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Ge ~ Gäa ~ Gaia


CINIS SUM, CINIS TERRA EST,

TERRA DEA EST, ERGO MORTUUS NON SUM.

Ich bin Asche, die Asche ist Erde,

Die Erde ist eine Göttin, also bin ich nicht tot.

Grabinschrift aus der römischen Kaiserzeit

Die Erd ist unsere Mutter, Aditi ist Heimat,

Der Luftraum schirmt uns gegen Fluch und

Unheil.

Der Vater Himmel segne uns vom Himmel;

Wo ich die Brüder treffe, mög ich bleiben!

Atharvaveda VI, 120

Bekannt sind die Namen, unter denen die zur Göttin erhobene Erde verehrt wurde: in der altgriechischen Kultur als Ge, Gäa oder Gaia, zuweilen auch als Demeter; in Rom als Terra Mater und im kleinasiatischen Raum als Kybele. Die Verehrung der Großen Muttergottheit, von der jungsteinzeitlichen Magna Mater bis hin zur ägyptischen Allgöttin isis, war nichts anderes als ein Kultus der Göttin Erde. Die ältesten Kunstwerke der Menschheit sind bekanntlich jene kleinen, aus Elfenbein geschnitzten Bildnisse der Magna Mater, die wie die berühmte Venus von Willendorf ein Alter von rund 20.000 Jahren aufweisen. Man weiß nicht genau, wen diese kleinen Statuetten eigentlich darstellen sollen. Vermutlich eine sehr archaische, mit der Macht des Weiblichen verbundene Fruchtbarkeitsgöttin. Einerlei: sie war offensichtlich die Kultgöttin der altsteinzeitlichen Mammutjäger!

„Allgemein wird angenommen, dass die sogenannten ‚Venus‘-Statuen die Erdmutter, die ,Terra oder Magna Mater‘ darstellen. Sie wurden sowohl im europäischen Osten wie in Italien, Spanien und Frankreich gefunden, und einige von ihnen stammen noch aus den Frühzeiten des sogenannten Jungpaläolithikums, der zweiten Stufe der Altsteinzeit, sind also 20 bis 30.000 Jahre alt. Diese plastischen Bildwerke haben im Gegensatz zu den Gravierungen in den Höhlen meistens Köpfe, die Gesichter sind aber nicht ausgeführt, auch hier ist stets der Leib das Wichtigste, der übermäßig groß und voll gestaltet ist. (…) Wie die Zeremonien um manche Höhlenbilder trächtiger Tiere doch wohl der magischen Förderung der Fruchtbarkeit des Jagdwildes dienen sollten, so mag auch im Glauben der Urmenschen die Erdmutter ihre Fruchtbarkeit auf die Frau, die zu ihr die Hände erhob, übertragen haben. (…) Das ist die Große Mutter der Eiszeit.“ So Britta Verhagen in ihrem Buch über die kulturellen Wurzeln des Abendlandes in der Bronzezeit.22

Es dürfte kein Zweifel darüber bestehen, dass die Erdmutter Gaia in der Ägäis und auf der griechischen Halbinsel auf ein hohes Alter zurückblickt. „Zuerst vor allen Göttern ehr ich im Gebet die Erde als die früheste Seherin“ – so beginnt Aischylos, der Schöpfer der griechischen Tragödie, sein Drama Die Eumeniden. Auch das Kultheiligtum von Delphi war ursprünglich der Erdgöttin Gaia geweiht – erst viel später wurde es dem Sonnengott Apollon zugesprochen. Gab es im klassischen Griechenland einen Gaia-Kult? Alle Zeichen weisen darauf hin. Im Kult wurde Gaia besonders in Attika verehrt; in der bildenden Kunst findet man sie meist mit Füllhorn und Früchten dargestellt. Am bekanntesten ist die bildliche Darstellung der Gaia auf dem Gigantenfries des Pergamonaltars. Wir finden hier eine Szene aus der „Gigantomachie“ dargestellt, also dem Kampf der Giganten mit den olympischen Göttern: Pallas Athene, von der Siegesgöttin Nike begleitet, ergreift den Giganten Alkyoneus; Gaia, rechts unten aus der Tiefe auftauchend, zieht ihn zu sich zurück.

