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Schöpfungsmythen


Damals war nicht das Nichtsein, noch das Sein

Kein Luftraum war, kein Himmel drüber her. –

Wer hielt die Hut der Welt? wer schloss sie ein?

Wo war der tiefe Abgrund, wo war das Meer?

Nicht Tod war damals, nicht Unsterblichkeit,

Nicht war die Nacht, der Tag nicht offenbar. –

Es hauchte windlos in Ursprünglichkeit

Das Eine, außer dem kein andres war.

Von Dunkel war die Welt bedeckt,

Ein Ozean ohne Licht, in Nacht verloren; -

Da ward, was in der Schale war versteckt,

Das Eine durch der Glutpein Kraft geboren.

Aus diesem ging hervor, zuerst entstanden,

Als der Erkenntnis Samenkeim, die Liebe; -

Des Daseins Wurzelung im Nichtsein fanden

Die Weisen, forschend in des Herzens Triebe.10

Kosmogonische Vorstellungen des Rigveda

In den Schöpfungsmythen geht es um den Ursprung der Welt und um das Werden der Götter, Menschen und anderen Naturwesen, die den Kosmos als Ganzen beseelen; dabei wird der Weg gezeichnet, der von einem formlosen Urzustand bis zu dem wohlgeordneten Kosmos der Jetztzeit führt. Bezeichnend für die Sichtweise des Rigveda ist die Suche nach einem einheitlichen Ursprung des Weltganzen. Und ansatzweise ergibt sich aus diesem Suchen die Vorstellung von dem sichselbstgebärenden Einen, die später in den Upanishaden eine so große Bedeutung gewinnen wird: „Das Eine, außer dem kein andres war“.

Das Weltschöpfungslied ist ohne Zweifel das denkerisch tiefste unter den kosmogonischen Liedern des Rigveda; der anonyme Dichter will keine eigentliche Schöpfungslehre aufstellen, sondern ihn interessiert nur das Problem, wie denn die reale Welt aus dem Nichts entstanden sei. Da aber aus dem Nichtsein niemals irgendetwas hervorgehen kann, meint der Dichter, dass es ursprünglich weder Sein noch Nichtsein gab, sondern einen Zustand jenseits von beidem. „Weder Nichtsein noch Sein war damals; nicht war der Luftraum noch war der Himmel darüber. Was strich hin und her? Wo? In wessen Obhut? Was war das unergründliche tiefe Wasser?“11 In diesem pralayaischen Zustand universaler Latenz webte das Eine, das die Welt aus sich selbst gebar – der universelle Weltenkeim aller Dinge. Liebesverlangen überkam das Eine, Werdelust packte es, und so entfaltete sich das All aus dem Einen; am Anfang stand also der kosmogonische Eros.

Ein immer wiederkehrendes Denkbild aus dem Rigveda ist die Vorstellung von einem Urmenschen. Mit anderen Worten, die Einheit der Welt wird daraus erklärt, dass sie aus einem einzigen Urindividuum entstanden sei. Dieses Urwesen ist Purusha („ein Mannsbild von riesenhaftem Ausmaß“ nennt ihn Geldner), und das Lied schildert seine Geburt und Weltwerdung, seine weltumspannende Größe, und dann sein Geopfertwerden durch die Götter – aus den Gliedern seines getöteten Leibes formen sie die verschiedenen Teile der Welt. Dieser Mythos vom kosmischen Menschen, vom All- und Urmenschen als Urgrund der Schöpfung, ist Gemeingut aller alten Völker, ein Bestandteil jener esoterischen Geheimlehre, die in Urzeiten über die ganze Welt verbreitet war. Dem vedischen Purusha entspricht der jüdische Adam Kadmon, der persische Gayomard, der altnordische Ymir, ja sogar noch ältere Vorbilder aus eurasischer Vorzeit (Pangu in der chinesischen Mythologie). Auch erhält der Opfergedanke im Purusha-Mythos größere Bedeutung: durch Opfer ist die Welt entstanden – durch Opfer wird sie aufrechterhalten.

