Читать книгу Der Elfenstein - Manfred Rehor - Страница 5

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Die Wachsoldaten am Eingangstor zur Residenz ließen mich mit einem Nicken passieren. Romeran, der Leibdiener des Fürsten, öffnete die Tür. Er hielt sich trotz seiner fast achtzig Lebensjahre aufrecht und machte einen agilen Eindruck. Allerdings musste er einen Stock benutzen, um nicht umzufallen. Er hatte seinem Herrn schon gedient, als der noch in den Windeln lag. Was zuzugeben er niemals über die Lippen bringen würde; ich wusste es vom Fürsten selbst.

„Ich ahnte, dass Sie erst nach Mitternacht kommen, Herr von Reichenstein“, begrüßte er mich mit dem seltsamen Zittern des ganzen Körpers, das ihn beim Sprechen manchmal überkam. „Wir haben Sie erwartet.“

„Offenbar etwas früher“, sagte ich und ging langsam neben ihm her.

Romeran warf mir einen Blick zu, der amüsierten Tadel ausdrückte. Ich war erleichtert. Da er nicht verärgert wirkte über meine mehrstündige Verspätung, war es der Fürst wahrscheinlich auch nicht.

Wir erreichten die Treppe und er begann, sich Stufe für Stufe nach oben zu hangeln. Mit der Rechten zog er sich am Geländer ein Stück nach vorne, dann platzierte er seinen Stock auf der nächsthöheren Stufe und bewältigte mit einem Ruck die Steigung.

Einmal hatte ich angeboten, ihm zu helfen und den Arm ausgestreckt. Ich wollte verhindern, dass er nach hinten überkippte.

„Sie werden es nicht wagen!“, hatte er mich angeherrscht und für einen Moment hatte ich den Eindruck gehabt, er wolle mit dem Stock nach mir schlagen.

Seitdem ging ich immer Schritt für Schritt neben ihm her und plauderte Belangloses, weil er nicht mehr genug Luft bekam, um trotz der Anstrengung zu sprechen. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, erzählte ich von dem Ärger, den es am Abend mit ein paar Fremden gegeben hatte. Vielleicht machte das Wetter die Leute aggressiv, spekulierte ich; den dichten Dongarther Nebel vertrug nicht jeder.

Als wir oben ankamen, blieb er einen Moment stehen, um zu verschnaufen.

„Fremde aus dem Nordosten?“, fragte er dann. „Aus der Provinz Krayhan?“

„Dem Dialekt nach, ja“, bestätigte ich. „Aber aus den südlichen Tälern, nicht aus der Bergregion.“

„Das wird meinen Herren interessieren“, sagte er und tappte die Galerie entlang auf die Tür zum Seitenflügel zu.

Ich kannte ihn gut genug, um nicht nach dem Warum zu fragen. Es war schon erstaunlich, dass ihm so eine Auskunft herausrutschte.

Die Residenz des Fürsten stand am Hang und war teilweise in den Berg hineingebaut. Deshalb war das erste Stockwerk größer als das Erdgeschoss. Außerdem gab es rechts einen Anbau, der neuer war als das übrige Gebäude. Dieser Flügel war, bis auf ein kurzes Ansatzstück, ganz in die Bergflanke hinein geschlagen worden.

Romeran klopfte an die Tür und öffnete sie, ohne auf Antwort von drinnen zu warten. Mit einer Handbewegung forderte er mich auf, einzutreten. Hinter mir schloss er die Tür wieder. Er selbst blieb draußen. Er mochte den Saal nicht, in dem ich mich nun befand.

