Читать книгу Die Auswanderer - Manfred Rehor - Страница 4
Оглавление1 Dongarth
Säuerlich stinkender Nebel lag über der nächtlichen Stadt. Ich saß frierend auf einem Steinblock am Hang des Berges Zeuth und starrte vor mich hin. Hier war es still und dunkel, aber bald würden erste Sonnenstrahlen durch die Nebeldecke dringen. Eine kraftlose, wenig wärmende Sonne, denn der Herbst hatte früh eingesetzt in diesem Jahr und versprach einen harten Winter.
Irgendwo löste sich ein Kiesel und rollte nach unten. Dann herrschte wieder Stille.
Ich befand mich an einer steilen Stelle südlich der Magischen Akademie, oberhalb des Bergviertels. Wie und warum ich hierher gekommen war, wusste ich nicht mehr. Ich war betrunken gewesen. Erst die Kälte hatte mich so weit ausgenüchtert, dass ich meine Umgebung wahrnahm. Und nun saß ich auf dem Steinblock und wollte nicht hier sein, wollte aber auch nicht weggehen.
Es hatte Streit gegeben am Abend zuvor, den heftigsten, den Jinna und ich je hatten. Und das zurecht, denn es ging um unsere Zukunft. War es besser, die Ringlande zu verlassen oder zu bleiben? Sollten wir die Pläne des Fürsten Borran unterstützen oder uns aus allem heraushalten? Letztendlich kamen wir zu der eigentlichen Frage, um deren Antwort ich mich immer gedrückt hatte: Sollten wir heirateten? Und falls ja, was war unser gemeinsames Ziel? Eine ehrbare Kaufmannsfamilie hier in Dongarth zu gründen und die Tradition des Handelshauses Oram fortzuführen? Oder als eines der ersten Umsiedlerpaare dem Weg aus den Ringlanden heraus zu folgen, ins Unbekannte?
Jinna sah in mir den künftigen Handelsherren, der mit einem strahlenden Lächeln fetten, alten Kundinnen teure Parfüms verkaufte, und der jeden Abend die Abrechnungen kontrollierte. Nichts lag mir ferner. Ich sah in ihr die Mutter unserer hoffentlich zahlreichen Kinder, die ein freieres Leben führen sollten, als es uns beschert war - und das war nur außerhalb des Einflusses des Berges Zeuth möglich. Das konnte sie sich wiederum nicht vorstellen, denn es würde bedeuten, die Kinder seiner schützenden Magie zu entziehen.
Wir steigerten uns in unsere gegensätzlichen Visionen der gemeinsamen Zukunft hinein, bis sich unvermeidlich wie von selbst die Frage stellte, ob es überhaupt eine gemeinsame Zukunft für uns geben konnte. Und wir waren beide so in Rage, dass wir das mit „Nein!“ beantworteten, uns noch eine Weile stritten und für immer trennten. Jedenfalls sagte sie, dass sie mich nie wiedersehen wolle. Ich knallte einfach die Tür hinter mir zu und ging in die nächste Taverne.
Je klarer mein Kopf nun wurde, desto deutlicher erkannte ich, dass ich selbst nicht wusste, was ich tun sollte. Bleiben und ausharren oder die Ringlande verlassen und kämpfen? Fest stand, dass das Leben draußen gefährlicher sein würde als in unserer Heimat. Zwei Mal war ich auf meinen Reisen außerhalb des Schutzes des Berges und des Ringgebirges gewesen. Ich hatte eine Ahnung davon bekommen, wie die Welt dort war.
Was tun?
Rechts von mir veränderte sich etwas, das ich nur aus den Augenwinkeln bemerkte. Mein Kopf ruckte hoch. Näherte sich jemand? Aber es war nur das leuchtende Mauerwerk der Magischen Akademie. Es schien, als wolle die Akademie mir ein Zeichen geben, denn sie wechselte ihre Farbe. Gewöhnlich signalisierten die Magi dadurch der Bevölkerung, wie ihre Stimmung war. Doch in den letzten Wochen hatte sich das geändert. Die Farbtöne waren sanfter geworden. Der Wechsel fand nun täglich statt, als sei er nur ein belangloses Schauspiel, das den Bürgern einen Anlass für Tratsch gab.
