Читать книгу Der Elfenstein - Manfred Rehor - Страница 7
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Das Zum Greiff war keine Taverne und kein Ausschank, sondern ein Wirtshaus. Darauf legte der Wirt, der alte Sebald, wert. Das Fachwerkhaus stand nahe einer der Brücken über die Reena, einem sauberen, schmalen Fluss. Der stinkende Donnan-Strom war weit weg. Die Gäste des Wirtshauses kamen aus vielen Gesellschaftsschichten, denn es war gut zu erreichen. Der Marktplatz, die Stadtmitte, das vornehme Bergviertel und das Fremdenviertel lagen etwa gleichweit entfernt. Die Preise hielten sich in der Mitte: Hungerleider konnten sich hier keinen Humpen Bier leisten, den Reichen andererseits war der Greiff nicht vornehm genug. So war man in gewisser Weise unter sich, zwischen vernünftigen Leuten, die auf die eine oder andere Art anständig ihren Lebensunterhalt verdienten.
Serron hatte mich vor drei Jahren hierher mitgenommen zu der Kartenrunde, die sich mehrmals in der Woche in einem Hinterzimmer traf. Damals wurde ich mit diesen Kreis von Männern und Frauen bekannt, die aus den verschiedensten Schichten des Bürgertums stammten. Insgesamt gehörten etwa zwanzig Personen dazu, von denen ich ein Dutzend gut genug kannte, um sie Freunde zu nennen.
Was diese lockere Gruppe zusammenhielt, war nicht nur die Leidenschaft für das Kartenspiel und das gute Essen im Greiff. Es war gegenseitiges Vertrauen darauf, dass man sich auf einander verlassen konnte. Man half sich, ohne unbedingt sofort eine Gegenleistung zu erwarten. Man plauderte nicht aus, was am Spieltisch besprochen wurde. Wer von einer guten Gelegenheit zum Geldverdienen erfuhr, die er selbst nicht nutzen konnte, gab jemandem aus dem Kreis einen Hinweis.
An diesem Abend waren nur zwei der drei Tische in dem Hinterzimmer besetzt. Vier Männer spielten bereits und nahmen mich nur durch einen kurzen Blick oder ein Kopfnicken zur Kenntnis. Am zweiten Tisch wurde ich erwartet.
Martie, Gendra und Serron hatten schon gegessen, die leeren Teller standen noch vor ihnen. Kaum saß ich, kam die Schankmagd herein, um das Geschirr wegzuräumen. Ich bestellte Bier und gähnte meine Freunde an.
„Ich sehe, du hast einen harten Tag hinter dir“, kommentierte Martie.
Gendra lächelte verstehend. Sie vertraute auf ihre weibliche Intuition, wenn es um Männer ging, was sie bei jeder Gelegenheit betonten. Erstaunlicherweise hatte sie oft recht mit dem, was sie vermutete. „Lass mich raten“, sagte sie. „Die vergangene Nacht hast du bei Jinna verbracht. Dann bis mittags geschlafen. Die letzten Stunden bist du durch die Stadt gestreunt auf der Suche nach Ärger, und das macht müde.“
„Wie kommst du darauf, dass ich Ärger suche?“, wollte ich wissen, ohne ihre Vermutung richtigzustellen.
„Man hört so dies und das. Mal ist es ein Kampf mit dem Degen, mal ein Toter, mal beinahe eine Schlägerei in der Altstadt.“
„Die Stadtwache verlangt mehr Personal, weil sie immer ein paar Leute abstellen muss, um auf dich aufzupassen“, behauptete Martie und lachte rau. Da er mit Peer Sterrin befreundet war, dem Hauptmann der Stadtwache in der Altstadt, wusste er vermutlich bereits von meiner Begegnung mit Rellmann. Dass Serron Barth etwas darüber ausgeplaudert hatte, war unwahrscheinlich. Serron war die Diskretion in Person.