Zunächst einmal ist, nach Aussage des Rigveda, der Purusha identisch mit dem Makrokosmos: „Purusha allein ist diese ganze Welt, die vergangene und die zukünftige, und er ist der Herr über die Unsterblichkeit“12. Sodann wird der Urmensch geopfert, in Teile zerlegt und aus diesen die Welt geformt, sodass sich eine vollständige Analogie zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos ergibt; den Gliedern des Makromenschen entsprechen die Glieder der Welt: „Der Mond ist aus seinem Geist entstanden, die Sonne entstand aus seinem Auge; aus seinem Munde Indra und Agni, aus seinem Aushauch entstand der Wind. Aus dem Nabel ward der Luftraum, aus dem Haupte ging der Himmel hervor, aus den Füßen die Erde, aus dem Ohre die Weltgegenden. So regelten sie die Welten.“13 Unser ganzes Universum wäre somit der Leib eines Großen Menschen. Ein ganz ähnliches Gedankenbild finden wir in der germanischen Mythologie, der dieselben urindoeuropäischen Mysterien zugrunde liegen wie dem Rigveda. In der aus Island stammenden Sammlung Edda, nordische Götterlieder, begegnen wir dem Urriesen Ymir, der auch von den Göttern geopfert wurde, um die mikrokosmische Welt daraus zu formen:

Aus Ymirs Fleisch ward die Welt geschaffen,

aus dem Gebein das Gebirg,

der Himmel aus dem Schädel des schneekalten

Riesen, die Brandung aus dem Blut.14

Der Begriff purusha hat in der späteren indischen Religionsphilosophie noch eine andere Bedeutung angenommen. In der Sankhya-Philosophie bezeichnet er in Abgrenzung gegen prakriti, die Materie, das Selbst, das Absolute oder das reine Bewusstsein; im Vedanta ist Purusha dann identisch mit dem Atman und somit auch mit dem Brahman. Das Purusha-Lied bildet nach P. Deussen den krönenden Abschluss der Philosophie des Rigveda, es ist sicherlich auch eines der jüngsten Hymnen in der ganzen Sammlung, da es als einziges die vier Hauptkasten erwähnt, die es ebenfalls aus dem Purusha hervorgehen lässt15.

Ein anderes Schöpfungslied stellt die Frage nach dem ungenannten Urgott in den Vordergrund. Die erst viel später angefügte Schlussstrophe gab ihm den Namen Prajapati. Da der Urgott und erste Schöpfer aber nicht unter den bekannten Göttern zu finden ist, wird als Refrain die Frage aufgeworfen, welchem Gott denn nun diese Ehre zukomme („Wer ist der Gott, dem wir mit Opfer dienen sollen?“). Dieses Lied enthält auch eine Kosmogonie, da von dem unbekannten Schöpfergott gesagt wird: „Im Anfang wurde er zum goldenen Keim. Geboren ward er der alleinige Herr der Schöpfung. Er festigte die Erde und diesen Himmel“16. Der Goldkeim – hiranyagarbha – ist die Vorstufe des goldenen Eies der späteren Kosmogonien, der als Keim im Urwasser treibt und nach seiner Befruchtung durch den Strahl des Logos die Welt aus sich hervorbringt.

Der babylonische Schöpfungsmythos

Der älteste babylonische Schöpfungsmythos, den wir besitzen, der Enuma Elisch, niedergelegt auf sieben Keilschrift-Tontafeln mit je etwa 150 Versen, stammt bereits aus einer Spätzeit, zwischen dem 19. und dem 17. Jh. v. Chr.; er reflektiert den Sieg des Patriarchats über das Matriarchat und zeigt das Bestreben, den babylonischen Stadtgott Marduk als den höchsten Herrn des Universums auszuweisen. Als die beiden Urmächte des Chaos werden die Große Göttin Tiamat, die Herrin des Meers, und der Gott des Süßwassers Apsu genannt; aus diesen entstehen spätere Generationen von Göttern, bis hin zu Marduk als dem Letzten und Jüngsten, der die kosmische Urmutter Tiamat tötet und aus ihrem Leib die Welt formt, aus der oberen Hälfte der Himmel und aus der unteren die Erde; auch die Sternbilder werden an den Himmel gesetzt und das Zeitmaß ihres Laufes festgesetzt. Als das Dokument einer „patriarchalischen Kulturrevolution“ im 2. Jahrtausend v. Chr. soll dieser Schöpfungs-Urmythos hier einmal, wenn auch leicht gekürzt, in vollem Wortlaut zitiert werden17:

