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6 Pregge

Der Azondan war ein breiter, träger Strom, der sich nach Westen auf das Haland-Meer zubewegte. Er ähnelte dem Unterlauf des Donnan: Ich hatte den Eindruck, am Ufer eines Sees zu stehen. Die gegenüberliegende Seite war so fern, dass sie genauso gut nur eine Insel sein konnte. Wasservögel kreisten im leichten Wind über dem Flusslauf. Ihre große Zahl bewies, dass das Gewässer fischreich war.

Die Fähre, für deren Nutzung ich immerhin zwei Heller bezahlen musste, war ein flaches Gebilde mit einem kleinen Führerhaus in der Mitte. Sie bewegte sich entlang eines Bündels aus armdicken Seilen, die über der Wasseroberfläche von Ufer zu Ufer gespannt waren. Den Antrieb lieferte die Strömung, die gegen schräg zum Wasser stehende Finnen unter dem Rumpf drückte. So erklärten es mir andere Passagiere in dem breiten Dialekt, den man hier sprach. Alles klang hart, war aber mit vielen Zischlauten durchsetzt, die mir das Verstehen erschwerten. Dass man den Namen der Stadt Pregge als Preksch aussprach, war ein gutes Beispiel dafür.

Die Fähre fuhr zwei Mal täglich hin und her. Lag sie vertäut im Hafen, hob man das Seilbündel mit Hilfe gewaltiger Maste an, damit Schiffe darunter hindurch konnten.

Die Überfahrt dauerte eine Stunde. In dieser Zeit unterhielt ich mich mit den anderen Reisenden. Es waren Bauern und Händler, die am Nordufer lebten, wo ein schmaler fruchtbarer Streifen Land verlief, der dann in das Ödland überging. Manche brachten an diesem Tag ihre Erzeugnisse in die Hauptstadt der Provinz, andere hatten private Angelegenheiten dort zu regeln.

Es war früher Nachmittag, trotzdem sprachen die Leute von der Abendfähre, im Gegensatz zu der am Morgen. Sobald die Dämmerung einsetzte, musste das Seil hochgezogen werden, weil das eine gute Zeit für die Fischerboote war.

Während wir uns dem gegenüberliegenden Ufer näherten, strengte ich mich an, die Stadt Pregge zu erkennen. Aber ich sah nur eine Hafenanlage mit Lagerhäusern und dahinter eine lockere Anordnung von einzelnen Häusern, zwischen denen viel Platz war. Daher vermutete ich, die Hauptstadt von Kirringa liege weiter im Hinterland und ich könne deshalb die Stadtmauer noch nicht sehen.

Die Passagiere, die ich danach fragte, lachten mich aus. Pregge hatte keine Mauern. Es nahm den größten Teil einer weitflächigen, nicht besonders dicht bebauten Ebene ein, die sich über mehrere Meilen erstreckte. Wie groß Pregge genau war, vermochte niemand zu sagen, schon weil das eine oder andere Dorf außerhalb sich einfach als zur Stadt gehörig betrachtete. Das brachte Vorteile bei der Besteuerung mit sich.

Das Ziel der Fähre war ein aus Holzbohlen gebauter Kai, wo ich die Masten sah, an denen das Seil befestigt war. Masten war nicht der richtige Begriff dafür, weil es sich um Gerüste aus mehreren mächtigen Holzstämmen handelte, die auf dreifache Manneslänge hochgeschwenkt werden konnten. Man hatte bereits Ochsen eingeschirrt, die für diese Arbeit vorgesehen waren. Kaum legte die Fähre an, lösten zwei Matrosen die Rollen von dem Seil und die Ochsen zogen an.

Am gegenüberliegenden Ufer musste es eine vergleichbare Anlage geben, auf die ich jedoch nicht geachtet hatte, als ich im Galopp zur Fähre geritten war.

