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Es war früher Nachmittag, als ich wieder den Weg hochging zur Residenz des Fürsten. Die Sonne schien und nichts erinnerte mehr an die neblige Nacht. Über der Königsburg wehten die Fahnen auf halbmast, wie schon seit zwei Jahren. Sie würden so bleiben, bis Prinz Johah die Nachfolge des verstorbenen Königs übernahm. Der Prinz war erst vier Jahre alt, das dauerte also noch. Bis dahin führte die Königin-Witwe die Geschäfte, unterstützt von den königlichen Verwaltern unter der Leitung von Rat Geshkan. Dieser Geshkan war ein Kurrether und hatte es kurz nach dem Tod des Königs geschafft, eine der einflussreichsten Positionen im Land für sich zu beanspruchen. Aber Jinna hatte recht, wenn sie sagte, die Kurrether besetzten nicht die höchsten Stellen. Rat Geshkan konnte nur beraten, keine Entscheidungen treffen. Das blieb der Königin-Witwe vorbehalten.

Romeran öffnete die Tür nach einer angemessen langen Wartezeit. Er war eben nicht der Schnellste mit seinem Stock.

„Ich möchte mit dem Fürsten noch einmal über den Auftrag sprechen“, sagte ich. „Ein Freund von mir könnte ihn übernehmen, aber dem muss ich genaue Anweisungen geben und eine Anzahlung auf seinen Sold.“

Der alte Diener schüttelte den Kopf und nahm einen kleinen Lederbeutel von einer Ablage. „Sie sollen das selbst regeln. Hier sind dreißig Taler. Wie viel davon Sie dem Söldner bezahlen, bleibt Ihnen überlassen. Kann der Mann schreiben? Fürst Borran wünscht jede Woche eine Nachricht über die Ergebnisse der Suche.“

„Ich kümmere mich darum“, versprach ich. „Sollen die Berichte direkt an ihn geschickt werden oder an mich?“

„Sie sollen das selbst regeln“, wiederholte er und verabschiedete mich.

Auf dem Weg zurück in die Altstadt hatte ich ein ungutes Gefühl. Warum ließ mich Borran von seinem Diener abfertigen? Womöglich hatte ihn meine Ablehnung, persönlich den gestohlenen Stein zu suchen, so vor den Kopf gestoßen, dass ich seine Gunst verloren hatte. Andererseits trug ich dreißig Silbermünzen in der Tasche, über die ich frei verfügen konnte. Das war ein gewichtiger Vertrauensbeweis.

Bevor ich mich auf den Weg machte, um vor der Stadt nach dem Mann zu suchen, den ich im Auftrag des Fürsten nach Krayhan schicken wollte, brachte ich das Geld in Sicherheit.

Meine Wohnung befand sich in einem zweistöckigen Haus, das am nördlichen Rand der Altstadt lag. Die Straßen in dieser Gegend waren eng, die Gemäuer alt und düster. Aber hier kannte jeder jeden, was ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und Sicherheit vermittelte.

Zwanzig der Taler verstaute ich in meinem Versteck für Wertsachen. Es bestand aus einem großen Fach in einem der hölzernen Stützbalken, die unverputzt durch meine Zimmer führten. Dieser eine Balken war nicht echt. Eine verschließbare Öffnung war so perfekt in ihn eingefügt, dass man sie nicht sehen konnte. Wenn man mit der Faust oder einem Messerknauf gegen den Balken schlug, klang er wie massives Holz. Ich wusste, worauf Diebe achteten; schließlich war ich selbst einer gewesen.

Mit den restlichen zehn Silbertalern in der Tasche machte ich mich auf den Weg zum West-Tor. Auf dem Platz davor, innerhalb der Stadtmauern, war man dabei, die Marktstände vom Morgen abzubauen. Hier wurden die Erzeugnisse der Bauern im Umland angeboten, aber auch das, was die Händler mit ihren Wagen aus entfernten Gegenden mitgebracht hatten.