Man vermutet, dass die griechisch-ägäische Gaia bis in die ersten sesshaften Ackerbaukulturen der Jungsteinzeit zurückgeht. Seit etwa 8000 v. Chr. hat sich der Ackerbau von Vorderasien über ganz Europa ausgebreitet, und es war die Bandkeramikerkultur, die – vom Balkanraum ihren Ausgang nehmend – die sesshafte Lebensweise und die mit ihr verbundene Kulturidee der Großen Muttergottheit nach Mitteleuropa brachte. Das Urgötterpaar von „Mutter Erde“ und „Vater Himmel“ und ihre Heilige Hochzeit schien im Mittelpunkt der europäischen Jungsteinzeit zu stehen, und dieses Denkbild verwendet noch um 700 v. Chr. der griechische Mythendichter Hesiod, wenn er aus der geheiligten Ehe zwischen der Erdgöttin Gaia und dem Himmelsgott Uranos die Titanen, Kyklopen und Erinnyen wie auch die olympischen Götter hervorgehen lässt.

Hesiod wird zuweilen als der „erste Dichter auf europäischem Boden“ bezeichnet, denn Heimat und Wirkungskreis des Homer lagen ja noch im ionischen Kleinasien. Hesiod entstammte jedoch der Kulturlandschaft Böotien, die in Griechenland selbst an der ägäischen Mittelmeerküste gelegen ist; um 700 v. Chr. soll er dort in Askra geboren worden sein. Am Helikon (im Altertum der Name für den Bergrücken östlich vom Parnass in Böotien) erlebte er – friedlich inmitten der unberührten Natur die Schafe hütend – seine Berufung durch die Musen und wurde daraufhin ein Rhapsode. Unter einem Rhapsoden versteht man einen Dichter-Sänger, der als ein fahrender Spielmann durch die Lande zieht und im festlichen Kreis homerische oder selbstverfasste Epik vorträgt.

Das Lebensmilieu des Hesiod war ganz offensichtlich das der Bauern und Schafhirten, und aus einer tiefen Naturverbundenheit konnte er die lebendig tätigen Wesenheiten der übersinnlichen Welt wahrnehmen und das geistig Geschaute in dichterische Worte fassen. Der Höhepunkt seiner Laufbahn war sein Sieg im Dichterwettstreit bei den Leichenspielen für König Amphidamas in Chalkis. Sein bedeutendstes Werk stellt eindeutig die Theogonie dar, ein großartiges Gesamtsystem griechischer Göttermythologie, das in ebenso düsteren wie grandiosen Bildern den Prozess des Weltwerdens darstellt, wie er vom Seherauge geschaut wurde.

Theogonie bedeutet ja eigentlich „Gottwerdung“, also das Entstehen und Vergehen der Göttergeschlechter, aber Theogonie ist im griechischen Denken immer zugleich Kosmogonie; Götterwerdung ist also auch Weltwerdung, denn die Weltentwicklung im Diesseits ist untrennbar verknüpft mit dem Wirken der Geistigen Hierarchien in der übersinnlichen Welt. Deshalb muss die hesiodische Theogonie zusammen mit der Genesis der Bibel und dem Völuspa-Lied der germanischen Edda zu den großen Weltschöpfungs- und Weltentstehungsmythen gerechnet werden, die aus dem dumpfen Ahnen der noch kindlich-hellsichtigen Menschheit der Frühzeit hervorgegangen sind.