„Eine Ehrengarde ist ja auch das wenigste, was einem Mann wie mir zusteht“, behauptete ich von oben herab. Ich griff nach dem Kartenstapel, der in der Mitte des Tisches lag, und begann zu mischen.
„Dann werden wir wohl bald Euer Hochwohlgeboren zu dir sagen müssen“, frotzelte Martie. „Womit hast du denn diese Ehre verdient?“
„Wichtige Persönlichkeiten der Stadt verlassen sich auf mich“, antwortete ich, indem ich auf seinen Tonfall einging. „Bald wird man feststellen, dass es ohne mich nicht geht.“
„Fürst Borran hat dir den Auftrag gegeben, Jonner nach Kerrk zu schicken“, sagte Serron auf seine ruhige Art. Im Gegensatz zu mir, Gendra und Martie hatte er sich ein Glas Wein bestellt. Vielleicht passte dessen Geschmack besser zu dem Essen, das er gerade verdrückt hatte. Es war ein Fischgericht gewesen, ich hatte noch die Gräten auf dem Teller gesehen. Die Fische aus der Reena waren eine Delikatesse, während diejenigen aus dem Donnan ungenießbar waren - wenn man überhaupt welche fing.
„Das hat sich aber schnell herumgesprochen“, sagte ich und teilte die Karten aus. „Weiß schon die ganze Stadt davon?“
„Natürlich. Wenn du in einer der Tavernen am Händlerwasen mit einem Beutel Silbertaler klimperst, verbreitet sich die Nachricht schneller, als ein Pferd galoppieren kann.“
Das war mir hinterher auch durch den Kopf geschossen, aber da war es zu spät gewesen. „Was erzählt man sich denn sonst noch?“, fragte ich.
„Jemand ist hinter dir her“, antwortete Gendra. „Leute, die nicht von hier sind, sondern aus der Provinz Krayhan. Vielleicht glauben sie, du besitzt noch mehr von den Beuteln voller Geld. Aber da Jonner dorthin reist, könnte es auch mit dem Auftrag des Fürsten zu tun haben.“
„Unwahrscheinlich“, sagte ich. „Niemand in der Stadt weiß, warum Borran mich an dem Abend zu sich gerufen hat. Außerdem bringt es nichts, mich aus dem Weg zu räumen. Der Fürst kann jederzeit einen Anderen mit dem beauftragen, was zu tun ist.“
„Und was ist das?“
„Eine private Angelegenheit“, sagte ich ausweichend und machte einen Stich. „Achte besser darauf, welche Karten du spielst, Martie.“
„Warum hast du ausgerechnet Jonner geschickt?“, wollte Serron wissen, nachdem wir ein paar Minuten schweigend gespielt hatten.
„Er kann sich durchsetzen, er plaudert nichts aus und er braucht Geld“, sagte ich. „Außerdem wollte er dringend Dongarth verlassen. Da hat alles gepasst.“
„Für einen wichtigen Auftrag hätte ich ihn nicht ausgewählt“, entgegnete Serron. „Er ist zu sehr von sich überzeugt. Jede hübsche junge Frau kann ihm so den Kopf verdrehen, dass er alles andere vergisst und Dummheiten macht.“
„Die Dörfer im Nordosten sind nicht für die Schönheit ihrer Mädchen bekannt“, behauptete ich.
„Gut, ich korrigiere“, sagte Serron. „Jede Frau kann das.“ Er warf eine Karte auf den Tisch und strich den Stich ein.
Wir nickten wissend und spielten eine Weile, ohne über wichtige Themen zu reden. Dann kam das Gespräch auf andere Gerüchte, die derzeit in der Stadt umliefen.
„Es soll ein Fremder im Land sein“, sagte Martie unvermittelt. Er hatte eine besondere Betonung in seiner Stimme, die uns aufmerken ließ.
„In welchem Land?“, fragte Gendra.