Es war die Zeit der Bettelkinder, die um die unverkäuflichen Reste und das verdorbene Obst rangelten, das die Markthändler wegwarfen. Es hatte während meiner ersten Wochen in der Stadt Tage gegeben, an denen ich mich unter sie mischte, weil ich sonst nirgendwo etwas Essbares fand.

Zum Dieb hatte ich damals noch nicht getaugt. Diese Zeitgenossen waren bereits morgens im dichtesten Gewühl auf dem Markt. Manche hatten sich auf die Geldbörsen von Mägden und Hausfrauen spezialisiert, andere stahlen die Auslagen der Händler. Dabei ging es natürlich nicht um Lebensmittel, sondern um etwas, das man an Hehler weiterverkaufen konnte.

Diesem wenig ehrbaren Beruf des Langfingers war ich später auch nachgegangen. Ich war nie wirklich gut darin gewesen, aber es hatte genügt, um zu überleben. Noch immer erkannte ich jeden aus der illegalen Zunft auf den ersten Blick - und man kannte mich. Niemand würde auf die Idee kommen, sich an meinem Eigentum zu vergreifen. Ich würde es bemerken und ihm die schlimmste Strafe zu fügen, die einen Taschendieb treffen konnte: ihm die Finger brechen.

Durch das West-Tor, das größte der Stadt, gelangte ich hinaus auf den Händlerwasen. Das war ein großer Platz aus festgetrampeltem Lehm, auf dem die Wagen der Händler aus fernen Gegenden standen. Begrenzt wurde der Platz von billigen Tavernen und den Ställen für Pferde und Esel. Zwischen den abgestellten Wagen standen Zelte, in denen die Wagenlenker hausten, während ihr Handelsherr in der Stadt Geschäfte tätigte. Die Herren selber nutzten, je nach Füllstand ihres Geldsäckels, die umgebenden Tavernen oder die besseren Gasthäuser der Stadt als Unterkunft.

Nachts brannten hier riesige Lagerfeuer, um die herum bis in den Morgen hinein gefeiert und getrunken wurde. Der Aufenthalt auf dem Händlerwasen vor Dongarth war ein Höhepunkt im Leben der Helfer und Wagenlenker, die sonst von Stadt zu Städtchen zu Dorf fuhren. Aber im Moment war nicht viel los. Die meisten schliefen noch ihren Rausch aus. Wer am folgenden Tag weiterfahren musste, war jetzt am frühen Nachmittag schon dabei, die Wagen reisefertig zu machen. Alles wurde auf Haltbarkeit geprüft: Räder, Achsen, Zügel und so weiter. Man lud die Waren zum Weitertransport auf und band sie fest. Vereinzelt sah ich Handelsherren, die noch ein letztes Geschäft zu machen versuchten, damit sie bisher Unverkäufliches nicht wieder mitnehmen mussten.

Und zwischen all diesen Wagen und Leuten waren Söldner unterwegs, einzeln oder in Gruppen. Jedem, der zuhören wollte, schilderten sie die Gefahren langer Fahrten in den düstersten Farben und boten ihre Dienste an. Manche waren schlecht gekleidet und unrasiert. Sie versuchten einfach, aus Dongarth wegzukommen, und verlangten wenige Heller pro Tag. Andere trugen hochwertige Lederrüstungen und hatten glänzende Schwerter am Gürtel oder einen großen Bogen auf dem Rücken. Einer besaß sogar eine Armbrust, eine seltene Waffe, weil sie unhandlich und störanfällig war.

Den Mann, den ich suchte, sah nicht zwischen ihnen. Aber ich war mir sicher, dass er in der Nähe sein musste. Erst vor wenigen Tagen hatte er mir erzählt, dass er sich vor Ende des Monats einen lukrativen Auftrag suchen würde, der ihn für eine Weile aus der Hauptstadt wegbrachte. Er war wieder einmal der Frau eines Anderen zu nahe gekommen.

Zwei der Tavernen am Nordrand des Händlerwasens galten als Treffpunkte der alten Haudegen und der jungen Abenteurer, die ihr Auskommen mit ihrer Waffe zu verdienen versuchten: Zum Starken Arm und Zum Hahnenschrei. Im StarkenArm war nicht viel los, aber im Hahnenschrei saßen an mehreren Tischen Söldner beieinander. Sie spielten Karten oder würfelten. Keiner war betrunken, denn das hätte die Chance deutlich gesenkt, später am Tag noch einen Dienstherren zu finden.