Man sagt, dass Homer und Hesiod den Griechen ihre Götterwelt gegeben haben; aber Tatsache ist, dass beide auch an uralte vorgriechische Mythen anknüpfen, vor allem an die Gaia-Religion der Pelasger, jener unbekannten mediterranen Urbevölkerung Griechenlands, die von den um 1700 v. Chr. aus dem Norden eingewanderten Stämmen der Ionier, Dorer und Achäer auf der hellenischen Halbinsel und in der Ägäis vorgefunden wurde. Gaia ist vermutlich eine chthonische Fruchtbarkeitsgöttin der Pelasger. Gaia wird bei Homer mit Zeus und Helios zusammen im Eid als Zeugin angerufen; sie steht an Rang und Bedeutung Zeus und dem Sonnengott nicht nach.

Nach der Theogonie Hesiods war zuerst nur das „Chaos“ da: die Urgöttin Chaos als der Urstoff allen Lebens! Aus diesem Urstoff Chaos ging dann Gaia, die „breitbrüstige Erde“ hervor, die ihrerseits aus sich heraus den Himmelsgott Uranos gebar wie auch das Gebirge und das Meer, den Pontos und den okeanos. Von Uranos befruchtet, dem Sohn und Gatten zugleich, gebar die Ur- und Allmutter Gaia die Titanen, die Kyklopen und die Hekatoncheiren. Da Uranos seine Kinder hasste und er sie in den Schoß der Erde zurückstieß, erhob sich der jüngste der Titanen, Kronos, und entmannte ihn. Aus den Blutstropfen, die auf die Erde fielen, gebar Gaia die Erinnyen und die Giganten. Später half sie den von ihrem Vater Kronos unterdrückten Titanenkindern, vor allem dem Zeus, der ja dann das olympische Göttergeschlecht begründete. Am Anfang also war, wie gesagt, das Chaos. Und nachdem Hesiod als Rhapsode am Beginn seiner Dichtung die Musen als Schutzgeister angerufen hatte, fährt er fort:

Gaia, die Erde, erzeugte zuerst den sternigen Himmel, gleich sich selber, damit er sie dann völlig umhülle, unverrückbar für immer als Sitz der ewigen Götter, zeugte auch hohe Gebirge, der Göttinnen holde Behausung, Nymphen, die die Schluchten und Klüfte der Berge bewohnen; auch das verödete Meer, die brausende Brandung gebar sie ohne beglückende Liebe, den Pontos; aber dann später gebar sie Okeanos' wirbelnde Tiefe.23

Im Europa der Jungsteinzeit nahm die Verehrung der Erdenmutter als der Magna Mater sowie der Gedanke einer Heiligen Hochzeit oder Hieros Gamos zwischen Himmel und Erde eine herausragende Bedeutung ein. Auch Hesiod spricht von einer solchen Heiligen Hochzeit, wenn er den Mythos von Uranos und Gaia erzählt, zu deren Kindern unter anderem auch die Titanen gezählt werden:

Koios und Kreios dazu und Iapetos und Hyperion, Theia sodann und Rheia und Themis, Mnemosyne ferner, Phoibe, die goldbekränzte, und auch die liebliche Tethys; als der jüngste nach ihnen entstand der verschlagene Kronos, dieses schrecklichste Kind, er hasste den blühenden Vater.24

Es gibt im Verborgenen chthonische Kräfte und Wesenheiten, tellurische Energien in den Eingeweiden der Erde, und der Seherblick des Dichters erkennt in diesen Urkräften das Wirken der Titanen. In den Titanen sind also die Personifizierungen von Naturkräften und Erdenergien zu sehen, die in der Aura unseres Planeten tätig sind. Die Geist- und Götterkräfte der Titanen waren in allen Elementen wirksam, im Himmel, auf der Erde und im großen Weltmeer. Die Titanen sind nach hesiodischer Theogonie das zweite Göttergeschlecht innerhalb der Weltentwicklung, während das erste und älteste Göttergeschlecht von den Geschöpfen des Chaos und den Kindern der Nacht gebildet wurde. Aber noch andere Kinder sind der Ehe von Uranos und Gaia entsprossen – die Kyklopen, stirnäugige Riesen, und die Hekatoncheiren: hundertarmige Ungeheuer!