Das Kai war von einem Bretterzaun umgeben, man konnte von ihm aus nur durch gatterähnliche Tore in die Stadt gelangen. Vor denen standen Wachmänner, die jeden Reisenden mit gelangweilten Blicken musterten. Auch mich und meine Pferde sahen sie kurz an. Man musste mir den weiten Weg anmerken, den ich zurückgelegt hatte. Aber die Wachen gaben durch nichts zu erkennen, dass ihnen etwas Ungewöhnliches auffiel. Ich ging durch das Gatter und folgte einer Straße in die Stadt hinein.

Wie nicht anders zu erwarten, standen am linken und rechten Straßenrand Tavernen. Sie gehörten zu jedem Hafen. Auch hier am Azondan suchten Matrosen und Reisende am Abend Unterhaltung. Die meisten Tavernen machten schon auf den ersten Blick einen billigen Eindruck. Vermutlich boten sie außer Bier und einfachem Essen nur Schlafsäle für die Landbevölkerung an, für Leute wie sie mit mir auf der Fähre gewesen war.

Erst, als ich ein paar Hundert Schritte weiter war, sah ich Gaststätten mit ansprechenden Fassaden und geputzten Fenstern. Ich ging aufs Geratewohl zu einer hin, die einen Anbau mit einem Stall hatte, was bei den meisten nicht der Fall war.

Ich band die Pferde an Posten an, die zu diesem Zweck vor dem Eingang der Gaststätte standen, und nahm die Satteltasche mit meinen wertvollsten Dingen ab. Dann ging ich hinein. Der Wirt war freundlich und nannte einen Preis für eine Person und zwei Pferde, der etwa dem entsprach, was man in Dongarth in der Umgebung des Marktplatzes forderte. Ich akzeptierte und man brachte mich in ein gut ausgestattetes Zimmer im zweiten Stock.

Den Abend nutzte ich, um die Spuren des langen Ritts mit Hilfe von Wasser, Seife und einer kräftigen Bürste loszuwerden. Die schmutzige Kleidung gab ich zum Waschen und Flicken, nachdem ich Ersatz angezogen hatte, der im Gepäck des zweiten Pferdes gewesen war. Dann legte ich mich schlafen.

Als ich am folgenden Morgen herunterkam, wartete der Wirt am Absatz der Treppe auf mich.

„Sie werden im Speisesaal erwartet, Herr von Reichenstein“, sagte er mit einer Verbeugung, die tiefer war, als die am Abend zuvor.

Da ich mich nur mit dem Namen „Reichenstein“ in sein Gästebuch eingetragen hatte, musste ihm jemand meine Identität verraten haben. Ich zögerte, denn ich hatte den Degen nicht umgeschnallt, weil ich nur Frühstücken wollte.

Der Wirt bemerkte es und fügte hinzu: „Der Priester des hiesigen Tempels, der heilige Arostak, erwartet Sie.“

Ich stutzte. „Wird hier in Pregge der heilige Arostak verehrt oder ist der Priester heilig?“

„Der Priester!“, sagte er mit Nachdruck.

Neugierig ging ich in den Speiseraum.

Arostak war nicht zu übersehen. Er saß an einem langen, leeren Tisch, und zwar auf dem mittleren Stuhl an der Längsseite, so dass links und rechts von ihm je vier Plätze unbesetzt waren. Deshalb wirkte er wie ein Richter, der auf einen Angeklagten wartete. Er war ein alter Mann, dessen ansonsten kahlen Schädel ein schmaler Haarkranz zierte. Das Gesicht war scharf geschnitten und von Falten durchzogen, die sein Alter umso deutlicher zeigten, weil er im Gegensatz zu den meisten Priestern keinen Bart trug. Bekleidet war er mit einem weißen Gewand, in das zwei blaue Bänder eingewirkt waren, die von oben nach unten über die Schultern verliefen und Ableger hatten, die den Kragen bildeten. Auch das war ungewöhnlich, denn wenn Leute wie er Verzierungen trugen, waren die meist aus Gold.