„In den Ringlanden.“
Wir sahen Martie mit erhobenen Augenbrauen an und er bequemte sich, mehr zu erzählen.
„Man sagt, er sei im Osten oder Südosten zum ersten Mal gesehen worden. Ziemlich nahe am Gebirge. Ein Eisenwarenhändler hat ihn am Straßenrand aufgelesen und für ein paar Heller ein Stück weit mitgenommen bis in die nächste Stadt. Das soll vor zwei oder drei Monaten gewesen sein.“
„Woran konnte der Händler erkennen, dass es jemand von außerhalb der Ringlande war?“, wollte Gendra wissen.
„Der Fremde hat mit Münzen bezahlt, wie der Händler sie noch nie gesehen hat. Das ist zumindest das Glaubhafteste, was berichtet wird.“
„Wieso das?“, wollte ich wissen.
„Du kennst doch die Leute. In den Gerüchten ist der Fremde größer als ein Kurrether, trägt ein magisches Schwert bei sich und hat Ringe an den Fingern mit Edelsteinen so dick wie Hühnereier.“
Wir lachten.
„Das mit dem Geld scheint aber zu stimmen. Eine seltsame Silbermünze soll in Dongarth aufgetaucht sein. Wer sie in Händen gehabt hat, ist nicht herauszubekommen. Angeblich ist die Münze kleiner als bei uns üblich, präziser geprägt und mit unleserlicher Schrift versehen.“
„Ist ein Bild darauf?“
„Ein Vogel von einer Art, wie es sie in den Ringlanden nicht gibt.“ Martie trank seinen Krug leer und stierte die Karten in seiner Hand an, bevor er fortfuhr. „Hier in der Gegend traf das Gerücht vor zwei Tagen ein. Derzeit macht es draußen auf dem Händlerwasen die Runde. Ihr habt offenbar nichts davon gehört?“
Wir verneinten alle.
„Also ist es noch nicht in die Stadt gelangt. Aber das wird bald der Fall sein.“
„Wie soll er denn aussehen, der Fremde?“, fragte Gendra.
„Groß, strahlend, dem Benehmen nach ein vornehmer Herr. Aber wie gesagt, davon glaube ich erst einmal nichts davon.“
„Wenn er wirklich von außerhalb kommt, und das nicht auf dem Seeweg, sondern von Osten ...“, begann ich.
„Ja, ja, wir wissen schon“, unterbrach mich Martie. „Ostraia, dein ferner Traum vom guten Leben. Vielleicht ist er tatsächlich von dort, aber dann wäre er der erste lebende Mensch, der es bis in die Ringlande geschafft hat.“
„Sonst gibt es aber im Osten nichts!“
„Du vergisst das alte Kaiserreich und die Wüste südlich davon.“
„Das Kaiserreich existiert nicht mehr, dort hausen monströse Wesen, die jeden Menschen sofort töten. Und die Wüste ist nicht bewohnt. Da bleibt nur Ostraia.“
„Nicht so voreilig“, mischte sich Serron ein. „Es gibt zwar einige Berichte über die Regionen des Kaiserreiches, die nahe unserem Ringgebirge liegen. Aber das Reich war riesig. Es ist unwahrscheinlich, dass es ganz untergegangen ist. Vielleicht hat der Kaiser nur ein paar Provinzen aufgeben. Und was die Wüste angeht, so wissen wir so gut wie nichts über sie.“
„Außer, dass niemand, der sie erforschen oder durchqueren wollte, jemals zurückgekehrt ist“, warf Gendra ein.
