Читать книгу Die Auswanderer - Manfred Rehor - Страница 10

Оглавление

7 Fürst Kirringa

Mein Ärger über meine eigene Dummheit war so stark, dass ich mich im ersten Moment gar nicht zu wehren versuchte. Was auch gut war.

Der Angreifer zischte mir ins Ohr: „Irgendwann ist es der Falsche, und dann bist du tot. Was habe ich dir eigentlich beigebracht?“

Er ließ von mir ab und ich richtete mich auf.

„Merion!“, rief ich. „Du musst dir diese heimtückischen Überfälle abgewöhnen. Bist du nicht inzwischen zu alt dafür?“

„Leise!“, mahnte er. „Und merke es dir: Ich werde dich so lange hinterrücks anfallen, bis du lernst, auf deine Umgebung zu achten. Komm mit.“

Er betrat den kleinen Tempel, dessen Inneres mich so abgelenkt hatte, und öffnete die Tür in der Hinterwand. Ich folgte ihm in den Raum dahinter, der bequem eingerichtet war. Es gab einen Stuhl, einen Tisch und eine schmale Liege. Hier konnte ein Priester sicherlich angenehm den Tag verbringen. Interessant war, dass in der Wand Ritze waren, durch die man in den vorderen Bereich des Tempels sehen konnte. Sie waren unregelmäßig geformt und gehörten vermutlich zu dem Kunstwerk, das in den Marmor hineingearbeitet worden war. So war es einem Priester möglich, jeden unbemerkt zu beobachten, der vorne seine Andacht verrichtete.

„Was machst du hier in Pregge?“, fragte ich Merion, aber im selben Moment wusste ich die Antwort. Als Anführer der Diebesgilde in Dongarth war er mit verantwortlich dafür, dass wertvolle Kunstgegenstände und Artefakte gestohlen wurden, um sie außer Landes zu bringen oder durch Kopien zu ersetzen. Da Arostak gesagt hatte, hier in der Stadt ende jetzt die Straße der Diebe, musste Merion auch hier nach dem Rechten sehen. „Ich verstehe“, sagte ich deshalb, noch bevor er antworten konnte.

Er nickte. „Den Verlauf der Straße der Diebe haben wir mehrfach geändert. Inzwischen nehmen wir weite Umwege in Kauf, die uns bis zu vier Wochen kosten, um wertvolle Gegenstände zu transportieren. Das macht Pregge für uns zu einer der wichtigsten Städte in den Ringlanden.“

„Arostak sagte, hier werden die Kisten gepackt für den Weitertransport.“

„Richtig. Und zwar unter seiner strengen Aufsicht. Die Priester sind in dieser Provinz fast allmächtig. Hat man ihre Unterstützung, kann man alles tun.“

„Ist man ihr Gegner, stirbt man.“

„So ist es. Aber wie immer, wenn man einen mächtigen Partner hat, besteht die Gefahr, dass er eigene Ziele verfolgt.“

Ich zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Du hältst die Priester für Verräter?“

„Nein. Aber sie haben möglicherweise eigene Pläne, zum Beispiel das Missionieren außerhalb des Ringgebirges. Ich bin hier, um herauszufinden, was Arostak vorhat. Seine Hilfe ist unersetzlich und alles, was hier in Pregge geschieht, läuft fehlerfrei und zuverlässig ab. Es gibt keinen Grund, ihm zu misstrauen.“

„Aber?“, hakte ich nach.

Merion grinste. „Du kennst mich. Wenn alles glatt geht, werde ich nervös. Es ist gut, dass du hier bist. Die Aufmerksamkeit wird sich auf dich konzentrieren. Besuche den Fürsten, sieh dir die Stadt an, rede mit den Menschen, die bereit sind, heimlich auszuwandern.“

„Du meinst, unter denen können Verräter sein?“

„Selbstverständlich. Es würde mich wundern, wenn nicht. Deshalb erfahren diese Leute so wenig wie möglich über die Einzelheiten ihrer Umsiedlung. Sowohl was das Ziel betrifft, als auch über den Weg dorthin erzählt man ihnen halbwahre Geschichten. Sollte einer das an die Kurrether weitergeben, ist der Schaden nicht so groß.“

