vielleicht gar als die Mysterien von Eleusis und Samo-- thrake, stellt Dodona zweifellos das älteste Orakel auf hellenischem Boden dar, „dessen Einzelheiten uns anmuten, als sprächen wir von einem nordischen alten Götterkult unserer eigenen Heimat“ (von Scheffer)41. Priesterinnen weilten auch am heiligen Ort zu Dodona, drei an der Zahl, denen die Aufgabe zukam, die aus dem Rauschen der Eichbäume empfangene Stimme des Zeus so zu deuten, dass sie Sterblichen verständlich würde. Dieses Priesteramt in der Hand von weisen Frauen bildet wohl den Überrest einer matriarchalischen Urreligion, die vor der Einwanderung der indogermanischen Griechen etwa 1600 bis 1200 v. Chr. im gesamten südlichen Mittelmeergebiet sowie auf Kreta und in Kleinasien bestanden haben muss.
Das Orakel zu Dodona, in klassischer Zeit längst von anderen Orakelstätten – vor allem Delphi – verdrängt und zur Bedeutungslosigkeit herabgemindert, stellt das Überbleibsel eines ureuropäischen Eichenkultes dar, der zweifellos auf die unbekannte Religion der vorindogermanischen Bevölkerung Europas zurückgeht. Herodot nimmt daher ganz richtig an, dass Dodona einst den Pelasgern, den ursprünglichen Bewohnern Griechenlands, als Kultstätte gedient habe:
„Früher opferten die Pelasger den Göttern und beteten zu ihnen, wie ich in Dodona gehört habe, ohne sie bei Namen zu nennen; denn ihre Namen kannten sie noch gar nicht. Erst viel später lernten sie die aus Ägypten stammenden Namen der verschiedenen Götter kennen, und noch weit später den des Dionysos. Nachher befragten sie der Götternamen wegen das Orakel in Dodona, angeblich das älteste und damals das einzige Orakel in Griechenland. Ihre Frage aber, ob sie die aus der Fremde stammenden Namen der Götter annehmen sollten, bejahte das Orakel, und seitdem rufen sie bei ihren Opfern die Götter mit Namen an. Später haben das dann auch die Griechen von den Pelasgern angenommen.“42
Auch in Olympia gab es ein Zeus-Orakel; auf Kreta nahmen Höhlenkulte Bezug auf seine Geburts- und Kindheitsgeschichte. Verehrt wurde Zeus als Allgott, als denkendes Feuer, das alles durchdringt, als Vater der Götter und Menschen, als Gott des Wetters, als Schicksalsgott. Seine Epiphanie aber war stets der Blitz. Er gehört ebenso zu seinen Charakteristika wie der Adler und die Eiche. So dichtet denn auch Kleanthes in seinem berühmten Zeus-Hymnus:
Dir gehorcht das Weltgebäude,
kreisend um den Erdenball.
Willig wandelt’s in den Bahnen,
die Du weisest mit der Waffe
deiner Herrscherhand, dem spitzen,
leuchtenden, lodernden, nimmer
erlöschenden ewig lebendigen Blitz.
Und das All gehorcht erschaudernd,
wenn des Blitzes Kraft es trifft.43
Esoterisch steht der Blitz des Zeus für die göttliche Feuerkraft, für den Funken göttlicher Elektrizität, der als Lebensfluidum das All durchdringt. Dieser Blitz kann sowohl zerstörend als auch aufbauend wirken; er ist jene Urkraft der Schöpfung, die Helena P. Blavatsky einstmals mit dem Begriff „Fohat“ umschrieb. In ihrem Hauptwerk Die Geheimlehre (3 Bde., 1888) beschreibt sie Fohat als „das jedes Atom zum Leben elektrisierende beseelende Prinzip“44 und sagt über ihn: „Er geht wie ein Blitz durch die feurigen Wolken“45. Dem Mythos zufolge hat Zeus den Blitz von den Kyklopen erhalten, die er mit den Hekatoncheiren (hundertarmige Riesen) als Bundesgenossen im Kampf gegen die Titanen gewann. Auch ließ er den Kyklopen, um sie zu stärken und sie mit göttlicher Kraft zu erfüllen, in reichem Maße Ambrosia zukommen, den Nektar der Unsterblichkeit (in der indischen Mythologie: Amrita).
Was manchmal anstößig wirkt, sind die zahlreichen Liebesaffären des Zeus, aus denen unzählige Kinder hervorgehen, nicht nur Götter, sondern auch Nymphen, Halbgötter und Sterbliche. Dabei konnte sich Zeus beim Akt der Verführung zuweilen in ein Tier verwandeln, vielleicht ein schamanisches Erbe der griechischen Religion. Beispiele gibt es hierfür genug: So verwandelte er sich in einen Schwan, um Leda zu gewinnen, mit der er die Dioskuren Kastor und Pollux zeugte. In einen Stier verwandelt, entführte er die schöne Europa von der Insel Kreta, um mit ihr Minos, Sarpedon und Rhadamanthys zu zeugen. In Gestalt einer Schlange näherte er sich der Persephone, um mit ihr Zagreus zu zeugen. Bekannt ist auch, dass er mit Leto das göttliche Geschwisterpaar Apollon und Artemis zeugte, mit der Nymphe Maia den Götterboten Hermes. Mit Semele, einer sterblichen Frau, zeugte er Dionysos, und Pallas Athene gilt als Kind des Zeus und der Metis. Dass Zeus sich auch mit sterblichen Frauen einlässt, hängt wohl damit zusammen, dass viele Adelsfamilien großen Wert darauf legten, ihre Abstammung direkt auf Zeus zurückzuführen. Und doch wirkt Zeus in der Rolle des ewigen Casanova lächerlich und unangemessen; es passt nicht so recht in das Bild eines majestätischen Göttervaters. Der Philosoph Xenophanes (570-475 v. Chr.), den man zu den Vorsokratikern zählt, beklagt sich:
Alles hingen den Göttern sie an, Hesiod und Homer, was bei den Menschen als Schande gilt und Tadel hervorruft: Stehlen, Untreue gegen Gatten, einander Betrügen. Aber die Sterblichen wähnen, die Götter würden geboren, und sie hätten Gestalt und Tracht und Sprache wie sie.46
Hier hat eine weitgehende Entmythologisierung der griechischen Götterwelt stattgefunden. Doch wurde Zeus weiterhin, all seiner mythischen Attribute entkleidet, mit dem höchsten Weltprinzip gleichgesetzt. So spielt er noch in der späteren griechischen Philosophie eine bedeutende Rolle. Die Orphiker sahen ihn als den Weltgrund an, der Platoniker Xenokrates identifizierte ihn mit dem kosmischen Nous (Weltvernunft), in der Philosophie der Stoa wurde Zeus als die Urkraft oder kosmische Vernunft aufgefasst. In einem orphischen Fragment heißt es:
Zeus wurde als erster geboren,
Zeus vom leuchtenden Blitz ist der letzte;
Zeus ist der Kopf, Zeus ist die Mitte;
Durch Zeus ist alles vollendet;
Zeus ist der Grund der Erde
und des Sternenhimmels;
Zeus wurde männlich geboren,
der unsterbliche Zeus war ein junges Mädchen;
Zeus ist der Hauch aller Dinge,
Zeus ist der Eifer des unermüdlichen Feuers.47