Die isolierte Lage der Ringlande war ein Thema, das wir in unserer Runde immer wieder diskutierten. Kontakt mit Menschen von außerhalb gab es nur im Norden, wo die kriegerischen, aber rückständigen Kaltlandkrieger immer wieder versuchten, uns zu überfallen. Sie würden wohl nie lernen, dass der magische Schutz des Berges Zeuth und des Ringgebirges uns vor militärischen Niederlagen schützte. Außerdem ließen sie ihre Wut manchmal an unseren Handelsschiffen aus, die aber schneller waren als ihre primitiven Schiffe. Nur Fischerboote fielen ihnen immer wieder zum Opfer. Trotzdem gab es mutige Kaufleute, die mit den Kaltländern Handel trieben. Felle, Tran und seltene Erze erzielten bei uns gute Preise und waren ihnen das Risiko wert.
Im Süden war die Lage noch einfacher. In den heißen Dschungeln, die sich über riesige Flächen erstreckten - niemand wusste genau, wie weit - lebten viele verschiedene Stämme. Barbarenland nannte man dieses Gebiet. Wir Ringländer trieben Handel mit seinen Einwohnern, weil Güter wie Gewürze, Elfenbein und Felle bei uns begehrt waren. Wer die schlechte Angewohnheit des Rauchens angenommen hatte, benötigte außerdem Tobacco, der innerhalb des Ringgebirges nur in geringen Mengen angebaut wurde.
Ansonsten handelten wir nur über das Meer mit dem Land Askajdar, viele Wochen Seereise entfernt. Dessen Einwohner waren überheblich und nicht an Kontakten interessiert - sehr wohl aber an lukrativen Geschäften.
„Eines Tages wirst du dich auf den Weg machen, Aron“, sagte Martie spöttisch. „Und wenn du die ganze Welt erkundet hast, kehrst du als alter Mann zu uns zurück und erzählst uns, wie es dort draußen aussieht.“
„Wenn es mir in Ostraia so gefällt, wie ich es erhoffe, werde ich nie wieder einen Fuß in die Ringlande setzen“, gab ich zurück. Ich machte den nächsten Stich und gewann das Spiel. „Ihr solltet weniger reden und besser aufpassen.“
Ich sammelte die paar Heller ein, um die wir spielten, und gab den Kartenstapel an Gendra weiter, damit sie neu mischte.
Von draußen hörte ich das ferne Läuten von Feuerglocken. Es kam nicht aus diesem Viertel, deshalb achtete ich nicht weiter darauf. Mein nächstes Blatt war noch günstiger als das erste und ich machte mich daran, meine Freunde noch schneller zu besiegen.
Eine Viertelstunde später kam Jansa herein, ein junger Mann, der manchmal mit uns Karten spielte. Er sah mich, blieb stehen und rief: „Du sitzt hier, während das Haus brennt, in dem du wohnst?“
Mit ein paar Worten berichtete er, dass er aus der Altstadt kam. Da er wusste, wo meine Wohnung war, machte er einen Umweg, als er sah, wie die Fuhrwerke der Feuerwache in diese Straße einbogen. Man begann gerade damit, den Brand zu löschen, als er dort ankam. Da er mich in der Menschenmenge vermutete, die rundherum stand, dachte er sich nichts weiter dabei.
Kaum hatte er ausgeredet, rannte ich aus dem Wirtshaus hinaus auf die Straße. Über die Reena-Brücke, durch die Stadtmitte und hinüber in die Altstadt. Um Rauchwolken zu erkennen war es längst zu dunkel, aber auch Feuerschein sah ich keinen. Deshalb hoffte ich, dass alles glimpflich ausgegangen war.
Leider war diese Hoffnung vergebens. Es war der Feuerwache gelungen, die umstehenden Häuser zu schützen, aber mehr auch nicht. Die Vorderwand war in sich zusammengefallen, weshalb man im Licht der Sturmlaternen in die Zimmer hineinsehen konnte.
Da war nichts mehr zu machen. Meine persönlichen Gegenstände waren verkohlt, soweit ich sie sehen konnte, und natürlich triefte alles vor Wasser. Die Männer der Feuerwache waren mit Leitern dabei, Brandherde zu suchen, um sie rechtzeitig zu löschen. Vier von ihnen warteten an der großen Handpumpe, ob sie noch einmal benötigt wurden.