„Das heißt, im Gegensatz zu dem, was Arostak gesagt hat, soll ich mich auffällig verhalten und so mögliche Spitzel ablenken.“

„Genau das. Da du dich im Gasthaus mit deinem echten Namen eingetragen hast, wäre es unsinnig, jetzt noch zu behaupten, du wärst ein anderer. Wir müssen dir nur eine glaubwürdige Geschichte verpassen.“

„Zum Beispiel?“

„Du wurdest von Fürst Borran nach Kirringa geschickt, um Nachforschungen über Artefakte anzustellen. Magische Artefakte für seine Sammlung. Es lebt hier ein Volksstamm, dessen Angehörige besonders klein und kräftig gebaut sind. Sie arbeiten als Bergleute im Süden, wo sie Erz und Kristalle aus den Steilwänden des Ringgebirges schürfen. Man trifft sie auch hier in der Stadt an. Es gibt Gerüchte, dass sie manchmal auf Artefakte stoßen. Die sollen in uralten Stollen zu finden sein, die angeblich von Zwergen ins Felsgestein geschlagen wurden. So hast du einen Grund, dich umzuhören. Außerdem wird sich niemand wundern, wenn du ein paar Tage zu Pferd Richtung Süden unterwegs bist, um in den Dörfern dieser Leute Nachforschungen anzustellen.“

„Gute Idee. Allerdings, sobald man mir so ein Artefakt zum Kauf anbietet, muss ich passen. So gut gefüllt ist meine Reisekasse nicht.“

„Wozu auch? Du handelst ein Vorkaufsrecht aus und bezahlst dafür eine kleine Summe. Wenn du wieder in Dongarth bist, wirst du Borran informieren und er entscheidet, ob er kauft oder nicht.“

„Gut ausgedacht“, gab ich zu. „Weitere Hinweise für mich?“

Er schüttelte den Kopf und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Mit der anderen Hand deutete er auf die schmalen Ritze. Ich sah hindurch und erkannte einen jungen Mann, der auf den Tempel zukam. Bevor er ihn betrat, blickte er sich um, als wolle er sichergehen, alleine zu sein. Dann setzte er sich auf die Rundbank und starrte eine ganze Weile mit abwesendem Blick die Bilder an, die in die Marmorwand geritzt waren. Ich war mir sicher, dass er mich und Merion nicht bemerkte, obwohl wir ihm direkt ins Gesicht sahen.

Schließlich begann er, halblaut zu beten. Nach einigen rituellen Floskeln kam er zu dem eigentlichen Anliegen, das er Zelchen, dem Gott der Kunst und der Trunksucht, vortragen wollte. Es ging um die Frage, ob er seine Heimat verlassen sollte, um ins Unbekannte zu ziehen.

Merion tippte sich mit dem Finger an die Stirn und ich verstand nicht, warum. Aber er sagte nichts, also lauschte ich weiter.

Der Mann war Bildhauer, stellte sich in seinem Selbstgespräch heraus - oder besser, in den Bitten an die Gottheit -, er hatte hier in Pregge keinen Erfolg, aber wegen seines Talents hielt er das für ungerecht. Er hoffte auf Ruhm und Anerkennung in der neuen Heimat, wo auch immer die sein mochte. Deshalb bat er Zelchen, ihm ein Zeichen zu geben, ob er wirklich den gefahrvollen Weg ins Unbekannt auf sich nehmen sollte. Im Namen der Kunst und um der Menschheit die Werke zu schenken, die zu vollbringen er sich befähigt fühlte.

„Soll ich es wagen, oh Zelchen, größter aller Künstler, soll ich es wagen?“, rief der junge Mann und rang theatralisch mit den Händen.

Zu meiner Überraschung hielt Merion seinen Mund direkt an eine der Sehritzen und sagte mit verstellter, tiefer Stimme langgezogen: „Neeeeiiin!“

Der Bildhauer sprang auf, stolperte ein paar Schritte zurück und drückte sich vor Schreck die Hand aufs Herz. Nach einige hastigen Atemzügen fasste er sich und sagte: „Danke, oh Zelchen! Dass du zu mir sprichst, beweist mir, dass ich wirklich ein Künstler bin. Ich werde meine ganze Kraft darauf verwenden, in Pregge Werke zu erschaffen, die deiner würdig sind. Gleich als Erstes entwerfe ich eine Büste von dir und überreiche sie dem Tempel als Geschenk, zum Dank für deine Gnade.“

Er ging davon, und er machte auf mich durchaus den Eindruck, als sei er erleichtert über die ‚göttliche‘ Entscheidung.

