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Finis Terrae

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nannten die Seefahrer zunächst das Kap im Nordosten Spaniens. Mit den immer weiter ausgreifenden Entdeckungsfahrten schob sich dieses Ende immer weiter von Europa weg. Zunächst lag es an der Westküste Afrikas. Die portugiesischen Seefahrer des Mittelalters mussten all ihren Mut zusammennehmen, um diesen magischen Punkt zu überschreiten, der das äußerste Ende der bekannten Welt bezeichnete; jenseits von ihm konnten Schiffe über die Kante der Welt hinabstürzen, konnten aus Alpträumen entsprungene Ungeheuer aus dem Meer steigen und das Schiff verschlingen.

Am Ende der Entdeckungsfahrten lag das Ende der Welt - Fin del mundo- im südlichsten Teil des amerikanischen Kontinents: in Patagonien - weit weg von Europa, ein blasser Punkt in der Weite der immer weiter werdenden Welt. Aber immer noch hat das Wort "Ende der Welt" einen mittelalterlichen Geschmack auf der Zunge: Hier endet die bekannte Welt, das Vertraute; dort, jenseits das Unbekannte, wo alles möglich ist.

In unserer modernen Welt, in der der ganze Globus vermessen ist, ist die terra incognita verschwunden, gibt es keine weißen Flecken mehr, als deren Entdecker man sich ins Buch der Geschichte eintragen könnte. Das Jenseitige, der Ort, wo alles möglich ist, das sich die Phantasie in bunten Bildern ausmalt, es ist kein geographischer Ort mehr.

Aber geblieben ist das Bild der Grenze, der absoluten Grenze. Grenzen gibt es viele, Staatsgrenzen allemal, aber auch Flüsse und Berge bilden Grenzen. Meistens sieht es "drüben" kaum anders aus, die Sitten mögen ein wenig verschieden sein, doch solange die Menschen diesseits und jenseits der Grenze nicht nationalistisch aufgehetzt sind, wissen sie darum, dass ihre Gemeinsamkeiten zahlreicher sind als ihre Unterschiede: auch da drüben leben Menschen, und selbst wenn deren Kultur sehr fremdartig sein sollte, es ist eine Form der Kultur, wovon die eigene eine andere. Am Fin del mundo erwartet uns dagegen jenseits der Grenze keine andere Kultur, sondern - deren Ausbleiben. Das Ende der Welt ist das Ende der Zivilisation.

Also ist das Ende der Welt an vielen Orten, überall dort, wo menschliche Zivilisation sich ausdünnt und die Wüste beginnt? Aber hinter jeder Wüste ist irgendwo wieder bewohntes Land, hinter dem Ende der Welt jedoch: nichts.

Und wo liegt er nun, dieser magische Ort? Wir alle wissen, dass die Erde eine Kugel ist, dass man also auf jedem Kreis, den man um sie beschreibt, irgendwo auf bewohntes Land stoßen muss. Aber dieses Wissen ist seltsam abstrakt; denn wenn wir am Meer stehen, vor dieser Unendlichkeit des Wassers, sagen uns Anschauung und Gefühl: da hinten ist nichts mehr, und nur unser geographisches Wissen korrigiert unsere Vorstellung, die hier der mittelalterlichen recht nahe ist. Nirgendwo aber erscheint dies Gefühl naheliegender als in Patagonien und Feuerland: hinter dir liegt die endlose Weite der Steppe, so gut wie menschenleer, die Zivilisation dünn gesät, du stehst auf dem südlichsten Fleck der amerikanischen Landmasse, die hier in den sturmgepeitschten antarktischen Ozean ragt, vor dir eine lebensbedrohende Wasserwüste, hinter der keine freundlichen Gestade dich erwarten sondern eine lebensfeindliche Eiswüste, von einem Sturmgürtel umschlossen. Du stehst an einem Punkt der Erde, wo du froh bist, einem bescheidenen Stück Zivilisation zu begegnen , und der nächste Schritt darüber hinaus führt dich in deren vollständige Negation.

Man vermutet diesen Punkt zunächst in Ushuaia, der südlichsten Stadt der Welt. Sie hat 50.000 Einwohner und ist Zentrum des Feuerlandtourismus; hinzu kommt seine Funktion als Ausrüstungsstützpunkt für die zunehmenden Kreuzfahrten in die Antarktis. Als Bruce Chatwin sie besuchte, hatte er noch den Eindruck eines verschlafenen, unfreundlichen Kaffs am Ende der Welt, in dem "man nicht begraben sein möchte"; in der heutigen Geschäftigkeit kann dieser Eindruck nicht mehr aufkommen. Ushuaia ist ein "Muss" für jeden Südamerika-Individualreisenden, sei er per Fahrrad, Motorrad, Wohnmobil, Reisebus unterwegs: da kommt einiges zusammen. Und alle folgen dem Ruf "fin del mundo", der Idee vom Ende der Welt, die Ushuaia so genial als Markenzeichen für sich entwickelt hat, dass am Ende vom Abenteuer einer Reise ans Ende der Zivilisation nichts mehr übrig bleibt.

Auch an den großen Touristenmagneten Patagoniens, den Torres del Paine und am Fitzroymassiv hat man nicht das Gefühl, schon halb außerhalb der Welt zu sein. Aber wie immer ist solch ein Gefühl relativ. Wer von Europa einfliegt und sich dann von der Kleinstadt Puerto Natales im Süden über Schotterpisten aufmacht zu den Torres, für den sieht das grandios modellierte Granitmassiv, wenn es sich wie die Burg vom heiligen Gral aus der patagonischen Ebene erhebt, in all seiner Naturerhabenheit, Entrücktheit in der Weite der Pampa, unschwer aus wie ein Ausrufezeichen am südlichen Ende Amerikas . Wer sich jedoch nach einer tagelangen Reise durch Patagonien von Norden her diesen Granittürmen nähert, der genießt dort die touristische Infrastruktur, liest die in den Wanderhütten zurückgelassenen deutschen Zeitschriften und kommt sich nach der langen Zeit, die er unerreichbar und abgeschnitten von Informationen über das Weltgeschehen verbracht hat, vor wie nach Europa zurückgekehrt.

Wir suchten – und fanden- unser fin del mundo in Feuerland.

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