Man hätte hier Feste feiern könnten mit Hunderten von Gästen und einem Orchester. Kronleuchter hingen unter der Decke und Öllampen entlang der Wände sorgten zusätzlich für Helligkeit. Es gab nur zwei Fenster, nahe der Tür. Eines wies nach Norden, ich sah in der Ferne die Lichter der Königsburg, die noch höher am Berg stand. Das Fenster nach Süden gab den Blick frei auf die Akademie des Zeuth. Die Magier dort demonstrierten ihr Können und ihre Macht, indem sie das Mauerwerk des ovalen Gebäudes bei Tag und Nacht schwach leuchten ließen. Heute zeigte es ein bleiches Gelb. Welche Bedeutung die verschiedenen Farben hatten, wusste jeder in der Stadt. Rot war ganz schlecht, Himmelblau ausgezeichnet, Gelb ging so. Die Magier waren heute Nacht also nicht gerade gutgelaunt, aber es gab keinen Anlass zur Sorge.

Im Bereich dieser Fenster standen die einzigen gewöhnlichen Möbel im Saal, nämlich Tische, bequeme Sessel und Bücherregale. Der ganze restliche Platz blieb Vitrinen, Podesten und Schränken vorbehalten, abgesehen nur von einigen Stühlen und verschiebbaren Treppchen, die dazu dienten, die oberen Regale der Schränke zu erreichen.

Dort war die Sammlung magischer Artefakte des Fürsten Borran untergebracht, eine der umfangreichsten der Ringlande und folglich der ganzen Welt. Nur das Handelshaus Rozzary rühmte sich, noch mehr Stücke zu besitzen. Ein Anspruch, den Ergan Rozzary durch alljährliche Ausstellungen unterstrich, bei denen er die wertvollsten Gegenstände der Öffentlichkeit zugänglich machte.

Borran war nicht so großzügig. Er behielt seine Schätze für sich, in diesem in das Gestein des Berges Zeuth gehauenen Saal, den nur wenige Menschen betreten durften. Viele der Artefakte hier waren einmalig, manche wertvoll, und das eine oder andere Stück lebensgefährlich.

Der Fürst stand in der Mitte des Saals vor einer geöffneten Vitrine und betrachtete mit Hilfe einer Lupe einen kleinen Gegenstand. Sicherlich hatte er mein Eintreten bemerkt, aber mehrere Minuten lang tat er so, als wäre ich nicht da.

Ich blieb schweigend beim Eingang stehen, bis er schließlich den Kopf hob und mich böse ansah.

„Es ist Stunden her, seit ich Ihnen eine Nachricht geschickt habe!“, knurrte er.

„Es gab Ärger in der Altstadt“, erklärte ich und ging zu ihm. „Ein paar Schläger aus der Provinz Krayhan, die es auf mich abgesehen hatten. Romeran meinte, das könnte Sie interessieren.“

„Warum?“

„Warum sie es auf mich abgesehen hatten? Ich weiß es nicht. Die Stadtwache hat ihren Anführer erschlagen, als er auf sie losging. Morgen werde ich Stadthauptmann Sterrin besuchen. Er überlegt, einen Seher zu beauftragen. Etwas ist faul an dem Vorfall.“

Borran hielt mir den kleinen Gegenstand entgegen, den er untersucht hatte. Ich nahm ihn und sah ihn mir an. Es war ein Stein von einer Farbe wie Bernstein, jedoch nicht durchsichtig. Seine Oberfläche schien bearbeitet zu sein, aber vielleicht war das Muster darauf auch natürlich entstanden. Mangels entsprechender Begabung vermochte ich nicht festzustellen, ob er besondere Kräfte besaß. Übrigens verfügte auch der Fürst über keinerlei magisches Talent, weshalb er zur Beurteilung seiner Sammlerstücke immer auf die Hilfe der Magier angewiesen war. Die Akademie des Zeuth war in Sichtweite, doch Borran wandte sich nur ungern dorthin, wenn er Unterstützung benötigte. In der Akademie hielt man nichts davon, dass Unkundige magische Artefakte horteten.

„Bernstein?“, fragte ich und gab den Stein zurück.