Zwei Dutzend Menschen standen herum, die übliche Menge, die sich bei jedem Unglück einfand.
„Ich wohne hier“, sagte ich zu einem der Männer der Feuerwache. „Ist die Vermieterin rechtzeitig herausgekommen?“
„Eine ältere Frau wurde ins Haus der Heilung gebracht“, antwortete er. „Aber sie schien nicht schwer verletzt zu sein.“
Ich nahm den Gürtel mit meinem Säbel ab, ohne den ich abends nie aus dem Haus ging, und drückte ihn dem überraschten Mann in die Hand. „Leihen Sie mir ihren Dolch“, bat ich ihn.
Er zog ihn heraus und reichte ihn mir. „Wozu das denn?“
„Nachsehen, ob noch etwas zu retten ist. Eine Sturmlaterne könnte ich auch gebrauchen.“
Ich überredete die Leute an der Leiter, mich hochklettern zu lassen in den ersten Stock. Von der Leiter aus tastete ich mich mit vorsichtigen Schritten bis zu der falschen Stützsäule. Dieses Versteck enthielt nicht nur die Silbertaler des Fürsten Borran, sondern auch einige private Gegenstände, an denen ich hing.
Da ich mit dem Rücken zur Straße stand, konnte niemand sehen, was ich tat. Das Versteck, ausgekleidet mit Metall, hatte den Brand überstanden. Ich nahm alles heraus und verstaute es in meinen Taschen. Dann machte ich mich auf den Rückweg nach unten, während von den Schaulustigen Beifall herauf klang. Man hatte also bemerkt, dass ich etwas retten konnte. Auf der Straße klopften mir sogar Fremde wohlwollend auf die Schultern, weshalb ich reflexhaft ein paar Bewegungen machte, um mein eben zurückerobertes Eigentum vor Taschendieben zu schützen. Aber es war wohl wirklich nur gutgemeint.
Wieder mit meinem Degen gegürtet verließ ich die Straße, um von den Gaffern wegzukommen. Als ich alleine war, blieb ich stehen und überlegte, wo ich mich hinwenden sollte.
Jemand näherte sich mir und ich erkannte an der dunklen Silhouette Serron, der mir vom Greiff aus gefolgt war.
„Alles in Ordnung?“, fragte er, als er mich erreichte.
„Es ist nichts Unersetzliches verlorengegangen“, sagte ich. „Ich überlege gerade, wo ich übernachten soll.“
Er nickte. „Jemand hat es auf dich abgesehen. Wenn du zu Jinna gehst, bringst du sie in Gefahr. Ich würde dich zu mir einladen, wenn ich nicht Besuch hätte.“
Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch. Serron war ein Einzelgänger, der nie über Familie oder Freundinnen gesprochen hatte. Ich nahm es kommentarlos zur Kenntnis.
„Eine Herberge am Marktplatz wird das Vernünftigste sein“, sagte ich. „Kostet zwar mehr als eine Absteige, aber sie haben eigene Aufpasser, die jeden abweisen, der dort nichts zu suchen hat.“
„Gute Idee“, lobte er.
„Morgen werde ich mir eine neue Bleibe suchen. Hoffentlich hat es sich nicht herumgesprochen, dass mir im Moment das Pech an den Fersen klebt.“
„Warum fragst du nicht Fürst Borran, ob er ein Zimmer für dich hat?“, schlug Serron vor. „Im Dienstbotenflügel der Residenz müsste es Platz genug geben.“
Der Vorschlag kam für mich unerwartet. „Erstens, warum sollte ich beim Fürsten unterkriechen? Und zweitens, soll ich wie ein Lakai in einer kleinen Kammer schlafen und darauf warten, dass er mich zu sich ruft?“
„Also zu erstens gilt das, was du eben gesagt hast. Jemand ist dir auf den Fersen, und es ist nicht das Pech, sondern ein Mensch, was viel lästiger ist. Zweitens, du erledigst doch sowieso immer wieder Aufträge für ihn. Also warum nicht gleich dort wohnen? Die Residenz wird gut bewacht, du gefährdest keine Nachbarn und Mitbewohner.“
„Ich werde es mir überlegen“, versprach ich. Dann trennten wir uns.