Das dunkle Nachtblau, das ich bis eben gesehen hatte, wandelte sich in eine rötliche Schattierung, die mir bedrohlich vorkam, bevor sie sich abschwächte. Was blieb, war ein leichtes Rosa. Das war neu. Was sollte das signalisieren? Dass die kurrethische Erzmagierin gute Laune hatte? Seit ihrer Einführung in das Amt munkelte man von durchgreifenden Änderungen innerhalb der Akademie, aber niemand wusste etwas Genaues. Trotzdem war jedem klar, dass die Kurrether diese machtvolle Position nutzen würden, um ihren Einfluss in den Ringlanden weiter auszubauen.
Wieder starrte ich mit blicklosen Augen in den Nebel. Bilder der sonnigen Stadt Kroyia stiegen in mir auf wie eine Versuchung. Dort gab es keinen Winter, dafür spürte man an manchen Tagen die unbarmherzige Hitze der Wüste. Mir schien die Aussicht verlockend, die kalte Jahreszeit dort zu verbringen.
Erneut bemerkte ich etwas rechts von mir. Dort musste jemand sein. Ich sprang auf und zog den Degen. Allerdings war meine Bewegung durch das lange Sitzen in der Kälte und wegen des vielen Bieres am Abend langsam und ungelenk. Ein Angreifer hätte mich problemlos töten können.
Wie aus dem Gestein und Gestrüpp herausgewachsen erschien ein rundliches Gesicht, das sich zu einem Grinsen verzog, wie es unverkennbarer nicht sein konnte: Ein einzelner, schwärzlicher Zahnstummel zeigte sich zwischen den Lippen, die ein ungepflegter Bart umwucherte. Der Mann richtete sich auf, wodurch er mir kaum bis zu den Schultern reichte, und zog seinen abgenutzten, geflickten Umhang enger zusammen.
„Seliim!“, rief ich. „Was tun Sie hier?“
Er hielt den Zeigefinger vor die Lippen und winkte mich zu sich.
Ich sah mich um, ob andere Menschen in der Nähe waren, vor denen er mich warnen wollte, aber wir waren alleine.
Seliim war ein bezahlter Spitzel des Fürsten Borran, zuverlässig und treu. Er hörte nicht nur alles, was in der Stadt an Gerüchten in Umlauf war, sondern verfügte auch über das unbezahlbare Talent, Wichtiges von bloßem Gerede unterscheiden zu können.
„Woher wissen Sie, dass ich hier bin?“, fragte ich flüsternd, als ich neben ihm stand.
Er grinste breit und antwortete ebenso leise: „Aron von Reichenstein als torkelnder Betrunkener ist ein seltener Anblick. Der hat sich herumgesprochen. Noch bevor Sie hier oben angekommen sind, haben sich die letzten Gäste in den Tavernen der Stadt Witze darüber erzählt. Und der eine oder andere hat sich schnell verabschiedet, um die Nachricht weiterzuverbreiten.“
Ich stöhnte auf. Den Ruf, ein Säufer zu sein, würde ich so bald nicht wieder loswerden. Ich ahnte jetzt schon, welche Vorhaltungen mir meine Freunde in den kommenden Tagen machen würden.
„Pst!“, zischte Seliim. „Gefahr!“
„Wo?“, hauchte ich, indem ich mich vorbeugte, so dass mein Mund fast sein Ohr berührte.
Er deutete den Hang hinauf. „Verräter, die für die Kurrether arbeiten. Es sind mehrere auf der Suche nach Ihnen. Den Grund kenne ich nicht.“
Ich konnte niemanden sehen, wusste aber, dass man Seliim in solchen Fragen vertrauen konnte. „Kämpfen oder Fliehen?“, flüsterte ich.