„Das Bruchstück eines Elfensteins. Zu klein, um seine heilenden Kräfte zu entfalten.“

Ich zuckte mit den Schultern, weil mir das nichts sagte. „Wert?“

„Zehn Silbertaler.“

„Immerhin! Das Doppelte von dem, was ein Arbeiter im Monat verdient. Viel für ein Stückchen Stein.“

„Wenig im Vergleich zum Wert eines vollständigen Elfensteins. Ich habe vor vier Wochen fünfzig Dukaten Gold für einen bezahlt.“

Ich pfiff anerkennend. „Und, ist er es wert?“

„Das kann ich erst beurteilen, wenn ich ihn habe.“ Borran starrte mich finster an. „Der Kurier, der ihn zu mir bringen sollte, wurde auf dem Weg nach Dongarth ermordet und ausgeraubt.“

„Lassen Sie mich raten: Der Kurier kam aus der Provinz Krayhan.“

„Richtig. Ein zuverlässiger Mann aus dem Dienst des dortigen Fürsten. Er wusste nicht, was er transportierte. Niemand außer dem Verkäufer und mir wusste das.“

„Sie haben vorab bezahlt und dem Verkäufer vertraut?“ Es stand mir nicht zu, ihn zu kritisieren, aber meine Überraschung konnte ich nicht verleugnen.

„Auf etwas Anderes ließ sich der Mann nicht ein. Die Echtheit des Steins wurde von einem Magier bestätigt. Einem Absolventen der Akademie des Zeuth, der am Hof des Fürsten von Krayhan lebt.“

Ich sah Borran nachdenklich an. Er war der bodenständigste und welterfahrenste Adelige der Ringlande, aber wenn es um seine Sammlung ging, zweifelte ich manchmal an seinem gesunden Menschenverstand.

„Ich stamme aus Krayhan“, sagte ich. „Vielleicht habe ich den Namen des Verkäufers schon einmal gehört. Wie heißt er?“

„Serenhem Bendal. Er wohnt in der Hauptstadt der Provinz.“

„In Kerrk? Ich war seit sieben Jahren nicht mehr dort. Leider kenne ich ihn nicht. Gibt es Auskünfte über ihn?“

„Er handelt mit den Kristallen, die in den Bergen gefunden werden. Quarze für optische Geräte, Halbedelsteine und so weiter. Den Elfenstein bekam er von einem Kunden, der nicht genug Gold für eine Lieferung Achatknollen hatte. Die meiste Zeit hält sich Bendal nicht in Kerrk auf, sondern ist unterwegs, um in den Bergbauregionen Ware anzukaufen.“

Ich ging zum Nordfenster und ließ mich in einen der Sessel dort fallen. „Hört sich nicht gut an“, sagte ich. „Hat so ein Elfenstein irgendeinen Nutzen, abgesehen von seinem Sammlerwert?“

„Er belebt und verjüngt. Schwache Steine unterstützen die Wundheilung, starke vermögen tödliche Krankheiten zu heilen. Außerdem sagt man, sie können einem Mann die Last von Jahrzehnten nehmen.“

„Vermutlich nur vorübergehend“, spottete ich. „Zum Beispiel im Bett mit einer hübschen jungen Frau.“

„Ich habe ihn nicht erworben, um ihn zu benutzen, sondern um ihn zu besitzen!“, blaffte er mich an.

„Etwas Anderes wäre mir nie in den Sinn gekommen“, gab ich zurück. „Aber nun kenne ich außer dem Wert in Gold einen weiteren Grund, der einen Raub erklären könnte.“

Er kam zu mir und setzte sich in den Sessel gegenüber. „Es könnte noch andere Motive dafür geben“, sagte er.