Auch die Kyklopen gebar sie, die wildüberhebenden Herzens, Brontes und Steropes auch und den finstergewaltigen Arges; diese dann gaben dem Zeus den Donner und schufen die Blitze.

Zwar in allem glichen sie sonst den ewigen Göttern, doch inmitten der Stirn lag ihnen ein einziges Auge, und so hatte man ihnen den Namen Kyklopen gegeben, weil auf der Stirn das Rund des einzigen Auges gelegen, in ihren Werken aber lag Stärke, Gewalt und Erfindung.

Aber noch andere waren von Himmel und Erde entsprossen: drei ganz riesige Söhne, gewaltig, unnennbaren Namens: Kottos, Briareos auch und Gyges, Kinder voll Hochmut.

Hundert Arme streckten aus ihren Schultern sich vorwärts, klotzig und ungefügig und fünfzig Köpfe entsprossen Jedem aus seinen Schultern auf starken gedrungenen Gliedern.25

Titanen, Kyklopen und Hekatoncheiren, dies also sind die schrecklichen Kinder der Gaia! Uranos aber, der Beherrscher des Ätherraumes, hasste seine eigenen Kinder und stieß sie zurück in den Schoß der Erde, in den Tartaros. Und dann wird berichtet, wie der mächtigste der Titanen, der listenreiche Kronos, sich wider den Vater erhebt und ihn mit Hilfe einer eisernen Sichel entmannt; und aus der Nachkommenschaft des Kronos wird ein neues Göttergeschlecht geboren, das der olympischen Götter, dessen Hauptstammvater Zeus ist. Gaia bleibt jedoch die Ur- und Allmutter; und es gibt einen dem Homer zugeschriebenen Hymnus An die Allmutter Erde, der als Zeugnis einer Mutter-Erde-Religion im gesamten archaischen Griechenland gelten kann:

Erde, du aller Mutter, du festgegründete, singen will ich von dir, uralte Nährerin der Geschöpfe, die du alles, was im Meer und auf heiligem Boden, was in den Lüften lebt, ernährst mit quellendem Segen; du nur lässt sie gedeihen so reich an Kindern und Früchten.

Heilige Göttin, es steht bei dir, den sterblichen Menschen Leben zu geben, zu nehmen.

O selig, wem du in Güte segnend gewogen, denn alles erblüht ihm in üppiger Fülle; schwellende Saat bedeckt ihm alle Felder und reiche Herden beweiden sein Land, sein Haus birgt Schätze in Menge.

Und so herrschen sie denn in der Stadt voll lieblicher Frauen mild nach rechtem Gesetz, begleitet von Segen und Reichtum.

Jünglinge schreiten stolz in junger, blühender Freude, Jungfrauen spielen fröhlich in blütenumschlungenen Reigen tanzbeseligt dahin auf den weichen Blumen der Wiese:

alle, die du gesegnet, du spendende, heilige Göttin. Heil dir, Mutter der Götter, du Gattin des sternübersäten Himmels. Für meinen Gesang gewähre mir glückliches Dasein.

Ich aber werde deiner und andrer Gesänge gedenken.26

Es ist die innewohnende Seele des Erdplaneten, Göttin Gaia, die hier besungen wird: „uralte Nährerin der Geschöpfe“, „heilige Göttin“ und „Gattin des sternübersäten Himmels“ wird sie genannt. Die zuletzt erwähnte Bezeichnung verweist nochmals auf die mystische Ehe zwischen Gaia und Uranos, dem Himmelsvater und Beherrscher des Äthers; aus dieser Verbindung sind nach griechischer Theogonie alle Weltwesen hervorgegangen. Schließlich haben wir noch einen Orphischen Hymnus an die göttliche Erdenmutter. In diesem Rauchopfer-Hymnus wird unser Heimatplanet als „Göttliche Erde“, als „Allgeberin“, „Allernährein“, als „blumenprangende Gottheit“ und am Schluss noch einmal als „selige Göttin“ bezeichnet:

Göttliche Erde,

Mutter der seligen Geister

Und der sterblichen Menschen,

Allgeberin, Allernährerin,

Erfüllende, Allesverderbende,

Wachstumssprossende, waltend der Früchte,

Prangend im Kreise der Zeiten,

Sitz des unvergänglichen Alls.