Ohne auf meine Schritte zu achten, ging ich weiter. Erst, als der leichte Wind mir den Duft des Handelshauses Oram in die Nase wehte, merkte ich, wohin mich mein Weg geführt hatte. Ich blieb stehen und sah mich um. Es waren noch einige Bürger unterwegs, die aus den Tavernen oder von einer Veranstaltung kamen. Und die üblichen Gestalten, die sich im Schatten hielten. Aber dies war ein besseres Wohnviertel. Hier war die Stadtwache gut ausgestattet, mit Personal wie auch mit Waffen. Immer wieder sah ich Patrouillen, jeweils bestehend aus zwei Männern. Einer von ihnen trug eine abgedunkelte Sturmlaterne, um schnell Licht zu haben, falls es erforderlich war. Der zweite hatte nicht nur ein Kurzschwert am Gürtel, sondern auch eine Hellebarde in der Hand. Eine Waffe, mit der man wunderbar Raufbolde auf Distanz halten konnte. Hier achtete die Obrigkeit darauf, dass den ehrenwerten Bürgern nichts geschah.
Trotzdem war es nicht Recht von mir, zu Jinna zu gehen. Wenn es jemand ernsthaft auf mein Leben abgesehen hatte, würde er sich von der Stadtwache nicht beeindrucken lassen. Und auch nicht von den Sicherheitsvorkehrungen in einem Handelshaus.
Der Brand hatte mich doch mehr mitgenommen, als ich mir eingestehen wollte. Ich fühlte das Bedürfnis, einen sicheren Ort zu finden. Deswegen war ich ohne nachzudenken losgegangen zu der Frau, die ich liebte.
Ich machte kehrt und ging über die Brücke und durch die Stadtmitte bis zu den Straßen, die sich hochwanden zu den Häusern der Reichen, die am Hang des Bergs Zeuth über der Stadt standen. Von dort aus folgte ich der Straße nach Norden, vorbei an der Akademie des Zeuth, deren schwaches Leuchten nun ein dunkleres Gelb zeigte, mit einer Tendenz zu Rot. Die Magier waren unzufrieden mit etwas. Aber das war ihr Problem und ging mich nichts an; hoffentlich.
Am Eingang der Residenz des Fürsten musterten mich die Wachmänner wie immer, als würden sie mich zum ersten Mal sehen. Dann winkten sie mich durch, ich klopfte und Romeran öffnete. Er musste in der Nähe der Tür gewesen sein, denn es dauerte keine halbe Minute, bis er vor mir stand.
„Guten Abend“, begrüßte er mich. „Fürst Borran erwartet Sie. Er ist in seinem Arbeitszimmer.“
„Er erwartet mich?“, fragte ich verblüfft.
„Selbstverständlich. Er hat schon früher mit Ihnen gerechnet. Dort entlang.“
Mir den Weg zu zeigen, war unnötig, ich war oft genug hier gewesen. Romeran sah es ein und ließ mich alleine gehen.