„Die Priester nutzen diese kleinen Tempel gerne, um im Namen der Götter Urteile zu verkünden“, sagte Merion grinsend, nachdem der Mann weg war. „Jeder Gläubige sieht, dass in der Hinterwand eine Tür ist, und trotzdem glauben die meisten, die Stimme eines Gottes zu hören, wenn man zu ihnen spricht. Wobei die Priester zusätzlich einiges Brimborium machen, um ernstgenommen zu werden. Weihrauch, dessen Duft durch die schmalen Ritzen nach draußen dringt, zum Beispiel, oder abends Leuchterscheinungen.“

Ich lachte, bevor ich fragte: „Warum hast du ihm mit Nein geantwortet? Man wird auch Künstler brauchen in unserer neuen Heimat.“

„Wir entmutigen viele von denen, die Gerüchte über die Umsiedlung gehört haben. Dieser Mann ist jung und erfolglos. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er auch künftig von seiner Kunst träumen wird, anstatt kräftig anzupacken beim Aufbau. Solche Menschen sind eine Belastung, keine Hilfe. All die Alten, Kranken, Spielernaturen und Arbeitsscheuen, die sich ein besseres Leben erträumen, können wir nicht brauchen.“

„Das ist hart“, sagte ich betroffen. „Vor allem: Wer entscheidet, ob jemand nützlich sein wird oder nicht?“

„Bei einem erfahrenen Handwerker stellt sich die Frage nicht. Ebenso bei einem Bauernsohn, der weiß, wie man einen Hof bewirtschaftet, und der nun eine neue Heimat sucht, weil ihm die ererbte Ackerfläche zu klein ist. Dasselbe gilt für den Händler, der sein Handelshaus erfolgreich leitet, für den jungen kräftigen Bauarbeiter, dessen Frau Köchin ist. Du verstehst, worauf ich hinaus will. Wer dagegen einen Ruf als rauflustiger Trunkenbold hat, wer seit Jahren von Almosen lebt, der hat geringe Chancen, mitgenommen zu werden.“

„Höre ich da heraus, dass man trotzdem auch solche Menschen nicht immer abweist?“

„Richtig. Manch einen mag das Leben schlecht behandelt und in so eine Lage gebracht haben. Eröffnet man ihm oder ihr neue Möglichkeiten, wandelt sich wie durch ein Wunder der Charakter. Auch hier in den Ringlanden erleben wir das hin und wieder. Aber wenn man einige Hundert solcher Menschen zusammenbringt, wird sich daraus wohl kaum eine funktionierende Gemeinschaft formen lassen, die für sich selbst und andere sorgen kann.“

Ich wollte weitere Fragen stellen, doch Merion schüttelte den Kopf. „Nun beeil dich, du musst zum Fürsten. In Kirringa nimmt man es mit der Pünktlichkeit besonders genau, weil hier Uhren hergestellt werden. Wir sehen uns bald wieder.“

Der Fürst von Kirringa war ein kunstliebender Herrscher, der neben der Kunst nur noch eine weitere Leidenschaft hatte. Das sah man als Besucher seines Palastes bereits in der Eingangshalle. Die Wände waren von Gemälden bedeckt, die Pferde darstellten. Pferde mit Reiter, ohne Reiter, im Stall, auf der Koppel, mit Fohlen, im Rennen, kurz: in jeder nur vorstellbaren Situation.

Die Diener trugen Uniformen und waren so herausgeputzt, als seien sie hohe Offiziere, und so benahmen sie sich auch. Doch bei ihnen war nichts von der Würde zu spüren, die zum Beispiel Romeran ausstrahlte, Borrans Leibdiener. Stattdessen behandelten sie mich wie einen weit unter ihnen stehenden Bittsteller, der eigentlich ihrer Aufmerksamkeit gar nicht wert war.

Außerdem waren immer drei Diener bei mir. Einer führte mich, er sah noch wichtiger aus als die anderen, und zwei gingen hinter mir. Ob das hier so üblich war oder Misstrauen ausdrückte, wusste ich nicht.