„Verschwinden, so lange der Nebel anhält. Der Tempel des Einen Gottes ist sicher. Langsam, hier entlang.“
Er nahm meine Hand und führte mich den Abhang hinunter, wobei wir uns geduckt vorwärts bewegten und sorgfältig darauf achteten, keine Zweige zu zertreten oder Steine loskullern zu lassen.
Wir waren noch nicht weit gelangt, als ich hinter uns ein Geräusch hörte. Ich fuhr herum, den Degen in der Hand, aber es war niemand zu sehen. Der Nebel trug Töne weiter, als klare Luft es gewöhnlich tat, deshalb wähnte ich die Verfolger in unmittelbarer Nähe.
Ich wartete und hörte das Geräusch noch einmal. Es klang genau nach dem, was wir zu vermeiden suchten: Jemand ging den steilen Hang entlang und trat dabei immer wieder auf verräterische Stellen.
„Weiter!“, zischte Seliim.
Wir erreichten die Straße, die zwischen dem Abhang und dem Bergviertel verlief. Große, eingezäunte Gärten umgaben die Häuser der reichen Dongarther. In dieser Gegend patrouillierte die Stadtwache besonders häufig, die Wohlhabenden waren auf ihren Schutz bedacht. Deshalb gingen wir so schnell wie möglich Richtung Norden und dann die nächste Straße hinunter in die Innenstadt. Bisher waren wir niemandem begegnet, aber das würde sich bald ändern. Der Nebel lichtete sich, die aufgehende Sonne begann, ihn zu vertreiben.
„Zum Tempel!“, drängte Seliim.
„Der Weg dorthin führt quer durch die Stadt“, wandte ich ein. „Wenn ich verfolgt werde, sollte ich das nächstbeste Versteck nutzen.“
„Ich werde alleine mit den Verfolgern fertig“, versprach Seliim.
„Ausgerechnet Sie?“, fragte ich ironisch. Dem schmächtigen kleinen Mann traute ich vieles zu, aber keinen offenen Kampf, schon gar nicht gegen mehrere Angreifer.
Er sah zu mir auf und zeigte mir grinsend den einzigen Zahn. Dann zog er aus seinem Umhang einen langen Dolch heraus. Mit dessen Klinge begann er, an den eisernen Pfosten eines Gartenzauns zu schlagen, der zu einem der großen Grundstücke gehörte. Dabei schlug er nicht voll zu, sondern tangierte den Pfosten nur kurz, in schnellen Streichen, zwischen denen immer wieder Abstände lagen. Es klang verblüffend nach einem Schwertkampf!
Dann schrie er unvermittelt laut auf, wie jemand, der einen schmerzhaften Treffer erhalten hatte.
„Laufen Sie los!“, forderte er mich auf.
Ich rannte ein paar Schritte, da hörte ich hinter mir ein Geräusch, das ich die ganze Zeit erwartet hatte: Das Klacken genagelter Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster, wie es typisch für die Männer der Stadtwache war. Ich drehte mich um - und sah Seliim, der in die Hocke gegangen war. Er schlug mit dem Knauf seines Dolches gegen die Pflastersteine. Dabei hielt er bei den Tönen die Schrittfolge ein, wie sie zwei oder drei rennende Männer erzeugen würden. Diese Imitation war fast perfekt und unsere Verfolger mussten glauben, dass sie direkt mit Wachmännern konfrontiert würden, falls sie uns weiter nachstellten.
Mit einer Kopfbewegung gab Seliim mir zu verstehen, dass ich endlich verschwinden sollte. Dann richtete er sich auf, kletterte auf den Zaun und sprang auf der anderen Seite in das Gebüsch des Gartens.
Nun rannte ich tatsächlich los. Zunächst hinunter in die Innenstadt, auf den großen Platz in der Stadtmitte zu, den ich umging, indem ich Nebenstraßen nutzte. Ich hörte niemandem hinter mir, und als ich den ersten frühen Passanten begegnete, hatte ich bereits die Altstadt erreicht. Da ich keine Verfolger bemerkte, war Seliims Täuschung offenbar erfolgreich gewesen.
Noch immer wusste ich nicht, wer hinter mir her war - falls überhaupt. Womöglich hatten mir meine Ohren einen Streich gespielt, als ich am Hang Schritte zu hören glaubte.