Um in das Arbeitszimmer des Fürsten zu gelangen, musste man einen Vorraum durchqueren, in dem tagsüber drei Schreiber ihren Dienst versahen. Die Wände dieses Raums waren mit Regalen vollgestellt, in denen eine unglaubliche Anzahl von Schriftstücken verwahrt wurden. Borran war der mächtigste der Fürsten der Ringlande, und das brachte eine Menge Bürokratie mit sich. Ihm unterstanden die sieben Festungen - je zwei an den Meerengen der Insel Haland, je eine wo die beiden großen Ströme Donnan und Azondan das Ringgebirge durchschnitten, und eine an der nie genutzten Passstraße, die angeblich nach Ostraia führte. Zusätzlich gehörte die Hafenstadt Kethal zu seinem Fürstentum. Kethal war die größte Stadt unter seiner Herrschaft. Denn die Hauptstadt Dongarth und die Burg über der Stadt unterstanden direkt dem Königshaus - sehr zu seinem Verdruss. Trotzdem residierte Fürst Borran traditionell in Dongarth, um den Zentren der weltlichen, geistlichen und magischen Macht nahe zu sein - der Burg, dem Tempel des Einen Gottes und der Akademie des Zeuth.
Es musste viel zu tun sein in dieser Nacht, denn trotz der späten Stunde war noch einer der Schreiber da. Der sah mich aus geröteten, überanstrengten Augen an, als ich eintrat, senkte den Blick aber gleich wieder auf seine Arbeit. Jeden Brief, den der Fürst schrieb, ließ er mehrfach kopieren für verschiedene Empfänger und das Archiv. Alle Berichte mussten in Listen erfasst und mit einer Zusammenfassung versehen werden. Und jedes Buch, das in die Bibliothek aufgenommen wurde, bekam hier ein handschriftliches Vorwort auf der ersten leeren Seite, das den Inhalt und dessen Bedeutung darstellte.
Borran selbst stand auch an einem Pult und schrieb. Sein Arbeitszimmer war groß genug für mehrere bequeme Sessel, einen Tisch, Bücherregale und einen wuchtigen Schreibtisch. Da er bei der Arbeit nicht gerne saß, nutzte er den Schreibtisch nur ab und zu.
Er war beschäftigt, deshalb hatte ich Zeit, mich umzusehen. Jedes mal, wenn ich diesen Raum betrat, faszinierten mich zwei Abbildungen.
Eine war die riesige Karte der Ringlande, die eine ganze Wand einnahm und jeden Hügel, jedes Dorf und jeden Bach darstellte. Straßen und Feldwege waren eingezeichnet, die Namen aller Siedlungen in feiner Schrift neben ihrem Standort notiert. Sogar Höhenangaben hatte Borran eintragen lassen. Man sah bei den Passstraßen im Ringgebirge und bei allen wichtigen Wegen in den Mittelgebirgen der nördlichen Provinzen, wie hoch über dem Meeresspiegel sie lagen. Diese Karte wurde regelmäßig aktualisiert. Es gab einen Kartographen, dessen Lebenswerk es war, jede neue Information über geographische Besonderheiten dem Fürsten vorzulegen und bei Bedarf in diese Karte einzutragen.
Das zweite Bild war ein Gemälde. Es zeigte die Fürstenfamilie kurz vor dem Tod von Borrans Ehefrau Isalinde. Die Schönheit und die Intelligenz, die aus ihren Zügen strahlten, waren überwältigend. Vor den beiden stand ihr Sohn, Micah, damals fünf Jahre alt. Inzwischen musste er etwa in meinem Alter sein. Borran sprach selten von seiner Frau und nie von seinem Sohn. Es hatte lange gedauert, bis ich auch nur dessen Namen in Erfahrung gebracht hatte. Gerüchten zufolge lebte der zurückgezogen und widmete sich seinem Studium. Ob er ein Priester des Einen Gottes werden wollte oder ein Schüler der Akademie des Zeuth war, wusste niemand zu sagen. Sprach man Borran auf seine Familie an, so überging er die Frage. Drängte ihn jemand zu einer Antwort, beendete er bald darauf den Umgang mit diesem neugierigen Menschen. Es gab hohe Würdenträger der königlichen Verwaltung, die keinen Zugang mehr zu ihm hatten, weil sie einmal zu oft fragten, wer denn das auf dem Bild sei.