Als ich links von mir einen harten Schlag hörte und aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm, hatte ich sofort die Hand am Degen. Es folgten aber einige melodische Glockentöne. Was sich bewegte, war eine handgroße Puppe, die von einer Mechanik angetrieben einen Klöppel gegen einen Gong schlug. Darüber sah ich das große Ziffernblatt einer Uhr, die genau auf zwölf zeigte.

Ich schämte mich für meine Reaktion und versuchte so zu tun, als wäre nichts gewesen. Immerhin, ich war pünktlich.

Der Diener, der mir vorausging, blieb vor einer Tür stehen. Die beiden hinter mir überholten mich und zogen die Türflügel auf. Dabei verbeugten sie sich, während der erstere mir mit einer exakten Geste zu verstehen gab, dass ich hineingehen solle.

Ich trat in einen großen Raum, der eher zum Wohnen gedacht schien, als zum Arbeiten. Der Mann, der mir entgegensah, war klein und schmächtig. Er war etwa fünfzig Jahre alt, sein Haar schütter und das Gesicht wurde bestimmt von einer langen, schmalen Nase und einem Schnurrbart. Insgesamt wirkte er weichlich und unsicher, nicht wie der Herr dieses Palastes oder gar der ganzen Provinz.

Er saß hinter einem Tischchen, dessen Fläche kaum größer war als diejenige, die sein Stuhl in Anspruch nahm. Darauf lag ein Schriftstück, und er hielt eine Feder in der Hand. Doch das Papier war leer, wie ich auf den ersten Blick sah. Er tat nur, als sei er beschäftigt. Nun steckte er die Feder zurück ins Tintenglas, stand auf und kam um das Tischchen herum.

„Herr von Reichenstein, ich heiße Sie in Kirringa willkommen.“ Seine Stimme war hoch und leise, ohne besondere Ausdruckskraft.

Er streckte mir die Hand entgegen, blieb dabei aber stehen, so dass ich zu ihm gehen musste, um sie zu drücken. Der Händedruck war so schlaff, wie ich ihn erwartet hatte, deshalb hielt ich mich zurück, um ihm nicht Schmerzen zuzufügen.

„Setzen wir uns doch!“ Er zeigte auf zwei Sessel, die vor einem Gemälde standen.

Das Bild stellte ein galoppierendes Pferd dar. „Yormadana“, sagte er erklärend. „Den ‚schnellsten Rappen der Welt‘ hat man ihn genannt. Mein damaliger Hofpoet hat auf ihn ein Gedicht mit diesem Titel geschrieben. Aber Yormadana war selbstverständlich auch schneller als all die Schimmel und die anderen. Sechzehn Jahre ist es her, seit er gestorben ist, und doch bleibt er unvergessen. Die Zucht, die aus ihm hervorging, lässt hoffen, dass einst einmal ein ähnlich legendärer Nachfolger geboren wird.“

Ich nickte verstehend, obwohl mir Pferde nichts bedeuteten. Es waren Reittiere, es gab gute und schlechte, mehr interessierte mich nicht. Da ich nicht wusste, ob Merions Vorschlag mit dem angeblichen Auftrag des Fürsten Borran auch hier zur Tarnung herhalten musste, leitete ich das Gespräch zunächst mit Floskeln ein. Dann überreichte ich den Brief, den mir Romeran in Dongarth ausgehändigt hatte.

Er öffnete das Schreiben und las es langsam durch, begann noch einmal von vorne und faltete es schließlich wieder zusammen. „Sie mussten die Hauptstadt aus Gründen der Sicherheit verlassen“, sagte er. „Dafür habe ich Verständnis. Nicht überall wird man so zuverlässig von der Priesterschaft beschützt wie hier in Pregge. Selbstverständlich sind Sie mein Gast, und falls Sie nicht in einer Taverne wohnen wollen, lasse ich Ihnen eine Wohnung beschaffen. Benötigen Sie Geld?“

Das fand ich einen sympathischen Zug an ihm, aber ich schüttelte den Kopf. „Beides nein, vielen Dank für das Angebot. Wichtiger sind mir Informationen über das, was hier in der Provinz vor sich geht.“