An anderen Tischen saßen Gäste beim Frühstück. Außer dem Klappern von Besteck und gelegentlichem Schmatzen war nichts zu hören - niemand sprach ein Wort. Man sah mich und den Priester abwechselnd an, senkte aber rasch wieder den Blick. Ich blieb eine Weile in der Tür stehen und ließ den Eindruck auf mich wirken, bevor ich weiterging.

„Sie sind Arostak und möchten mit mir sprechen?“, fragte ich.

Er sah mich mit einem starren Blick an und sagte: „Sie sind einige Tage später eingetroffen, als ich erwartet hatte. Gab es Probleme auf dem Weg, die Sie aufgehalten haben?“

„Keine“, antwortete ich ohne weitere Erklärung. Ich empfand sein Verhalten als unhöflich, folglich benahm ich mich ebenso. Ich setzte mich auf den Stuhl ihm gegenüber, ohne auf seine Einladung oder auch nur eine Geste von ihm zu warten. Ich hatte nun zwar die Tür im Rücken, was mir immer unangenehm war. Aber ich verließ mich darauf, dass alle Priester in den Ringlanden auf der Seite des Hohepriesters Echterion standen und folglich mir nicht feindlich gesinnt waren. Drohte eine Gefahr, zum Beispiel durch einen neuen Gast, so würde der Alte mich warnen.

Er verzog keine Miene, sondern sagte: „Gut. Pregge ist ein sicherer Ort, aber auch hier haben die Kurrether Einfluss. Sie hätten sich nicht unter Ihrem wahren Namen hier anmelden sollen. Doch was geschehen ist, ist geschehen. Fürst Kirringa erwartete Sie zur Mittagszeit im Palast. Vorher werde ich Ihnen einige wichtige Informationen geben.“

Ich mochte ihn und seine Art nicht, deshalb ging ich nicht auf das ein, was er gesagt hatte, sondern fragte: „Warum nennt man Sie den heiligen Arostak?“

Die Antwort ließ einen Moment auf sich warten, dann sagte er: „Ein Gespräch an diesem Ort bringt uns nicht weiter. Folgen Sie mir zum Tempel!“

Der Befehlston, in dem er das von sich gab, reizte mich zum Widerspruch. „Ich bin hungrig und möchte zunächst in Ruhe etwas essen. Später werde ich Sie im Tempel besuchen.“

Von einem der Tische an der Seitenwand hörte ich ein Raunen. Ich wandte mich um und sah, dass die zwei dort sitzenden Männer, dem Aussehen nach Händler, mich mit großen Augen anstarrten. Offenbar hielten sie es für ungeheuerlich, dass ich der Aufforderung des Priesters nicht widerspruchslos folgte.

„Sie bekommen im Tempel etwas“, sagte Arostak. Er hatte sich erhoben und war um den Tisch herumgegangen. Nun stand er neben mir und ich sah, dass er kleiner war als ich. Er benötigte einen Stock zum Gehen und bewegte sich wie jemand, der sich einmal die Beine gebrochen hatte, die danach ungünstig wieder zusammengewachsen waren.

Er wandte sich um und humpelte zur Tür, wo der Wirt ihn mit einer tiefen Verbeugung passieren ließ.

Ich wartete ein paar Atemzüge, um zu zeigen, dass ich nicht ein Untergebener war, der zu ihm gehorchen hatte, bevor ich ebenfalls aufstand.

Arostak ging vor mir her und ich folgte ihm so langsam, dass immer einige Schritte Abstand zwischen uns blieben. Was nicht einfach war, da er mit seinem Stock nicht schnell vorankam. Die Menschen, denen wir begegneten, verbeugten sich entweder vor ihm, oder wichen ihm aus, indem sie die Straßenseite wechselten. Besondere Beliebtheit bei der Bevölkerung signalisierte das nicht.

Unvermittelt blieb der Priester stehen und wartete, bis ich neben ihm war. Dann zeigte er mit seinem Stock auf ein großes Gebäude, das in einem Park stand. Das Gelände war durch einen hohen Zaun aus Eisenstäben gesichert, hinter denen Laubbäume wuchsen. Es sah idyllisch aus.