Als droben die Himmel nicht genannt waren,

als unten die Erde keinen Namen hatte,

als selbst Apsu, der Unanfängliche,

der Erzeuger der Götter,

und Mummu Tiamat, die sie alle gebar,

ihre Wasser in eins vermischten,

als das abgestorbene Schilf

sich noch nicht angehäuft hatte,

Rohrdickicht nicht zu sehen war,

als noch kein Gott erschienen,

mit Namen nicht bekannt,

Geschick ihm nicht bestimmt war,

da wurden die Götter aus dem Schoß

von Apsu und Tiamat geboren ….

Aber das Urgötterpaar Apsu und Tiamat fühlt sich schon bald durch das lärmende Treiben der jungen Götterkinder belästigt; deshalb beschließen sie, die störende Nachkommenschaft kurzerhand zu beseitigen:

Es kamen zusammen die Brüder, die Götter,

zu stören Tiamat durch ungeordnetes Treiben.

Sie verwirrten tatsächlich Tiamats Gemüt,

da sie tanzend umhersprangen,

sie dämpften ihr Geschrei auch nicht vor Apsu.

Tiamat schwieg angesichts ihres Aufruhrs,

doch ihr Treiben war Apsu zuwider,

ihr Wandel missfiel ihm,

denn sie waren groß geworden ….

Sie berieten die Sache wegen der Götter,

Ihrer Erstgeborenen.

Apsu tat seinen Mund auf,

mit lauter Stimme sprach er zu Tiamat:

'Unerträglich ist mir ihr Verhalten.

Tagsüber kann ich nicht ruhen,

nachts kann ich nicht schlafen.

Ich will sie vernichten,

um ihrem Treiben ein Ende zu machen.

Stille soll herrschen, damit wir ruhen können.'

Man sieht hier die kosmische Dimension des Mythos, dass sich die alten Mächte des Chaos und der Urschöpfung durch das neu aufsprießende Leben bedroht fühlen. In einem ersten Kampf besiegt Ea den zunächst betäubten Apsu und wird dadurch zum Gott des Wassers. Mit der Kraft des Siegers zeugt er Marduk, den neuen kommenden Gott; Tiamat aber bereitet sich zum Kampf vor, der nun unvermeidlich ausbrechen muss. Zahllose Ungeheuer brachte nun Tiamat, die selbst als ein großer Seedrache dargestellt wird, selbstschöpferisch hervor, Schlangen, Drachen, Löwen, Skorpionmenschen und Sturmdämonen, um sie gegen die jungen Götter ins Feld zu schicken. Den nun folgenden Endkampf mit Marduk schildert das Epos in ausführlicher Dramatik:

Marduk, der Herr, erhob den Zyklon,

seine gewaltige Waffe,

und der Tiamat, die Versöhnung heuchelte,

rief er zu: 'Warum sprichst du freundliche Worte,

da du dich zum Angriff gerüstet?

Die Söhne haben sich getrennt,

ohne Achtung vor ihren Erzeugern,

denn du, die sie geboren,

hast jedem mütterlichem Sinn entsagt ….

Wider die Götter, meine Väter,

hast du deine Bosheit gerichtet.

Deine Truppe mag sich ausrüsten

oder dir die Waffen anlegen!

Begegnen wir uns lieber im Zweikampf!'

Als Tiamat dies hörte,

geriet sie außer sich, verlor den Verstand.

Sie stieß ein lautes Gebrüll aus,

rief eine Beschwörung und einen Zauberspruch.