Farbig schillernde Jungfrau,

Du trägst in kreißenden Wehen

Die vielgestaltige Frucht;

immerwährende, ewig-reine,

Tiefbusige, Spendrin des Glücks;

Du erfreust mit duftender Saat.

Blumenprangende Gottheit,

Regenfreudige, um die sich rundet

Kunstvoll das Sternenall,

Unvergänglicher Art

Und in reißenden Strömen.

Auf denn, selige Göttin!

Mehre die reichen Früchte der Freude

Gütigen Herzens den Hochbeglückten

In der glücklichen Zeiten Kranz!27

Die römische Tellus Mater

Mag Gaia auch eine griechische Erdgöttin sein, die Mutter Erde an sich ist eine uralte Gottheit, bei Römern, Kleinasiaten, Kelten, Germanen und vielen anderen Völkern des Altertums wohl bekannt. Die alten Italiker kannten übrigens eine der Gaia ganz ähnliche, die Erde verkörpernde Göttin mit dem Namen Tellus Mater, die in der Frühzeit große Bedeutung genoss, später aber völlig in den Hintergrund gedrängt wurde. Der Dichter Ovid kennt noch diese Göttin: „nährende Tellus“ nennt er sie in seinen Metamorphosen, aber ihre Spuren verlieren sich im Dunkeln, da sie von den römischen Haupt- und Staatsgöttern wie Jupiter, Juno, Mars und Apollo schon früh abgedrängt wurde. Überall dieselbe Geschichte der Verdrängung, überall dieselbe Entmachtung, Verbannung der Erdgöttin – in Indien wie im antiken Europa.

In einer von Natur- und Ahnengeistern durchwobenen Welt erschien die personifizierte Erde den Alten Italikern als die Terra oder Tellus Mater, deren Kult ursprünglich weitverbreitet war, später aber zunehmend zurückgedrängt wurde. Tellus Mater war vor allem die Göttin des Saatfeldes, die den fruchtbringenden Samen in ihren Schoß aufnimmt und sein Wachstum veranlasst. Das Hauptfest der Mutter Erde fiel auf den 15. April nach Beendigung der frühjahrszeitlichen Aussaat, und wegen des dabei dargebrachten Opfers trächtiger Kühe (fordae boves) nannte man dieses Fest die Fordicidia. Vier Tage darauf, am 19. April, feierte man der Ceres als der Fruchtbarkeits-, Wachstums- und Vegetationsgöttin das Ehrenfest der Ceralia. Der Name der Ceres hängt zwar eng mit dem lateinischen crescere für Wachsen zusammen, die Person der Göttin ist jedoch eindeutig mit der griechischen Demeter gleichzusetzen, deren Kult im Jahre 496 v. Chr. in Rom eingeführt wurde.

Der Ceres-Dienst war nichts anderes als die Fortführung der Demeter-Mysterien auf italischem Boden; an dem Kult der Göttin wurde aber so wenig geändert, dass ihre Priesterinnen auch in Rom Griechinnen sein mussten. Daneben gab es noch einen Kult der Fauna, die der Tellus Mater durchaus gleichzusetzen ist: ihr angesehenes Heiligtum zu Rom, dessen Stiftung am 1. Mai gefeiert wurde, lag am Fuß des Aventin; ihr Hauptfest aber begingen die vestalischen Jungfrauen und die vornehmen Bürgerinnen Roms unter Ausschluss aller Männer Anfang Dezember im Hause eines Konsuls oder Prätors durch ein geheimes Opfer. Auf dem Ara Pacis, dem Friedensaltar des Augustus, findet man eine Darstellung der Tellus Mater, die sie als früchtespendende Göttin zeigt, umgeben von den Tieren des Waldes sowie von den Verkörperungen des Wassers und der Luft. Dies alles zeigt, dass auch Rom die Erdgöttin verehrte!