In der Altstadt kannte ich mich besser aus als in jedem anderen Bezirk Dongarths. Ich schlich durch schmale Gassen, suchte Abkürzungen durch Hinterhöfe und mied alle Orte, an denen eine Begegnung mit Menschen zu erwarten war.
Der Spitzel hatte gesagt, der Tempel des Einen Gottes sei sicher, und das war er zweifellos. Niemand würde es wagen, unbefugt dort einzudringen. Der Eine Gott war für die harten Strafen bekannt, die er Störenfrieden auferlegte. Da ich geheime Eingänge kannte, die unterirdisch hinein führten, musste ich nicht über den großen, Tag und Nacht hell erleuchteten Platz vor dem Tempel, wo mich jeder sehen konnte.
Stattdessen umrundete ich das gewaltige Bauwerk aus weißem Marmor auf Nebenstraßen, bis ich die breite Promenade entlang des Donnan erreichte, kurz vor der Zeuther Brücke. Der Strom stank erbärmlich, schlimmer als es der Nebel getan hatte, der jetzt nur noch über ihm und an seinem Ufer waberte. Die Morgendämmerung sorgte inzwischen für genügend Licht, um die Umgebung gut erkennen zu können. Und ich sah nicht nur Passanten, die über die Brücke gingen, sondern zum ersten Mal auch meine Verfolger.
Es handelte sich um drei Männer von kleiner Statur und breitem Körperbau, die mit Äxten bewaffnet waren, nicht mit Schwertern. Eine Seltenheit hier in der Hauptstadt, aber ich kannte den Kampfwert dieser Waffen aus meiner Heimatprovinz Krayhan. Wer dort in den weitläufigen Wäldern als Holzfäller arbeitete, nutzte sein Handwerkszeug auch als Waffe, weil es unpraktisch war, zusätzlich ein Schwert mit sich herumzutragen. Dort hatte ich auch die fürchterlichen Verletzungen gesehen, die ein einziger Hieb anrichten konnte.
Die Männer trugen dunkle Lederkleidung, die untypisch für Dongarth war. Sie mussten tagsüber in der Stadt auffallen wie Besucher aus einer anderen Welt. Und so bewegten sie sich auch. Langsam marschierten sie in kurzen Schritten nebeneinander her, als könne nichts und niemand sie aufhalten. Sie schienen unbegrenzt Zeit zu haben.
Dass sie es auf mich abgesehen hatten, war eindeutig. Denn die drei starrten mich an, als gebe es nichts Anderes für sie. Als ich ein paar Schritte seitlich auf die Brücke zu auswich, drehten sie alle zugleich langsam die Köpfe, damit ihr Blick mir folgen konnte. Gleichzeitig änderten sie die Richtung, in die sie gingen, wie gut ausgebildete Soldaten auf einer Parade.
Ich entschloss mich, zunächst nicht den Tempel aufzusuchen, sondern über die Brücke in die Nordstadt auszuweichen. Zwischen den vielen Handwerksbetrieben dort, in denen um diese Zeit sicherlich schon rege Geschäftigkeit herrschte, konnte ich mich verstecken. Daher drehte ich mich um und betrat die Zeuther Brücke, um mit schnellen Schritten in dem Nebel zu verschwinden, der noch über dem Strom lag.
Aber genau dieser Nebel war es, der mir die Sicht auf das gegenüber liegenden Ufer verwehrte. Deshalb bemerkte ich zu spät, dass mir von dort drei Gestalten entgegenkamen. Es hätten Kopien der Axtträger hinter mir sein können - oder sogar diese selbst. Ein schneller Blick über die Schulter belehrte mich, dass es nun sechs Gegner waren, die mit genau aufeinander abgestimmten Schritten auf mich zugingen.
Gegen so viele zu kämpfen, war aussichtslos. Die wenigen Bürger, die ich sah, konnten mir nicht helfen. Und der Sprung über das Geländer in den Donnan verbot sich von selbst. Das bedeutete nicht nur den sicheren Tod, sondern auch einen qualvollen. Der Strom war so durch Abwässer verschmutzt, dass es kaum Überlebenschancen gab, wenn man versehentlich etwas von seinem Wasser schluckte.