Jonner sah mich hereinkommen. Er nickte mir zu, spielte aber weiter. Heftig knallte er den Würfelbecher auf den Tisch und sah sich dann das Ergebnis an. 5er-Pasch! Er rieb sich die Hände und gab Becher und Würfel an seinen Nachbarn weiter.

Ich sah mich um und entdeckte einige vertraute Gesichter. Aber die meisten der Männer kannte ich nicht. Auch zwei Frauen waren da, seltene Gestalten in diesem martialischen Gewerbe.

Da sich Jonner in den folgenden Minuten so benahm, als wäre ich nicht da, griff ich zu einem drastischen Mittel. Ich zog den Lederbeutel heraus und schüttelte ihn, sodass die zehn Silbertaler darin gegeneinander klirrten.

Sofort hatte ich die Aufmerksamkeit der gesamten Taverne, einschließlich des Wirts und der Schankmädchen.

„Wenn du zu beschäftigt bist, suche ich nach einem Anderen“, sagte ich zu Jonner.

Wortlos warf er ein paar Heller auf den Tisch, stand auf und ging mit mir hinaus.

„Wie viel ist das?“, fragte er vor der Taverne.

„Zehn Taler. Anzahlung für einen Auftrag, den du alleine ausführen sollst. Du bekommst weitere zehn, sobald du zurück bist. Und noch einmal zehn, wenn du Erfolg hast.“

„Dreißig für wie viele Tage Arbeit?“

„Kommt drauf an. Du musst nach Kerrk in der Provinz Krayhan. Unterwegs sollst du jemanden suchen.“

„Wen?“

Wir gingen am Rand des Händlerwasens entlang zurück zum Stadttor.

„Ein Kurier wurde überfallen und getötet. Man hat seine Leiche im Dorf Erenlang gefunden, das liegt am Donnan zwischen hier und Kerrk. Dein Auftrag lautet, herauszufinden, wer ihn umgebracht hat. Und du sollst das, was er bei sich hatte, wiederbeschaffen.“

„Er hatte also etwas Wertvolles bei sich. Für wen?“

„Das braucht dich nicht zu interessieren.“

„Also Fürst Borran“, folgerte er.

„Habe ich nicht gesagt. Hör mir weiter zu: Es kann sein, dass er von jemandem aus dem Dorf ermordet und ausgeraubt wurde. Aber ich glaube eher, man hat ihn verfolgt und dort eine günstige Gelegenheit gefunden, ihn umzubringen.“

„Er kam aus Kerrk?“

„Richtig. Du hast gut aufgepasst, brav so!“ Jonner brauchte immer mal wieder einen Dämpfer, weil er im Innersten davon überzeugt war, der Beste zu sein. Im Kämpfen, im Aushorchen, in allem. Besser sogar als ich, was natürlich Unsinn war.

„Wenn der Täter nicht aus dem Dorf stammt, dann also aus Kerrk“, fuhr er ungerührt fort. Er musste wirklich dringend einen Auftrag brauchen, um gegen meinen respektlosen Ton nicht aufzubegehren.

„Jedenfalls ist das ein guter Ausgangspunkt. Kann natürlich auch sein, dass er aus Dongarth kam und dem Kurier aufgelauert hat.“

„Das bedeutet, ich muss Leute finden, die etwas gesehen haben. Das kostet Geld. Ist das in den dreißig enthalten?“

„Erst einmal ja. Sollten große Ausgaben nötig sein, schreib mir eine Begründung in den Bericht, ich schicke dir dann jemanden mit Geld hinterher.“

„Welchen Bericht?“ Er blieb stehen und sah mich stirnrunzelnd an.

„Einmal in der Woche will ich einen Brief von dir haben. Wenn ich den nicht bekomme, gehe ich davon aus, dass du verlorengegangen bist, und behalte die Prämie für mich.“

„Ha, ha“, machte er. „Wie steht es mit einem Pferd?“

„Was willst du mit einem Pferd auf einem Frachtkahn?“ Ich tat verwundert.