„Es herrscht Unruhe in der Stadt“, riss mich der Fürst aus meinen Gedanken.
Mein Blick war wieder auf die Landkarte gerichtet gewesen, die außerhalb des Ringgebirges nur farbige Flächen mit unklaren Konturen zeigte. Man wusste zwar dank der Händler zumindest über die nördlichen und südlichen Regionen einiges, aber das schien nicht wert, es hier zu erfassen.
„Mehr als üblich?“, fragte ich zurück.
„Sonst würde ich es nicht erwähnen. Einer der Unruheherde sind Sie. Der andere ist dieser Reisende, der angeblich in Dongarth sein soll. Beides gefällt mir nicht.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, wessen Unwillen ich mir zugezogen habe. Sollte ich es herausfinden, werde ich dafür sorgen, dass schnell wieder Ruhe einkehrt. Was den Fremden angeht: Ich habe erst vor Kurzem von ihm gehört.“
„Ich verfolge die Gerüchte über ihn seit Wochen. Sie haben sich von Osten kommend ausgebreitet, vielleicht entlang des Wegs, den er hierher genommen hat.“
„Wissen Sie, wer er ist und woher er kommt?“
„Nein. Nicht einmal, ob es ihn wirklich gibt.“
„Es waren Kurrether am Handelshafen, als ich mit Jonner dort war. So heißt der Mann, der ihren Auftrag wegen des Elfensteins übernommen hat. Sie haben sich umgesehen nach einem Schiff, das sie nach Kerrk bringt.“
Ich hatte angenommen, der unvermittelte Themenwechsel würde ihn überraschen. Aber er nickte nur. „Auch unsere Freunde, die Kurrether, sind unruhig geworden. Sie reisen mehr, als sie es bisher getan haben. Den Grund dafür kenne ich nicht.“
„Es waren drei, in Begleitung königlicher Soldaten.“
„Wären es ein Dutzend gewesen, würde ich mir Gedanken machen“, erwiderte er, ohne den Blick von dem Schriftstück zu heben, an dem er arbeitete.
„Wie viele von ihnen gibt es eigentlich?“
„In den Ringlanden? Wenige Tausend. In Dongarth und Umgebung? Vielleicht Hundert. Niemand weiß es genau. Sie bleiben meist im Hintergrund.“
Ich ging an der Wand entlang zur rechten Seite der Landkarte und sah mir die Grenzregion im Südosten an. Der Pass, der zu dem mutmaßlichen Weg nach Ostraia führte, war präzise eingezeichnet. Die Wüste dahinter nur angedeutet. Wir wussten wirklich wenig von der Welt. Und wenn die Händler recht hatten, war die Welt verdammt groß.
Borran schlug die Kladde zu, in die er geschrieben hatte, und kam zu mir. Einen Schritt von mir entfernt blieb er stehen und sah mir in die Augen.
Ich blinzelte nicht, sondern starrte mit ausdruckloser Miene zurück.
Nach ein paar Atemzügen wandte er sich um und ging zur Tür. „Man hat Ihre Wohnung angezündet. Es war klug von Ihnen, hierher zu kommen. Ich lasse Ihnen ein Zimmer im Gesindeflügel zuweisen. Nicht groß, aber sicher.“
„Danke!“, sagte ich. Bevor ich fragen konnte, was ich dafür zu zahlen hätte, öffnete er die Tür.
Romeran stand davor. „Bitte folgen Sie mir“, sagte der Leibdiener zu mir „Ich habe frische Bettwäsche bereit legen und den Waschkrug füllen lassen.“
Ich ging hinter ihm her und fragte: „Kein fließend Wasser in meinem Zimmer?“
„Die Gesinderäume sind noch nicht an die Wasserleitung angeschlossen. Fürst Borran hat jedoch vor, das in den kommenden Monaten durchführen zu lassen.“
„So lange werde ich nicht hier wohnen.“
„Man wird sehen.“