„Arostak sollte Ihnen alles gesagt haben, was notwendig ist“, entgegnete er. „Falls nicht, wenden Sie sich bitte noch einmal an ihn. Er weiß so wunderbar Bescheid und hat einen besseren Überblick als ich. Meine Geschäfte lassen mir zu wenig Zeit, um mich darum zu kümmern.“

„Verständlich“, behauptete ich. „Trotzdem einige Fragen, die der Priester nur am Rande angesprochen hat, sicherlich, weil sie in Ihre Zuständigkeit fallen. Zum Beispiel über die Rolle der Kurrether hier in der Provinz.“

„Hat er das? Nun, es gibt sie hier wie überall, und sie machen sich auf die Art und Weise nützlich, die man von ihnen kennt. Sie arbeiten in gehobenen Positionen, oft als Ratgeber, und für geringes Gehalt.“

„Arostak deutete an, dass man sie von allen wichtigen Entscheidungen fernhält. Bemerken sie das nicht? Oder lassen sie es sich trotzdem bieten?“

„Sie lassen sich mehr gefallen, als in anderen Provinzen“, sagte er angeberisch. „Schließlich finden sie in Kirringa etwas, das sie nicht so einfach stehlen können wie Gold.“

„Nämlich?“, fragte ich überrascht.

„Rassige Pferde und hervorragende Feinmechaniker.“

„Sie glauben nicht, dass es beides auch außerhalb der Ringlande gibt?“, rutschte mir heraus.

Er nahm es nicht übel. „Durchaus, aber nur bei den Feinden der Kurrether. Wie bei so vielem, das mit Geschick und handwerklichem Können verbunden ist, sind sie darauf angewiesen, es sich irgendwoher zu beschaffen. So fleißig sie als Bürokraten sind - alle andere Arbeiten scheuen sie nicht nur, sondern halten sie für unter ihrer Würde, geradezu erniedrigend.“

„Dass sie nicht gerne mit den Händen arbeiten und keine einfachen Tätigkeiten verrichten wollen, war mir bekannt“, sagte ich. „Aber das andere ist mir neu. Bitte erzählen Sie mir mehr, ich profitiere von Ihrem Wissen.“

„Ich habe vertrauliche Informationen von einem Offizier der ostraianischen Armee erhalten, der einen Trupp Soldaten in Kroyia befehligte.“

Der Fürst senkte seine ohnehin schwache Stimme weiter, während er das erzählte. Ich musste mich vorbeugen, um ihn zu verstehen.

„Der Ostraianer ist über die Passstraße bis zu Borrans Festung bei Ambrams Brücke geritten, weil es dort Probleme gab. Dabei begegnete ihm einer meiner Offiziere und sie haben sich unterhalten. Zusammengefasst ist es so, dass die Kurrether alles, was sie besitzen, von den Völkern herstellen lassen, die sie unterjocht haben. Ihre Waffen, Rüstungen, Werkzeuge, alles. Sogar die Häuser in ihren Städten lassen sie von versklavten Bauarbeitern errichten. Die berüchtigten schwarzen Schiffe werden in Häfen außerhalb ihrer Heimat auf Kiel gelegt. Und so weiter.“ Fürst Kirringa machte eine abschätzige Handbewegung. „Sie selbst können keinen Stahl herstellen, geschweige denn Schwerter schmieden. Sie gerben kein Leder, mahlen kein Mehl, kurz: Sie sind nur Kämpfer und Verwalter.“

Ich nickte beeindruckt. Davon hatte ich in der Tat noch nie gehört. „Also deshalb ist Ihre Provinz interessant für sie. Wie Sie schon sagten, Fürst: rassige Pferde und die Arbeitskraft hervorragender Feinmechaniker.“

„Ganz recht. Gold kann man vermutlich in vielen Teilen der Welt abbauen. Stahl schmieden ebenfalls. Aber was wir hier haben, ist rar. Das hat sogar der Offizier aus Ostraia bestätigt. Und weil die Kurrether darauf spekulieren, dies alles künftig nutzen zu können, dürfen sie die Pferdezüchter und fleißigen Handwerker hier nicht gegen sich aufbringen. Sie bleiben also vorsichtig im Hintergrund.“

„Wie schaffen Sie es, Interessenten für die Umsiedlung außer Landes zu bringen, ohne dass es den Kurrethern auffällt?“, fragte ich. „Die achten doch sicherlich besonders genau auf das, was hier vor sich geht.“