In Indien geht die Verehrung der Erdgöttin bis auf die vorgeschichtliche Industalkultur zurück, die mit der Ausgrabung der Ruinen von Harappa und Mohenjo Daro wieder freigelegt wurde. Die vedische Frühzeit Indiens war durchdrungen von einem Geist tiefreligiöser Natur- und Erdverehrung, und noch im nachvedischen Indien besaß die Erdgöttin eine große Bedeutung. Man verehrte sie als Göttin Bhu oder Bhudevi, die dem Mythos zufolge vor der Schöpfung auf dem Grunde des Urmeeres ruhte. Dort fand sie Brahma und hob sie an die Oberfläche empor in Gestalt einer Lotosblume (Nymphaea stellata) mit vielen Blumenblättern, die sich prachtvoll öffneten, sobald sie das Licht erreichten.

In der Kunst wird Bhudevi, die Erdgöttin, mit einem blauen Lotos in der rechten Hand dargestellt. Sie wird oft als eine Inkarnation von Lakshmi, Vishnus Gemahlin, angesehen. Auch als Prithivi wurde die Mutter Erde im klassischen Indien verehrt; als Gattin des Dyaus, Mutter des Indra und des Agni war sie die Erde selbst, vergleichbar mit der griechischen Gaia oder der römischen Tellus Mater. Manchmal wurde sie als Kuh dargestellt, die den Schutz Brahmas, des Schöpfers, sucht. Die Gaben, die sie den Menschen schenkt, sind Korn und Früchte. Von manchen wurde sie als die Mutter aller Götter betrachtet, aber sie ist auch die Mutter aller Menschen, Pflanzen und Tiere, sodass ihr Name Prithivi als gleichbedeutend mit „Natur“ verwendet wird, da sie wie die römische Göttin Natura diejenige ist, die beständig Leben schenkt. Die Erdgöttin, einerlei unter welchem Namen sie auftritt, ist nicht nur eine der ältesten Gottheiten überhaupt, sondern auch eine weltweit verbreitete.

Dass die „Mutter Erde“ auch im indianischen Glauben eine zentrale Rolle spielte, belegt das folgende Zitat: „Bei den Eingeborenen von Nordamerika, den Indianern, spielt die Erdmutter die größte Rolle. Den Comantschen ist die Erde ihre eigene Mutter, der große Geist ihr Vater. General Harrison rief den Häuptling der Shawnees, Tecumseh, zu einer Unterredung. ‚Komm her, Tecumseh, und setze dich zu deinem Vater!‘ ‚Du mein Vater?‘ sagte der Häuptling. 'Nein, die Sonne dort (nach ihr hinweisend) ist mein Vater und die Erde ist meine Mutter, ich will an ihrem Busen ruhen', und er setzte sich an ihren Busen.“28

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts hat Gaia eine unerwartete Popularität erlangt durch die sogenannte Gaia-Hypothese, die von Jim E. Lovelock 1979 erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Lovelock hat als erster wissenschaftlich nachgewiesen, dass die Erde eine komplexe Ganzheit aus Ländern, Wäldern, Atmosphäre und Weltmeeren darstellt, und dass dieser Ganzheit eine planetarische Intelligenz zugrunde liegt. Diese zeigt sich in erster Linie als eine biologische Überlebens-Intelligenz, denn die Erde hat es vermocht, innerhalb der letzten 4½ Milliarden Jahre auf ihrer Oberfläche ein immer gleich bleibendes Lebensniveau aufrecht zu erhalten. Seit den Thesen von Lovelock ist Gaia zu einer der beliebtesten New-Age-Göttinnen avanciert, obwohl der Begründer der Gaia-Hypothese es gar nicht so esoterisch gemeint hat.

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