Dann stießen zusammen Tiamat und Marduk,

der weiseste der Götter,

stürzten sich aufeinander,

und begegneten sich im Kampf.

Marduk breitete sein Netz aus,

fing darin Tiamat, ließ vor ihr los den Sturm,

den er vom Himmelsgott erhalten hatte,

als Tiamat ihn verschlingen wollte,

warf er den Sturm in ihren Schlund,

damit sie die Lippen nicht schließen konnte.

Die grimmigen Winde füllten ihren Leib.

Ihr Leib blähte sich auf, ihr Mund blieb offen.

Er schoss einen Pfeil ab, zerriss ihr den Bauch,

Ihr Inneres zerfetzte er

und durchbohrte ihr Herz.

Als er sie bezwungen hatte,

setzte er ihrem Leben ein Ende…..

Weitere Verse schildern, wie Marduk aus dem Leib der Tiamat die Welt erbildet, aus der oberen Hälfte das Himmelsgewölbe, das er in die Abschnitte der Sternbilder einteilt, wobei er auch den Gang von Sonne und Mond bestimmt und dem Gott Ea einen Himmelspalast zuweist. Aus der unteren Hälfte aber wurde die Erde gestaltet, aus dem Kopf der Tiamat ein hoher Berg, ihren Augen entspringen die Flüsse Euphrat und Tigris, aus ihrer Brust entsteht eine Hügellandschaft. Mit der Erschaffung der Menschen aus dem Blut eines geopferten Gottes endet der gewaltige Weltschöpfungs-Epos.

Der altjapanische Schöpfungsmythos

Im Mittelpunkt der altjapanischen Mythologie steht das Götterpaar Izanagi und Izanami, das mit dem himmlischen Juwelenspeer in der Salzflut rührte, bis diese sich verdickte und die Erde daraus entstand; danach ließen sie weitere Gottheiten aus sich hervorgehen, darunter die Sonnengöttin Amaterasu sowie den Mondgott und den Gott des Meeres. In einer modernen Nacherzählung liest sich dieser Schöpfungsmythos so:

Am Anfang waren Himmel und Erde nicht getrennt. Dann spross aus dem Ozean des Chaos ein Schilfrohr; das war der ewige Landbeherrscher Kunitokotatchi. Dann kamen die Göttin Izanami und der Gott Izanagi. Sie standen auf der schwimmenden Himmelsbrücke und rührten mit einem juwelenbesetzten Speer im Ozean, bis er gerann. So schufen sie die erste Insel, Onokoro. Sie bauten auf dieser Insel ein Haus mit einem Steinpfeiler in der Mitte; das ist das Rückgrat der Welt. Izanami ging in einer Richtung um den Pfeiler und Izanagi in der anderen. Als sie sich wieder gegenüberstanden, vereinigten sie sich; das war ihre Hochzeit. Ihr erstes Kind nannten sie Hiruko, aber es gedieh nicht sehr gut. Deshalb setzten sie ihn, als er drei Jahre alt war, in einem Schilfkahn aus; er wurde Ebisu, der Gott der Fischer. Danach gebar Izanami die acht Inseln Japans.18

Soweit also, frei nacherzählt, der Schöpfungsmythos aus dem Buch Kojiki, der „Sammlung der Dinge“, das im 8. Jahrh. n. Chr. auf Geheiß der Kaiserin Gemmyo zusammengestellt wurde. Mehrere Gesichtspunkte sind hierbei sehr bemerkenswert, und sie verdienen es, genauer hervorgehoben zu werden:

Izanami und Izanagi sind ein Götterpaar, und somit stellen sie eine männlich-weibliche Polarität dar. Es war also nicht ein isolierter männlicher Schöpfergott, der die Welt hervorgebracht hat, wie es in den Traditionen des Patriarchats so gesehen wird, sondern die Weltwerdung geht auf die Tat einer mann-weiblichen Paargenossenschaft zurück. Izanami und Izanagi verkörpern in diesem Sinne auch Yin und Yang, die mann-weibliche Ur-Polarität.