„Auf einem Schiff stromaufwärts treideln?“, rief er. „Das dauert ja ewig!“

„Nein, tut es nicht. Frag die Matrosen.“

„Depp!“

„Also, nimmst du an?“

„Natürlich. Ich hole nur meinen Kram aus der Herberge, dann suche ich mir ein Schiff, das mich nach Nordosten bringt.“

„Das ist die richtige Einstellung. Ich komme mit und erzähle dir unterwegs noch ein paar Einzelheiten.“

Wir gingen durch das Tor in die Stadt hinein. Jonner mied den Marktplatz und entschied sich für den Weg entlang der Stadtmauer, wo nicht viele Menschen waren. So gelangten wir, nachdem wir die Donnan-Brücke überquert hatten, in die Nordstadt.

Seine Herberge war ein heruntergekommenes, dreistöckiges Haus, das in der Nähe des Nord-Tors direkt an die Mauer gebaut war. Eine billige Absteige in einem schmutzigen Viertel. Jonner brauchte entweder dringend Geld oder er versteckte sich hier.

Als wir auf den Eingang zugingen, wurde offensichtlich, dass Letzteres zutraf. Zwei Dutzend Schritte weiter sah ich einen offenen Ausschank. An einem der Stehtische warteten drei kräftige Kerle. Kaum hatten sie uns entdeckt, kamen sie auf uns zu.

„Ich bin ja ganz froh, dass du bei mir bist“, sagte Jonner leise zu mir. „Der rechts heißt Cen Berte, er ist verdammt gut mit dem Kurzschwert. Die anderen beiden kenne ich nicht.“

„Aber ich“, gab ich zurück.

Cen und seine beiden Kumpane bauten sich vor uns auf. „Jonner, du bist ein Feigling“, sagte er und wandte sich dann mir zu. „Halt dich da raus, Aron. Der Hurenbock hat sich an einer Dame vergriffen und verdient eine Abreibung. Wir werden ihm ein paar gebrochene Knochen verpassen und vielleicht ein Auge ausschlagen. Mehr nicht.“

„Hört sich an, als würde ihm das mal ganz gut tun“, entgegnete ich. Ich zog mit einer beiläufigen Bewegung meinen Umhang zurecht, damit der Griff des Degens sichtbar wurde. „Aber ich habe ihn angeheuert, ich brauche einen Laufburschen. Mit gebrochenen Knochen kann ich ihn nicht losschicken.“

„Du wirst einen Besseren als ihn finden.“

Cens Begleiter sahen sich um, ob jemand von der Stadtwache oder andere unerwünschte Zeugen in der Nähe waren. Jeder in der Straße hatte bemerkt, dass Ärger bevorstand, und tat so, als wäre unsere Gruppe gar nicht da. Die Bahn war frei für eine kräftige Abreibung. Wäre ich nicht gewesen.

Cen kannte mich. Obwohl sein Verstand langsam arbeitete, hatte er sich inzwischen ausgerechnet, dass er mit seinen beiden Kumpanen gegen Jonner und mich nicht ankam. Aber wenn er seinen Ruf und damit seine Einkommensquelle nicht verlieren wollte, durfte er seinem Auftraggeber nicht sagen, dass er gekniffen hatte. Eine verzwickte Situation für ihn.

Ich wartete, während er unruhig die Schultern hin und her bewegte. Dann bot ich ihm eine Lösung für sein Problem an. „Jonner wird die Stadt noch heute verlassen und erst in Monaten zurückkehren. Jeder wird dir glauben, wenn du behauptest, er habe vor dir Reißaus genommen.“

Cen spukte auf den Boden. Aber nicht in meine Richtung, das hätte ich falsch verstehen können. „So etwas spricht sich herum“, begann er. Zwei kaum merkliche Kopfbewegungen deuteten auf die beiden Männer an seiner Seite.