„Sie werden es herausfinden“, sagte der Fürst. Mit einer schlaffen Handbewegung zeigte er Richtung Tür. „Ich bin ermüdet und habe noch so viel Arbeit vor mir. Ich muss Sie bitten, zu gehen. Ich wünsche Ihnen Erfolg bei allem, was Sie in dieser Provinz vorhaben, und vergessen Sie nie: Meine Geldschatulle steht Ihnen offen und die Priester beschützen Sie.“

Ich nutzte den sonnigen Nachmittag, um mir die Stadt anzusehen. Dabei dachte ich unvermittelt daran, dass die Nächte bald kalt werden würden und der Winter bevorstand. Dann fiel mir ein, dass ich mich hier fast dreihundert Meilen südlich von Dongarth befand und das Klima wärmer war. Jenseits des Ringgebirges, das ich am Horizont noch nicht einmal erahnen konnte, lagen sogar tropische Dschungel, die ich allerdings nur aus Erzählungen kannte.

Die breiten Straßen und das viele Grün zwischen den Häusern machten auf mich den Eindruck eines Viertels für wohlhabende Bürger, ähnlich des Bergviertels in der Hauptstadt. Doch hier war die ganze Stadt so gebaut.

Überall herrschte reges Treiben. Fuhrwerke transportierten Waren, Menschen eilten hin und her. Auf einigen weit voneinander entfernten Plätzen waren Marktstände aufgebaut, an denen man alles kaufen konnte, was man zum Leben benötigte. Bettler sah ich keine, und der schmale Fluss, der durch die Stadt auf den Azondan zufloss, führte sauberes Wasser. Überhaupt schien Sauberkeit einer der wichtigsten Charakterzüge der Bürger von Kirringa zu sein, denn verschmutzte Kleidung und ungewaschene Gesichter sah ich nur bei Bauarbeitern, die überall beschäftigt waren. Häuser wurden errichtet, Straßenstücke ausgebessert, die Grünflächen in Ordnung gehalten - in der ganzen Stadt wurde gearbeitet.

Ich fand das Handwerkerviertel am westlichen Stadtrand, links und rechts eines Stichkanals, der zum Azondan führte. Hier sah ich tatsächlich Abwässer, aber da der Strom nach Westen floss, gelangten sie erst zu ihm, nachdem er Pregge passiert hatte. Dort kam auch aus mehreren Tonrohren die Abwässer der Stadt. Sie wurden unterirdisch hierher geleitet und bildeten daher nur ein Problem für stromabwärts gelegene Orte. Später erfuhr ich, dass erst zehn Meilen entfernt wieder eine Siedlung am Ufer war, und bis dorthin hatte sich der Schmutz in der gewaltigen Wasserflut des Azondan verteilt.

Im Handwerkerviertel fiel mir ein Haus auf, dessen Fensterläden geschlossen waren. Es war unbewohnt - etwas, das ich in der übrigen Stadt nicht gesehen hatte. Ich überlegte, was der Grund dafür sein konnte. Gehörte dieser Handwerker womöglich zu denen, die sich für die Auswanderung entschieden hatten?

„Ein Jammer“, sagte ein Mann, der neben mir stehengeblieben war.

Ich drehte mich nach ihm um und sah einen der sechs kleinen stämmigen Kerle, die mir in Dongarth begegnet waren. Jedenfalls war er durch nichts von ihnen zu unterscheiden. Sogar eine Axt hing in einer Schlaufe am Gürtel. Wahrscheinlich war das für seinesgleichen so selbstverständlich, wie ich meinen Degen umgeschnallt trug. Er war alleine, und er war der erste seiner Art, den ich in Pregge sah.

„Was meinen Sie damit?“, fragte ich.