„Zum Beispiel?“

„Ich weiß es nicht. Aber es ist in Dongarth bekannt, dass ich mich manchmal Ihrer Dienste für Erledigungen in der Stadt bediene. Wenn statt des erwarteten Kuriers nun Raufbolde aus Krayhan hier eintreffen und es ausgerechnet auf Sie abgesehen haben ...“

„... dann stinkt das zum Himmel wie der Donnan an einem heißen Sommertag“, vollendete ich seinen Satz. „Wo hat man den Kurier abgefangen?“

„Hundert Meilen stromaufwärts in einem Dorf namens Erenlang. Er war an Bord eines Frachtkahns, der dort angelegt hat, um Ladung aufzunehmen. Als er von einem Landgang nicht zurückkam, hat man nach ihm gesucht. Man fand ihn mit durchgeschnittener Kehle in einem Bachbett außerhalb des Dorfes.“

„Weiß man, was er dort zu suchen hatte?“

„Nein. Aber er trug die Ledertasche bei sich, in der sich der Stein befand. Die Tasche war noch da, der Stein nicht.“

„Ich gehe davon aus, dass er sich auf der Reise unauffällig verhielt. Sonst hätte ihn Fürst Krayhan nicht beschäftigt.“

„So ist es. Es war ein erfahrener Mann, der wusste, wie man wichtige Nachrichten und wertvolle Gegenstände transportiert.“

Ich lehnte mich zurück und dachte nach. Eine Fahrt auf dem Donnan vom Nordosten der Ringlande nach Dongarth gehörte nicht zu den besonders gefährlichen Reiserouten. Flussschiffer unternahmen sie das ganze Jahr hindurch. Räuber gab es dort wie überall, aber die waren auf unbedarfte Reisende oder reiche Beute aus. Unbedarft war der Kurier nicht, also hatte jemand seinem Mörder etwas über den Elfenstein erzählt. Dieser Informant hatte wahrscheinlich den Stein dann auch in Empfang genommen. Denn verkaufen konnte man so ein seltenes Stück vermutlich nicht. Als ich Borran danach fragte, nickte er grimmig.

„Ein naheliegender Verdacht. Es gibt sicherlich Sammler, die gewissenlos genug sind, Hehlerware zu erwerben. Manche von ihnen haben nicht so viel Geld wie ich. Sie hätten den Stein nicht kaufen können. Aber einen Räuber mit ein paar Hundert Talern abzuspeisen, könnten sie sich leisten.“

„Also bleibt nur, den Täter entlang der Reiseroute zu suchen“, sagte ich. „Oder in den nächsten Jahren darauf zu achten, ob sich ein Sammler verplappert und von einem Elfenstein erzählt, den er besitzt.“ Ich stand auf. „Beides fällt nicht in mein Gebiet. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

„Setzen Sie sich!“, blaffte er mich an. „Sie stammen aus Krayhan und Sie kennen die gesamte Wegstrecke bis dort. Lassen Sie sich ein Pferd aus meinem Stall geben und reiten Sie los. Hören Sie sich um, schauen Sie sich dieses Dorf an, fragen Sie in Kerrk nach dem Händler. Irgendeinen Hinweis auf den Räuber oder seinen Auftraggeber werden Sie schon finden.“

Ich sah auf ihn herab, was er nicht leiden konnte. „Ich nehme nur Aufträge in Dongarth an.“ Seine Zornesadern traten deutlich hervor, deshalb fügte ich eilig hinzu: „Ein Bekannter von mir wird aber gerne bereit sein, die Reise auf sich zu nehmen - für einen Beutel voller Silbertaler. Ehemaliger Soldat, kennt sich aus in der Welt, kommt mit Menschen gut zurecht. Ich werde ihn fragen, ob er Zeit hat.“

Borran funkelte mich nur an. Er war ein Fürst, also nicht gewohnt, das Nein eines Mannes zu akzeptieren, den er bezahlte.

Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Die Morgendämmerung glitt herauf. „Dabei fällt mir ein: Ich habe noch eine Verabredung“, sagte ich. „Ich melde mich im Laufe des Tages.“

Er antwortete nicht.