„Das ist doch gut für dich“, beharrte ich. „Kaum hört ein Kerl, dass man dich auf ihn angesetzt hat, haut er ab. Einen besseren Ruf kannst du dir nicht wünschen.“

„Trotzdem ...“

Also zog ich den Lederbeutel heraus, entnahm ihm eine Münze und hielt sie Cen entgegen, aber so, dass keiner sehen konnte, was ich ihm gab. Er nahm sie, schloss die Faust um sie und wollte sie wegstecken. Aber dann öffnete die Faust kurz, um sich zu vergewissern, ob es wirklich das war, was er zu spüren glaubte. Langsam nickte er.

„Wenn Jonner in einer Stunde noch innerhalb der Stadtmauern ist ...“, begann er.

„Ist er nicht“, versicherte ich ihm.

Er wandte sich um und kehrte zurück zum Ausschank. Seine beiden Kumpane folgten ihm unwillig. Sie wollten etwas von dem Geldsegen abhaben, auch wenn sie noch nicht wussten, wie viel ich Cen gegeben hatte.

„Bist du verrückt?“, zischte Jonner mich an. „Das ist mein Sold, den du da verschleuderst.“

„Und ich dachte, du bist mir jetzt dankbar, dass ich ihm nicht den ganzen Beutel gegeben habe“, sagte ich und deutete auf die Herberge. „Hol dein Zeug, dann verschwinden wir.“

„Gib mir den Rest von meinem Sold“, sagte er und hielt die Hand auf.

„Befürchtest du, dass ich auch den nächsten Schlägertrupp besteche, der auf dich angesetzt ist?“

Genervt verdreht er die Augen. „Ich muss mein Zimmer bezahlen.“

Also gab ich ihm die neun Silberlinge.

Einer der beiden Häfen von Dongarth lag draußen am Nordufer des Donnan. Er war die Endstation für alle Waren, die den Strom herab kamen. Kein Lastkahn konnte in die Stadt hineinfahren. Die Stadtmauer führte über den Strom hinweg, gestützt auf mächtige steinerne Pfeiler, die so eng beieinander standen, dass kaum ein Ruderboot hindurch passte. Eiserne Querstreben knapp oberhalb der Wasseroberfläche machten sogar das schwierig.

Alle Kähne mussten hier abgeladen werden. Vieles von dem, was sie brachten, war für Dongarth bestimmt oder wurde sowieso für andere Ziele auf Wagen umgeladen. Aber manches sollte auch an die Küste nach Kethal. Das wurde auf dem Landweg um die Hauptstadt herum transportiert, bevor man es westlich von ihr wieder auf Schiffe verladen konnte.

Verständlich, dass die Händler und Flussschiffer aus den Regionen stromaufwärts immer wieder forderten, die altertümlichen Befestigungen abzureißen, damit sie die Stadt durchfahren konnten. Ebenso hartnäckig betonten ihre Kollegen vom Unterlauf, wie sinnvoll das Verfahren war - sie würden ihre Existenz verlieren, sollte der Stadtherr dem Ansinnen nachgeben.

Der weigerte sich jedoch, weil ihm die hier ansässigen Handelsherren keine andere Wahl ließen. Denn das umständliche Verfahren stellte sicher, dass sie jede Ware, die auf dem Strom transportiert wurde, sehen konnten. Alles musste von den Schiffen abgeladen werden, nichts entging ihren gierigen Blicken. Drei Tage, so verlangte es dieses Stapelrecht, wurden die Güter hier zum Verkauf angeboten. Dann erst durfte man sie weitertransportieren. Dongarth verdankte seinen Reichtum - den Reichtum seiner Handelsherren - diesem uralten Gesetz.

Während ich mit Jonner die Reihe der Lastkähne entlang ging, fiel mir eine seltsam gedämpfte Stimmung unter den Matrosen auf. Normalerweise waren das hart arbeitende, aber gutgelaunte Männer. Es war Jonner, der den Grund dafür zuerst sah. Er griff mich am Arm und zog mich hinter das hölzerne Gestell eines Ladekrans.

„Kurrether“, sagte er und deutete nach vorne.