„Der Palast des Fürsten“, sagte Arostak. Er senkte den Stock wieder und humpelte weiter.

Es dauerte eine Viertelstunde, bis wir zu einem ähnlich großen Park kamen, der aber nicht eingezäunt war. Zwischen den Büschen und Bäumen sah ich weißen Marmor, und meine Vermutung, dass es sich um den Haupttempel der Stadt handelte, wurde bald bestätigt. Es gab über das Gelände verstreut noch weitere Tempel, kleiner, aber eindrucksvoll. Sie waren alle gleich gestaltet, als Rundbauten mit Säulen. Bei den meisten stand eine Statue in der Mitte. Etwa ein Drittel jedes Bauwerks war abgeteilt und durch eine Tür zugänglich. Dahinter musste sich ein Raum befinden, sicherlich groß genug für ein Büro.

Die Wege waren alle mit Kies belegt und zogen sich sauber zwischen gut gepflegten Grasflächen hin. Hier gab man sich Mühe, dem Besucher einen angenehmen Eindruck zu vermitteln, bevor er das Hauptgebäude zu sehen bekam. Das stand hinter einem Wäldchen aus einem Dutzend Laubbäumen und war fast so groß wie der Tempel des Einen Gottes in Dongarth. Der Baustil war allerdings ein anderer, denn es war einem Wohnhaus nachgebildet, mit drei Stockwerken und Giebeldach. Ein seltsamer Anblick, vor allem, da das gesamte Gebäude ebenfalls aus weißem Marmor errichtet worden war. An einigen Stellen hatte man blaue Muster aufgemalt, die denen auf Arostaks Gewand glichen.

Eine weitere Besonderheit fiel mir auf, als der Priester in einen breiten Weg einbog, der auf den Platz vor dem Gebäude zuführte. Der war ebenfalls mit Kies bestreut und in seiner Mitte sprudelte ein Springbrunnen. Um ihn herum standen zwölf Marmorpferde in Lebensgröße, die alle den Kopf Richtung Tempeleingang gewandt hielten. Sie schienen jemanden zu erwarteten, der von dort kommt.

Vor dem Brunnen blieb der Priester wieder stehen. Als ich bei ihm war, zeigte er mit dem Stock erst rundherum auf die Pferde und dann auf den Tempel.

„Hibbuentos“, sagte er.

Es hörte sich für mich an wie „Hipposch“. Erst später sah ich, wie der Namen geschrieben wurden.

Auf meinen fragenden Blick hin fügte er hinzu: „Gott der Feinhandwerker und der Pferdezüchter.“

„Wie kam es zu dieser Kombination?“, fragte ich.

„Er ist der Gott der Provinz Kirringa, und unsere größten Talente liegen in der Pferdezucht und der Feinmechanik. Wir wissen, dass Hibbuentos beides liebt, aber kein Mensch vereint beide Begabungen in sich, weshalb jeder aus seinem eigenen Antrieb heraus zu unserem Gott betet.“

„Und die ungewöhnliche Form des Tempels?“

„Ist dem Wohnhaus und der Werkstatt eines Feinwerkers nachempfunden. Hier fühlt Hibbuentos sich wohl, und die Pferde drücken ihm ihre Zuneigung aus.“

Er ging weiter, durch die offenstehende Tür in den Tempel hinein, und ich folgte ihm.

Das Innere glich wieder dem Gewohnten. Es bestand aus einem großen Raum, der die vollen drei Stockwerke hoch war. In seinem Zentrum stand eine doppelt mannshohe Statue des Gottes. Sie stellte einen muskulösen jungen Mann dar, bekleidet nicht mit einem wallenden Umhang, sondern mit Handwerkerhosen und einem weiten Hemd. Natürlich war alles aus weißem Marmor. In der Linken hielt er ein kleines Werkzeug, dessen Funktion ich nicht kannte, von der Rechten hing das Zaumzeug eines Pferdes herunter.