Ein schwacher Wind aus Norden trieb den nächtlichen Nebel davon. Die Luft war kühl und erfrischend. Während ich den breiten Weg hinunter in die Stadt ging, merkte ich, wie müde ich war. Ich würde trotzdem noch Jinna besuchen, sie war manchmal um diese Zeit schon auf. Oder noch nicht im Bett. Ein Gedanke, der lebhafte Erinnerungen in mir hervorrief. Ich ging schneller.

Das Kontor des Handelshauses Oram lag an einem kleinen Platz nahe des West-Tores. Es war bekannt als das Haus der tausend Düfte. Händler aus allen Teilen der Ringlande brachten ihre Waren hierher. Ganze Schubkarren voller frischer Blütenblätter, die aus den Feldern südlich der Stadt stammten, standen manchmal im Hof und wurden begutachtet. War die Qualität gut und der Lieferant mit dem angebotenen Preis einverstanden, so brachten Arbeiter des Handelshauses die Ware in die Nordstadt. Dort hatte Jinnas Vater vor dreißig Jahren eine Manufaktur zur Gewinnung von Pflanzenessenzen errichtet. Ursprünglich war es seine Idee gewesen, heilende Öle zu extrahieren, die als Einreibungen beliebt waren. Aber schnell fand er heraus, dass wohlhabende Bürger ohne zu zögern für ein gut riechendes Parfum das Hundertfache des Preises zahlten, der für eine Einreibung gegen Gelenkschmerzen üblich war. Der Mann erkannte seine Chance, kaufte das Kontorhaus in guter Lage und stieg binnen weniger Jahre zum führenden Hersteller und Händler alles Wohlriechenden in den Ringlanden auf.

Der schnelle Aufstieg zu Wohlstand und Einfluss überforderte jedoch seine kränkliche Konstitution. Vor sechs Jahren fiel er tot um, während er an einem Stehpult die aktuellen Einnahmen und Ausgaben nachrechnete. Jinna war sein einziges Kind, sie erbte den Betrieb. Sofort waren die Aasgeier des Geschäftslebens und kleinere Konkurrenten hinter ihr her. Die einen wollten ihr die Firma für wenig Geld abkaufen, die anderen sie heiraten. Dass eine junge Frau alleine ein so großes Unternehmen leiten konnte, glaubte niemand.

Jinna überraschte alle. Ihr Vater hatte ihr von Jugend an beigebracht, worauf es in seinem Gewerbe ankam. Auch, wie man Verhandlungen führte und die Bücher kontrollierte. Ein Jahr nach dem Tod des alten Oram war sie als neue Inhaberin etabliert und anerkannt.

Damals lernte ich sie kennen. Die Erinnerungen brachten nun mir ihren Duft in die Nase. Der war vielfältiger, als jedes Parfum es sein konnte, weil sie mit so vielen wohlriechenden Substanzen hantierte. Oder war es das Kontor, das ich roch?

Dessen hölzerne Fensterläden waren noch verschlossen. Ich ging zur Hintertür und klopfte. Berthmann, der ewig grummelnde alte Buchhalter, öffnete. Statt einer Begrüßung sagte er nur: „Im Büro.“ So früh am Morgen gestand ich ihm die schlechte Laune zu. Die meisten Menschen in der Stadt schliefen noch, er war bereits bei der Arbeit.

Er schlurfte hinter mir her. Jinna stand an einem Pult und sah in ein dickes Buch. Ihre blonden Haare hatte sie hochgesteckt. Sie trug ein einfaches, hellblaues Kleid, das die Unterarme frei ließ. Ich zog ihren linken Arm zu mir und drückte einen Kuss auf den Handrücken. Unwillig entzog sie mir die Hand.

„Ich bin beschäftigt“, sagte sie.