Ich ging trotzdem zum Geländer, um es im Rücken zu haben. So konnte ich zumindest nicht von hinten angegriffen werden. Den Degen ließ ich stecken, obwohl das eine lächerliche Geste war. Hoffentlich verfügten meine Gegner über genügend Ehrgefühl, einen Mann nicht zu erschlagen, der die Waffe nicht in der Hand hatte.
Die sechs Axtträger erreichten mich und stellten sich im Halbkreis vor mir auf. Einer verschränkte die Arme vor der Brust, die erste Bewegung, die nicht von allen imitiert wurde. Also war er der Sprecher. Zunächst musterte er mich schweigend genauso intensiv, wie ich ihn und seine Begleiter.
Aus der Nähe bemerkte ich Unterschiede zwischen ihnen. In Augenfarbe, Länge des Bartes und sogar den Verzierungen der überbreiten Ledergürtel glich keiner dem anderen, was mich erleichterte, ohne dass ich hätte sagen können, warum.
„Aron von Reichenstein“, sagte der mit den verschränkten Armen.
Ich wartete darauf, dass er weitersprach. Da er schwieg, fragte ich: „Wer sind Sie?“
„Wir kommen aus Kirringa“, lautete seine Antwort, und wieder gab er keine weitere Erklärung dazu.
Kirringa war die kleinste Provinz der Ringlande, aber auch die wohlhabendste. Sie lag im Südosten und sah auf der Landkarte aus wie ein belangloser Zipfel, den man vom Südende Arbarans abgetrennt hatte. Kirringa war dünn besiedelt und ich war selten Menschen begegnet, die von dort stammten. Und noch nie jemandem, der so ungewöhnlich aussah, wie diese sechs Männer.
„Schöne Gegend“, behauptete ich, um überhaupt etwas zu sagen. „Aber weit weg.“
Mein Gegenüber nickte, als habe er eine wichtige Neuigkeit erfahren, die es zunächst zu bedenken galt.
„Wir sind nach Dongarth gekommen, um einen Auftrag zu erfüllen“, sagte er schließlich.
„Hat der Auftrag etwas mit mir zu tun?“
„Ja. Denn Sie haben die Aufsicht über die Bibliothek.“
Bei dieser Antwort klappte mir für einen Moment der Mund auf, so unerwartet kam sie. „Wie bitte?“
„Es ist Ihre Aufgabe, die Bibliothek zu beschützen, und die Schreiber, die dort arbeiten“, sagte er in einem Tonfall, als benötige er all seine Geduld, um einem Dummen etwas zu erklären.
„Und weiter?“
„Wir sind hier, um das Wissen der Bergmänner unserer Provinz niederschreiben zu lassen. Unter anderem.“
Wie auf ein geheimes Kommando hoben seine fünf Begleiter die Äxte und hielten sie wie kurze Standarten vor sich, bevor sie sie wieder in die Schlaufen ihrer Gürtel steckten. Nun erkannte ich, dass es sich nicht um Werkzeuge handelte, die man zum Holzhacken benötigte. Die Klingen waren dicker und auf der anderen Seite der ‚Auge‘ genannten Öffnung für den Stiel mit einem Wulst versehen, der als Hammer dienen konnte. Außerdem zogen sich die Klingen über die Enden der Stiele, wo sie in zwei Krallen ausliefen - ideale Brechstangen. Diese Äxte waren ein Mittelding aus Waffen und Werkzeugen für Steinbrüche.
Ich war mir nun sicher, dass es sich bei den sechs Männern nicht um die Verräter handelte, vor denen Seliim gewarnt hatte. „Warum verfolgen Sie mich?“, frage ich.