Um die Statue herum standen Marmorbänke, auf die sich Priester oder Anbetende setzen konnten; im Moment war jedoch niemand hier. Eine Tür in der Rückwand führte weiter in den Tempel hinein.

Arostak ging dorthin, drückte die Tür auf und verschwand dahinter. Ich folgte ihm und kam in eine Halle voller Götterstatuen, alle so groß wie Menschen. Es musste dreißig sein, wenn nicht mehr. Ich erkannte die wichtigsten von ihnen, die auch in Dongarth verehrt wurden: Fanna, Zelchen, Thon, Atto, Ener und Newo.

„Sind dies Statuen sämtlicher Götter, zu denen in den Ringlanden gebetet wird?“

Der Priester wandte sich zu mir um. „Nur derjenigen, die wir in Kirringa anerkennen. Mag der Tempel des Einen Gottes in Dongarth ihre Taten für echtes Götterwerk halten, wir prüfen noch einmal.“

Das war so unerhört, dass ich eine Weile stehenblieb, während er weiterging und den Saal durch die hintere Tür verließ. Dieser kleine, alte Mann nahm sich heraus, die Entscheidungen des Einen Gottes in Frage zu stellen! Oder zumindest diejenigen seiner Priester und Echterions. Ich war kein besonders gläubiger Mensch, aber ich hätte erwartet, dass der Eine Gott so einen Tempel wie diesen hier längst durch einen Donnerschlag dem Erdboden gleichgemacht hatte. War mein Seelenheil in Gefahr, wenn ich mich hier aufhielt? Sollte ich fliehen, bevor der göttliche Zorn mich dafür strafte, dass ich mit einem Priester dieses Tempels redete?

Wie gesagt, ich war kein besonders gottesfürchtiger Mensch, deshalb überwand ich den momentanen Anfall einer Angst, die mir vermutlich als Kind anerzogen worden war. Ich folgte Arostak in den nächsten Raum, der sich als normales Empfangszimmer herausstellte, von dem viele Türen abgingen, wahrscheinlich in Büros. Eine hübsche junge Frau in einer weißen Robe saß hinter dem einzigen Schreibtisch. Sie schrieb mit einer Feder in eine Kladde und hob nur kurz den Kopf, als wir eintraten.

Arostak sagte laut: „Etwas zu essen!“

Die junge Frau stand auf und verließ den Raum. Ihr Blick streifte mich, als sie an mir vorbeikam, aber ich sah darin kein Interesse und nicht einmal die Andeutung eines Lächelns in ihrem Gesicht.

Der Priester wartete in einer offenen Tür. Zum ersten Mal ging er ausführlicher auf etwas ein, das mich interessierte, nämlich diese Frau. „Esra, meine jüngste Tochter“, sagte er unaufgefordert. „Ich habe acht Töchter und jede zweite von ihnen dient dem Tempel, die übrigen heiraten. So habe ich es festgelegt, so wird es gehandhabt.“

„Haben Ihre Frau und ihre Töchter nichts gegen diese Regelung?“

Er warf mir einen Blick zu, als zweifle er an meinem Verstand, dann ging er weiter.

Wir kamen in ein Büro, das einfach möbliert war mit einem Schreibtisch, einigen Stühlen und einem Regal mit Büchern. Nichts hier erinnerte daran, dass wir uns in einem Tempel befanden. Ein Fenster spendete Licht, aber es war knapp unterhalb der Decke, also zu hoch, um hindurchzusehen. Es wäre sicherlich ein entspannender Ausblick gewesen, hinaus in den Park.

Ich setzte mich und einen Moment später erschien Arostaks Tochter mit einem Tablett, auf dem ein Teller, ein Glas und ein Krug standen. Sie stellte alles vor mich hin, legte Besteck dazu und ging wieder, ohne ein Wort zu sprechen. Enttäuscht betrachtete ich, was sie mir gebracht hatte. In dem Krug war Wasser und auf dem Teller lagen eine Scheibe Brot, verschiedene Wurzelgemüse und einige Apfelschnitze. Ein Frühstück stellte ich mir anders vor.