„Dass du dazu deine Hände brauchst, sehe ich ein. Aber nicht den Mund.“ Ich beugte mich vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Die Lippen traf ich nicht, weil sie sich unwillig wegdrehte. Also legte ich ihr den Arm um die Hüfte und versuchte, sie von dem Stehpult wegzuziehen.

Seufzend gab sie nach und wandte sich zu mir um. „Wie siehst du denn aus?“, fragte sie.

„Wie einer, der diese Nacht nicht geschlafen hat, aber immer noch nüchtern ist.“

„Geh nach oben und wasch dich. Ich lasse ein Frühstück vorbereiten.“

Berthmann sah mich missmutig an, bevor er sich neben Jinna stellte. Vermutlich kontrollierte sie die Abrechnungen, was zu seiner schlechten Laune beitragen mochte.

Ich ging in die Wohnung im ersten Stock. Eine Dienerin erschien und kündigte an, dass sie mir eine Waschschüssel mit warmem Wasser und ein paar Tücher bringen würde. Eine halbe Stunde später war ich sauber und hungrig.

Jinna kam nach oben und sah zu, wie ich das Frühstück verschlang.

„Also unausgeschlafen und nüchtern“, sagte sie. „Was hast du in der Nacht angestellt?“

„Streit mit Fremden und eine Unterhaltung mit Borran“, antwortete ich kauend.

„Und als Abschluss ein Besuch bei mir. Ich fühle mich geehrt.“ Sie zog ein Gesicht, als würde sie schmollen.

Ich steckte den Finger in das Töpfchen mit Honig, das auf dem Tisch stand, und schmierte mir die Lippen ein. Dann zog ich einen Kussmund. „Du bist süß“, sagte ich, „jetzt bin ich es auch. Komm her.“

Sie wich zurück, lachte und forderte: „Erzähl!“

Ich berichtete ihr von Rellmann und seinem Ohr, dem Gespräch mit Sterrin und Fürst Borrans Ärger über den gestohlenen Elfenstein.

„Warum nimmst du den Auftrag des Fürsten nicht an?“, fragte sie. „Es täte dir gut, mal aus Dongarth herauszukommen.“

„Willst du mich loswerden?“

„Vielleicht.“ Sie musterte mich mit einem abwägenden Blick.

Innerlich stöhnte ich auf. Ich hatte einmal den Fehler gemacht, meine lange gehegten Hoffnungen auszusprechen. Es ist unverzeihlich, das als Mann einer Frau gegenüber zu tun. Frauen vergessen nichts. Erst recht nicht so etwas. Aber es war an einem Morgen ganz früh gewesen, nach einer langen gemeinsamen Nacht, und ich dachte ...

Na ja, wahrscheinlich gar nichts. Ich redete nur.

Ich erzählte ihr von meiner Kindheit in Beringa im Norden des Fürstentums Krayhan, von meinen Eltern und von den Erlebnissen auf der langen Reise nach Dongarth. Weniger ausführlich beschreib ich, wie meine Familie beim Fürsten in Ungnade gefallen war und ihr Vermögen verlor. Es war das Werk eines einzelnen Mannes gewesen, Pengar Mapuun, der aus Hass und Gier unser Leben zerstörte. Er war nie angeklagt worden, obwohl es Beweise gegen ihn gab. Er hatte Lügen verbreitete und Urkunden gefälscht, mit denen er Geld von uns forderte. Doch er stand unter mächtigem Schutz, vielleicht sogar unter dem des Fürsten oder einflussreicher Kurrether am Fürstenhof. Die Geschichte schmerzte immer noch und ich verdrängte sie meist lieber, als sie zu offenbaren.

Ohne es zu wollen, war ich mit siebzehn Jahren weit herumgekommen in den Ringlanden, bevor ich die Hauptstadt erreichte. Ich hatte Menschen aus allen Schichten und vielen Regionen kennengelernt. Und ich war zu der bitteren Überzeugung gelangt, dass die Ringlande keine Zukunft hatten. Lethargisch lebten wir von einem Tag zum nächsten, ohne etwas Neues aufzubauen, ohne die Gegenwart zu hinterfragen und nach Besserem zu suchen.