„Um Sie zu warnen! Man ist auf Sie aufmerksam geworden. Im Auftrag von Fürst Borran haben Sie mehrere Provinzen bereist. Das Ergebnis war jedes Mal nachteilig für die Kurrether. Verständlich, dass man auf den Einfall gekommen ist, Sie an künftigen Reisen zu hindern.“
Der Mann wartete auf eine Entgegnung, aber ich nickte nur. Solche Befürchtungen hegte ich schon seit einiger Zeit.
„Sie sind in Dongarth nicht mehr sicher!“, fuhr er eindringlich fort. „Verlassen Sie die Hauptstadt und kommen Sie zu uns nach Kirringa. Der Fürst unserer Provinz lädt Sie ein. Sollten Sie diese Einladung ausschlagen, so folgen Sie trotzdem meinem Rat, hier zu verschwinden, so schnell sie können. Bis dahin dürfen Sie sich nur noch im Schutz der Dunkelheit bewegen, auf Schleichwegen, von denen man mir versichert hat, dass Sie alle in Dongarth kennen.“
Diese drastische Warnung überraschte mich. Es dauerte einen Moment, bis ich meine Gedanken beisammen hatte und fragte: „Wissen Sie etwas über die Leute, die man auf mich angesetzt hat?“
„Selbstverständlich nicht. Wir sind neu hier. Aber ist uns aufgefallen, dass wir nie die Einzigen waren, die Ihnen gefolgt sind. Irgendwo im Nebel, irgendwo in den Gassen der Altstadt um Sie herum, waren immer ein oder zwei Männer. Wir konnten sie nicht stellen, nicht einmal nahe genug kommen, um sie genau zu erkennen. Seien Sie gewarnt!“
„Waren Sie die Leute, die ich oben am Berghang hinter mir gehört habe?“
„Am Berg? Nein. Wir sind Ihnen gefolgt, seit Sie die Straße aus diesem höher gelegenen Wohnviertel heruntergekommen sind.“ Er deutete nach Südosten. „Kurz danach kam ein weiterer Mann von dort. Aufgrund der frühen Morgenstunde halten wir das nicht für einen Zufall.“
„Wie sah er aus?“
„Groß, schlank, dunkler Umhang. Er hatte die Kapuze übergezogen, vermutlich um sich vor diesem eklig stinkenden Nebel zu schützen.“
Es konnte nicht Seliim sein, den er meinte. Also war ich tatsächlich verfolgt worden.
Ich bemerkte, wie Passanten, die nun in größerer Zahl die Brücke überquerten, unsere Gruppe im Vorbeigehen anstarrten und miteinander tuschelten. Bald erfuhr die ganze Stadt davon und die ersten Neugierigen und Tagdiebe würden kommen, um nachzusehen, was los war.
„Wir müssen hier weg!“, sagte ich.
Der Anführer der Kirringaner nickte. „Gehen wir gemeinsam zur Bibliothek. Die Schreiber werden bald ihre Arbeit aufnehmen und wir wollen sie nicht warten lassen.“
„Ich muss zum Tempel“, wandte ich ein.
„Das liegt auf dem Weg, soweit ich weiß. Wir begleiten Sie.“
Mit dieser Gruppe als Begleitschutz brauchte ich mich nicht durch Geheimgänge in den Tempel zu schleichen. Aber ich würde mehr auffallen. Deshalb schüttelte ich ablehnend den Kopf.
„Gehen Sie zur Bibliothek“, sagte ich. „Ich werde versuchen, im Laufe des Tages dorthin zu kommen. Dann unterhalten wir uns weiter.“
Wortlos drehten sich die Männer alle zugleich um und marschierten im Gleichschritt los. Ich ließ ihnen einen gewissen Vorsprung, bevor ich folgte. Die Gaffer sollten nicht glauben, ich gehöre zu ihnen.
Wieder mied ich den weiten Platz vor dem Tempel, sondern ging durch Nebenstraßen und Gassen. Mein Ziel war ein unscheinbares Haus in der Altstadt. Dort wartete ich, bis keine Passanten in der Nähe waren. Dann drückte ich die Tür auf, schlich durch den Hausflur und eine Treppe hinunter in den Keller, wo ich eine versteckte Falltür öffnete.
Minuten später betrat ich die Räume unter dem Tempel.