Die „schwimmende Himmelsbrücke“, auf der sie beide stehen, ist ohne Zweifel der Regenbogen, der in der religiösen Mythologie der Völker eine so große Rolle spielt. Seit jeher galt der Regenbogen als die Brücke zum Reich der Götter. In der germanischen Mythologie haben wir etwa die Himmelsbrücke Bifröst, auf der die Götter zur Erde herabsteigen. Die Regenbogenbrücke Antahkarana gilt als die Brücke zur Geistigen Welt.

Wenn die beiden Götter nun mit Hilfe eines Juwelenspeers die Salzflut aufrühren, so ist dies eindeutig eine Anleihe aus der indischen Mythologie. Dort wird nämlich berichtet, wie die Götter einst den Urozean aufquirlten, bis sie auf seinem Grunde Amrita, das Wundermittel der Unsterblichkeit, fanden.

Wenn es in der Erzählung heißt, die Götter bauten auf der erstgeschaffenen Insel ein Haus mit einem Steinpfeiler in der Mitte, der „das Rückgrat der Welt“ ist, so verweist dies auf eine uralte Vorstellung, nämlich die den Himmel stützende Weltsäule. Sie wird auch die Weltachse oder axis mundi genannt. Zu diesem Thema schreibt Nelly Naumann in ihrem Buch Die Mythen des alten Japan: „Nach der Vorstellung nordasiatischer Völker wird der Polarstern, um den sich das Himmelsgewölbe dreht, geradezu als Himmelssäule angesehen oder doch als der Punkt, in dem sich der Himmel um die Weltsäule dreht. Diese Welt- oder Himmelssäule steht vor der Wohnung des ,Himmelsgottes’ und wird teilweise mit dem Himmelsgott selbst identifiziert. Verschiedene sibirische Völker haben Bilder der Himmels- oder Weltsäule angefertigt (…). Auch hier zeigt sich demnach eine Bilderwelt, die derjenigen des japanischen Mythos gleicht.“19

Als ein weiteres mythisches Motiv wäre das der Heiligen Hochzeit zu nennen. Denn es wird berichtet, dass Izanami und Izanagi den Weltenpfeiler in je umgekehrter Richtung umgehen, bis sie in der Mitte wieder zusammentreffen; dies ist der Ort der Vereinigung, aus der weitere Götterkinder hervorgehen, vor allem Ebisu, der Gott der Fischer, und die acht Inseln Japans. An dieser Stelle geht der Mythos in Theogonie über, in die Lehre von der Gottwerdung und der Aufeinanderfolge der Göttergenerationen. Bei diesen Göttern handelt es sich um kosmische Götter, also um solche, die ganz direkt mit dem Naturgeschehen zu tun haben, nicht aber um transzendente Mächte.

Die hesiodische Theogonie

Hesiod (um 700 v. Chr.) war ein altgriechischer Bauerndichter aus Askra in Böotien, der das homerische Zeitalter durch zwei Hexametergedichte entscheidend ergänzte: Werke und Tage, 828 Verse und Theogonie, 1022 Verse, ein Werk, in dem erstmals eine systematische Darstellung der griechischen Götterwelt gewagt wird. Er bringt Ordnung und System in das bunte Göttergewoge Homers, stellt Zeus ganz in den Mittelpunkt, gibt auch einen Querschnitt durch die Entwicklung, indem er die ganze Reihe der aufeinander folgenden Götter-Generationen darstellt, von der ersten Urzeit bis zur Vollendung in der Gegenwart. Und wenn man sagt, dass Hesiod den Griechen ihre Götterwelt erst gegeben habe, dann muss man bedenken, dass er auch an vorindogermanisch-pelasgische Mythen anknüpft; ein Einfluss aus dem Orient ist zudem unverkennbar.