„Wir sind sicher“, hatte Jinna gemurmelt und sich an mich gekuschelt. „Der Berg Zeuth und das Ringgebirge verhindern jeden Krieg in unserem Land. Keine Armee der Welt kann uns erobern.“

„Und die Kurrether?“, wagte ich zu fragen.

„Das sind gebildete Leute, die uns bei der Verwaltung helfen. Ratgeber der Königin-Witwe, von Fürstenhäusern und den Magistraten großer Städte.“

„Sie wollen uns beherrschen, ohne uns zu besiegen“, behauptete ich.

„Keiner von ihnen hat irgendwo die höchste Position. Sie bleiben immer in der zweiten Reihe. Du bildest dir da etwas ein. Und selbst wenn, was könntest du dagegen unternehmen? Das ist Sache des Königshauses und der Fürsten. Wir Bürger haben diejenigen zu akzeptieren, die das Schicksal über uns gesetzt hat.“

Von einer so selbständigen, intelligenten Frau wie Jinna hatten mich diese Worte überrascht. Aber ich gab ihr insofern Recht, als wir nichts dagegen tun konnten, wenn die Kurrether wichtige Stellen in der Hierarchie besetzten.

„Aber wir können ein freieres Leben woanders suchen“, fuhr ich damals unbedacht fort.

„Du findest, wir leben hier in Unfreiheit?“

Ich konnte das nicht einmal bejahen. Aber das bedrängende Gefühl, die Kurrether wären längst die wahren Herren des Landes und drückten uns langsam die Luft zum Atmen ab, war ich seit meiner Reise nicht mehr losgeworden. „Ich glaube, dass man anderswo freier lebt“, sagte ich daher.

„Wo? Im Norden oder im Süden, wo Barbaren und Eingeborene hausen? Im Osten, wo Monster das Kaiserreich überrannt haben? In Askajdar jenseits des Meeres, wo man unsereins nicht an Land kommen lässt?“

„Ich bin davon überzeugt, dass etwas dran ist an den Gerüchten über das Land Ostraia“, rutschte es mir heraus. „Eines Tages werde ich dorthin aufbrechen. Nicht wie die anderen Dummköpfe, die glauben, mit einer Wasserflasche und ein wenig Trockenfleisch die Wüste durchqueren zu können. Sondern ausgerüstet für eine Reise von vielen Wochen. Mit Packeseln für die Vorräte und genügend Gold, um ...“

„Dummkopf“, unterbrach sie mich. „Wie willst du an so viel Gold herankommen? Denk nicht über ein unbekanntes Land nach, das angeblich irgendwo existiert, sondern darüber, wie du hier Geld verdienen und dir eine Existenz aufbauen kannst.“

Seit jenem Sommermorgen vor zwei Jahren, an dem ich ihr meine Tagträume offenbart hatte, erinnerte sie mich immer wieder daran. Mal hänselte sie mich mit der Idee, genug Gold für eine solche Reise ins Ungewisse zusammen zu bekommen. Mal tat sie beleidigt, weil ich vorhätte, sie alleine zurückzulassen.

Um das Thema nicht erneut aufkommen zu lassen, trank ich nun den Thee aus und stand auf. „Zeit zum Schlafen, meine Schöne“, sagte ich.

„Es ist früher Morgen“, antwortete sie schnippisch. „Für Leute wie mich ist jetzt die Zeit zum Arbeiten. Du kannst im Gästezimmer schlafen, falls du dich zu schwach fühlst, den Weg in deine Wohnung auf dich zu nehmen.“

Sie stand ebenfalls auf und wandte sich schwungvoll um, sodass ihr Rock elegant nachwehte, während sie hinausging.

Der Elfenstein

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