Nun sah ich sie auch. Drei der großen Gestalten waren auf einem der Frachtkähne, etwa zweihundert Schritte entfernt von uns. Sie diskutierten mit dem Kapitän. Wie alle aus ihrem Volk trugen sie dunkle Lederkleidung und vergoldete Schwerter an den Gürteln.

Als sie den Kahn verließen, kam aus dem Schatten eines Lagerhauses ein Trupp königlicher Soldaten. Sie führten drei Reitpferde mit sich, die den Kurrethern gehörten. Das war offenkundig, weil es sich erkennbar um edle, teure Tiere handelte, ausgestattet mit bestem Sattelzeug, an dem natürlich alle Metallteile aus Gold oder vergoldet waren.

Mit dieser Gefolgschaft bewegten sich die Kurrether weiter zum nächsten Schiff. Nach einem kurzen Wortwechsel mit der Besatzung gingen sie jedoch nicht an Bord, sondern setzten ihren Weg fort.

Ich winkte einen Matrosen heran, der von dort kam. „Was wollen die hier?“, fragte ich.

Er wusste, wen ich meinte. „Sie fragen nach einem Frachtkahn, der heute noch leer nach Kerrk aufbricht“, sagte er.

„Warum leer?“

„Leere Kähne kann man schneller gegen den Strom ziehen“, erklärte er.

„Wollen sie als Passagiere mitfahren?“, fragte Jonner.

„Keine Ahnung!“, behauptete der Matrose und ging weiter.

„Zufall?“, wollte Jonner von mir wissen.

„Finde es heraus“, entgegnete ich. „Sobald sie sich für einen Kahn entschieden haben, fragst du den Kapitän, ob er dich mitnimmt. Zumindest bis in dieses Dorf, Erenlang. Dann kannst du dich unterwegs mit den Kurrethern anfreunden und sie aushorchen.“

Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

Wir fanden ein kleines Schiff mit dem Namen Graumöwe, das Stoffballen in die Provinz Krayhan bringen sollte. Es würde allerdings nicht bis Kerrk fahren. Jonner handelte einen Fahrpreis aus und zog dann los, um sich mit Proviant zu versorgen. Die Stationen, an denen unterwegs die Pferde gewechselt wurden und man an Land gehen konnte, waren nicht immer in der Nähe von Dörfern. Deshalb führte jeder vorausschauende Reisende Vorräte für ein paar Tage bei sich.

Ich hatte nicht vor, bis zur Abfahrt bei ihm zu bleiben, und ging im Hafen umher. Dabei behielt ich die Kurrether im Auge. Jeder von ihnen war größer als die Menschen um sie herum, und auch muskulöser. Wie immer wirkten sie beeindruckend und gefährlich, ohne konkret irgendetwas Bedrohliches zu tun. Sie entschieden sich für einen Kahn mit einem Aufbau für Viehtransporte, vermutlich weil sie dort ihre edlen Pferde unterbringen konnten.

Nachdem sie mit dem Kapitän handelseinig geworden waren, machten sie sich auf den Weg zurück zur Stadt, gefolgt von dem Trupp Soldaten. Ich ging in eine Gasse zwischen zwei Lagerhäusern, um sie mir von weitem beim Vorbeikommen anzusehen. Als sie den Eingang zu dieser Gasse passierten, drehten alle drei ihre Köpfe zu mir. Sie starrten mich nicht an, nahmen aber meine Anwesenheit zur Kenntnis. Dann gingen sie weiter, als sei nichts Ungewöhnliches an mir festzustellen.

Ich wartete, bis ich sicher war, dass sie durch das Nord-Tor nach Dongarth hineingegangen waren. Dann erst kehrte auch ich in die Stadt zurück. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, die Aufmerksamkeit von Kurrethern auf mich gezogen zu haben. Es mochte Zufall gewesen sein. Vermutlich hatten sie mich nur angesehen, weil ihnen verdächtig schien, wie ich ihnen aus dem Weg ging. Aber viele gingen ihnen aus dem Weg, also was war an mir Besonderes?