Am Anfang seiner Theogonie schildert Hesiod seine Berufung durch die Musen, diese nämlich „lehrten einst den Hesiod schönen Gesang, als er Schafe weidete unter dem gotterfüllten Helikon“; sie händigen ihm den Rhapsoden-Stab aus und den Lorbeerkranz, als Hoheitszeichen seines Dichtertums, und dann hauchten sie ihm „eine weissagende Stimme ein, damit ich rühme, was sein wird und was vorher war“. Die Musen waren die inspirierenden Schutzgeister der Dichter; es gab neun an der Zahl, und die erste unter ihnen war Mnemosyne, das heißt die „Erinnerung“, das „Weltgedächtnis“ oder, esoterisch gesprochen, die Akasha-Chronik. Hesiod versteht sich also auch als ein Prophet, der um Zukünftiges wie um Vergangenes weiß, weil er aus dem Tableau der Welt-Erinnerung schöpft. Und nun beginnt Hesiod mit seinem gewaltigen Weltschöpfungsmythos. Er fängt an bei einem Urzustand, in dem es selbst die Götter noch nicht gab; sie waren noch nicht ins Sein getreten, es gab nur wogende Urmächte, die aus tiefsten Gründen auftauchen und ein formloses Material zu der Welt formen, wie wir sie heute kennen:

Wahrlich, zuerst entstand das Chaos und später die Erde, breitgebrüstet, ein Sitz von ewiger Dauer für alle Götter, die des Olymps beschneite Gipfel bewohnen und des Tartaros Dunkel im Abgrund der wegsamen Erde, Eros zugleich, er ist der schönste der ewigen Götter; lösend bezwingt er den Sinn bei allen Göttern und Menschen tief in der Brust und bändigt den wohlerwogenen Ratschluss. Aus dem Chaos entstanden die Nacht und des Erebos Dunkel, aber der Nacht entstammten der leuchtende Tag und der Äther, schwanger gebar sie die beiden, von Erebos‘ Liebe befruchtet.20

Hesiod führt uns hier den Zustand der Urschöpfung vor Augen. Und es ist eine interessante Tatsache, dass er als ersten Ursprung das Chaos setzt. Der Wortbedeutung nach heißt „Chaos“ so viel wie „Spalt, Höhlung“, das dazu gehörige Verb bedeutet „aufsperren, aufklaffen, gähnen“, es ist also eine klaffende Tiefe, ein gähnender Abgrund. Aber dieses Chaos ist auch ein schöpferisches Prinzip, eine Art kosmische Gebärmutter: die Nacht und der Erebos gehen aus ihm hervor, die ihrerseits zusammen den Tag und den Äther erzeugen. Allenthalben ist das Motiv der „Heiligen Hochzeit“ allgegenwärtig. Es ist die mystische Union von Nacht und Erebos, später dann auch die von Erde und Himmel. Eros ist dabei immer gegenwärtig, er fungiert als der kosmogonische Eros, als die allverbindende Kraft im Universum, die alle Polaritäten zusammenbringt und damit die Heilige Hochzeit überhaupt erst ermöglicht.

Auch vom Tartaros ist im obigen Text die Rede. Er ist der tiefste Abgrund des antiken Welt-Kosmos; auch er gehört, wie das Chaos und die Erde, zu den Urzeugungsmächten, die seit Anbeginn bestanden; einsam steht er da, ohne Stammeltern und ohne Kinder; nur mit der Erde zeugt er das Ungeheuer Typhoeos. Streng genommen gibt es hier zwei Götter-Stammbäume, einmal die Kinder des Chaos (Nacht, Erebos, Tag, Äther), und dann die der Erde, die mit dem Himmel die Titanen und alle späteren Göttergeschlechter erzeugt. „Griechische Schau der Welt, griechisches Lebensgefühl kündet sich hier, gleich zu Beginn der Götterfolge an: ein zweifacher Ursprung, zwei polare Bereiche: Unform und Form, abgründige Tiefe und klare, feste Begrenzung; vage Todesdunkelheit … und gleichmäßig wandelnde Gestirne bestehen nebeneinander. Sie mischen sich nicht, die Nachkommenschaften von Chaos und Gaia gehen keine Verbindung ein, aber sie bekämpfen sich auch nicht, es ist kein Agon zwischen Unform und Form, zwischen den Ausgeburten des Chaos und den Kindern der Gaia.“21

Götter und Göttinnen

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