„Dregenar war einer der besten Uhrmacher in der Stadt. Nun hat er sich entschlossen, seine Werkstatt nach Dongarth zu verlegen. Ein Verlust für unsere Provinz.“

„Und ein Gewinn für die Hauptstadt. Dort gibt es nur zwei Uhrmacher. Sie arbeiten für die wohlhabenden Bürger und das Königshaus. Über beide habe ich nicht viel Gutes gehört. Da kommt dieser Dregenar gerade recht.“

Der Mann lachte. „Käme er“, sagte er. „Wenn er käme.“

Ich sah ihn überrascht an. „Warum sollte er nicht?“

„In den letzten Monaten haben mehrere jungen Handwerker beschlossen, Kirringa zu verlassen und sich in anderen Provinzen anzusiedeln.“

„Und?“

Er streckte sich ein wenig, um näher an meinem Ohr zu sein, und sagte mit bedeutsam gesenkter Stimme: „Keiner davon ist bisher an seinem Ziel eingetroffen. Es ist, als würden sie unterwegs verlorengehen, sich irgendwo auf dem weiten Weg in Luft auflösen.“

Nun verstand ich, was da vor sich ging. Aber ich ließ es mir nicht anmerken, sondern sagte nur: „Seltsam, in der Tat. Hat man Nachforschungen angestellt?“

„So heißt es.“ Er machte eine Pause, bevor er augenzwinkernd ergänzte: „Ohne Ergebnis, versteht sich.“

Ich nickte nur.

„Sie sind Aron von Reichenstein“, fuhr er fort. „Mein Vetter ist Ihnen in Dongarth begegnet und hat mir davon berichtet.“

„Diese Nachricht ist aber schnell gereist“, unterbrach ich ihn.

„Es gibt Mittel und Wege“, sagte er und meinte damit wohl die Brieftauben, die vermutlich hier ebenso genutzt wurden wie in der Provinz Arbaran. „Er schreibt, Sie seien häufig in den Ringlanden unterwegs, aber unser schönes Kirringa besuchen Sie zum ersten Mal. Gefällt Ihnen Pregge?“

„Ich bin seit gestern Abend hier, muss jedoch zugeben: Was ich bisher gesehen habe, ist beeindruckend.“

„Sie sollten erst einmal unsere Dörfer sehen, direkt an den Steilwänden des Ringgebirges. Ich lade Sie ein, uns zu besuchen. Wenn Sie Pregge auf der Straße nach Süden verlassen, reiten Sie zwanzig Meilen weiter, bis Sie am Horizont die ersten Berggipfel erkennen. Dort fragen Sie, wie Sie nach Krungadorf kommen. Ich wünsche Ihnen bis dann noch eine schöne Zeit.“

Er wandte sich um und ging davon.

Ich überlegte, ob ich ihm nachgehen sollte, um mehr von ihm zu erfahren. Aber da sah ich zum ersten Mal hier einen Kurrether und blieb deshalb stehen, wo ich war. Das Äußere des Mannes war typisch für Vertreter seines Volkes, das heißt, er war in dunkles Leder gekleidet, und alles Metallische, das er an sich hatte, war aus Gold oder zumindest vergoldet. Und das war einiges, denn er ritt auf einem Pferd, dessen Zaumzeug und Sattel viele Niete aufwies. Deshalb glänzte und blinkte er in der Sonne, während näherkam.

Nur ein paar Schritte von mir entfernt hielt er sein Pferd an, sicherlich ein besonders rassiges Exemplar aus hiesiger Zucht, und stieg ab. Ohne mich zu beachten, ging er zu dem Haus, vor dem ich stand, und inspizierte die Fensterläden. Dann versuchte er, die Tür zu öffnen, doch sie war abgeschlossen, weshalb er um das Haus herumging. Vermutlich um nachzusehen, ob es eine Hintertür gab. Aber er kam gleich wieder zurück, stieg in den Sattel und ritt davon. Die ganze Zeit benahm er sich, als wäre ich gar nicht vorhanden.

Interessant war die Reaktion anderer Passanten. Die ignorierten ihn ihrerseits. Niemand starrte ihn an, trotz seines auffälligen Erscheinungsbilds, niemand drehte sich nach ihm um. Entweder, Kurrether waren in Pregge viel häufiger in den Straßen zu sehen als in Dongarth, oder die Bevölkerung zeigte ihm so ihre Verachtung.

Wichtiger für mich war jedoch, dass ihm das verlassene Haus des Handwerkers aufgefallen war. Die Kurrether hatten bemerkt, dass etwas vor sich ging.

Ich beschloss, noch einmal den Priester Arostak aufzusuchen, obwohl es inzwischen dunkelte.

Die Auswanderer

Подняться наверх