Da ich sonst nichts zu tun hatte, beschloss ich, Jinna besuchen. Vielleicht war sie nun geneigter und es ergab sich ein gemütlicher Abend zu zweit. Deshalb durchquerte ich die Nordstadt und ging zu dem kleinen Platz nahe des West-Tores, wo das Handelshaus Oram stand.

Der direkte Weg führte durch einige Abkürzungen, die ich gut kannte. Das machte mich unaufmerksam. Erst, als mehrere Kerle von hinten auf wenige Schritte an mich herangekommen waren, spürte ich ihre Anwesenheit und reagierte. Wenn man nicht weiß, wer einem folgt, hat man zwei Möglichkeiten: Schnell weitergehen in eine belebte Straße oder sich eine Rückendeckung suchen, zum Beispiel einen verschlossenen Hauseingang, um sich dem Gegner zu stellen. Ich wählte die zweite Möglichkeit, denn sie waren mir schon zu nahe. Ich hätte rennen müssen, um ihnen zu entkommen, und das erachtete ich für unter meiner Würde.

Also machte ich unerwartet einen weiten Schritt nach rechts, stellte mich mit dem Rücken zur Hauswand und legte die Hand an den Griff des Degens.

Sie waren zu zweit und blieben stehen. Damit hatten sie nicht gerechnet. Für einen Moment musterten sie mich und schätzten ihre Chancen ein. Wenn sie schlau waren, wussten sie, dass sie verlieren würden. Beide waren grob gebaut, soll heißen, muskulös aber nicht beweglich. Sie hatten zwar Dolche an den Gürteln, schienen mir eher Typen, die lieber zuschlugen, als mit Waffen kämpften.

Während wir uns schweigend belauerten, kamen weitere Männer die Straße entlang. Schnell, kaum hörbar und mit Schwertern bewaffnet. Für einen Sekundenbruchteil dachte ich, die beiden bekommen Verstärkung. Aber dann erkannte ich die Angehörigen der Stadtwache. Ich befand mich am südlichen Rand der Altstadt, das waren also Peer Sterrins Leute. Ließ er mich beschatten?

Während ich noch überlegte, hatte man die Schläger eingekreist und an den Händen gefesselt. Das Ganze ging ohne jeden Lärm vor sich. Die Beiden waren so überrascht, dass sie an Gegenwehr nicht dachten.

Der Anführer des Trupps der Stadtwache grüßte mich lässig, zwinkerte mir zu und folgte seinen Leuten.

„Besser aufpassen!“, forderte eine Stimme neben mir.

Peer Sterrin hatte es wieder geschafft, an mich heranzukommen, ohne dass ich es bemerkte. Ich nahm mir vor, mein Verhalten im Alltag gründlich zu überdenken. In Dongarth konnte Nachlässigkeit mit dem Tode bestraft werden.

Fragend sah ich ihn an.

„Das waren Freunde von den Kerlen, die für Rellmann arbeiteten. Wir haben heute Morgen aus den beiden einige Namen herausbekommen. Seitdem beobachten wir die hier. Lungerten die meiste Zeit in dieser Gegend herum, als warteten sie auf jemanden. Kaum tauchten Sie auf, setzten sie sich in Bewegung.“

„Danke für die prompte Unterstützung, aber ich wäre alleine mit ihnen fertig geworden. Warum waren sie hinter mir her?“

„Noch weiß ich das nicht. Wir werden sie zum Reden zwingen. Aber wenn sie so wenig wissen wie die zwei, die wir schon im Kerker haben, dann bringt uns das nicht weiter. Denken Sie einmal gründlich nach: Sollten Sie sich womöglich Feinde gemacht haben?“

Ich grinste über seinen ironischen Tonfall. „Solange ich mehr Freunde als Feinde habe, bereitet mir das keine Sorgen“, sagte ich. „Wir müssen mal in Ruhe mit einander reden, ich lade Sie zu einem Bier ein. Aber nicht heute, ich habe noch etwas vor.“

„Das dachte ich mir. Man riecht den Duft des Handelshauses Oram bis hierher.“

Er grinste und ich beschloss, mir die Zeit anders zu vertreiben.

Der Elfenstein

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