„Nur wer gesund isst, kann lange den Göttern und den Menschen dienen“, behauptete Arostak.

„Wie alt sind Sie?“

„Zweiundachtzig. Mit sechsunddreißig hat mich im Ödland von Arbaran ein Pferd abgeworfen und man ließ mich für tot liegen. Aber ich habe überlebt, mitten in der Wildnis. Ich habe mich mit gebrochenen Beinen, auf dem Boden windend wie ein Wurm, fortbewegt bis zum Lagerplatz eines Schäfers. Man hielt mein Überleben für das Zeichen einer besonderen Gunst der Götter. Seitdem nennt man mich den heiligen Arostak. Aber das ist nur Gerede der einfachen Leute, selbstverständlich bin ich kein Heiliger. Wäre ich jedoch damals ein verweichlichter Fettsack gewesen, säße ich heute nicht hier. Also essen Sie, was meine Tochter Ihnen gebracht hat!“

Ich gehorchte und biss in ein Apfelstück.

„Folgendes ist wichtig“, begann er. „Pregge ist nun der Endpunkt der Straße der Diebe. Hier werden die Gegenstände, die man aus den anderen Regionen der Ringlande bringt, ordentlich verpackt und vorbereitet für den Weitertransport nach Kroyia. Außerdem beginnt hier die Reise der Auswanderwilligen aus den südlichen Provinzen. Wir statten sie mit allem Notwendigen aus, nicht zuletzt mit guten Pferden, für die Kirringa bekannt ist. Beides ist so wichtig, dass Pregge niemals von den Kurrethern infiltriert werden darf. Wir gehen hart gegen jeden vor, den wir für einen Verräter halten.“

„Gibt es hier keine Kurrether in der öffentlichen Verwaltung und in den Gilden?“

„Selbstverständlich gibt es die. Es würde sie misstrauisch machen, wenn wir das unterbinden. Aber wir haben ein ausgeklügeltes System entwickelt, das sie beschäftigt hält, und doch alles Wichtige um sie herum leitet.“

„Wer organisiert das?“, fragte ich undeutlich, während ich an einer rohen Karotte kaute.

„Was die Transporte und die Auswanderer betrifft: der Fürst und seine engsten Mitarbeiter. Wenn es um die Abwehr von Feinden und Spionen geht: die Priesterschaft dieses Tempels.“

Das erstaunte mich. „Wie denn das? Mit Gebeten oder mit dem Schwert?“

„Machen Sie sich nicht lächerlich. Selbstverständlich beten wir um die Unterstützung von Hibbuentos. Er ist ein wehrhafter Gott und verabscheut Verrat. Aber wenn es darum geht, Gegner auszuschalten, nutzen wir die bekannten Methoden, die ich Ihnen jetzt nicht aufzählen will.“

„Sind sie wirksam?“

„Wir haben außerhalb der Stadt einen eigenen Friedhof für diejenigen, die sich gegen uns zu stellen versuchten.“

„Das ist beruhigend“, behauptete ich. Mit großen Schlucken trank ich das Glas leer, um die kärgliche Mahlzeit hinunterzuspülen.

„Das sollte es auch sein, gerade für Sie. Denn Sie werden verfolgt und man trachtet Ihnen nach dem Leben. In Pregge sind Sie sicher. Falls Sie die Stadt verlassen wollen, so informieren Sie mich unbedingt rechtzeitig, damit ich einen Schutz organisieren kann.“

„Danke für das Angebot. Was gibt es noch an Wichtigem?“

„Falls Sie länger hierbleiben, suchen Sie sich eine Wohnung. Sollte Ihnen das nötige Geld fehlen, lege ich es aus. Denken Sie darüber nach, mit welcher Arbeit Sie sich nützlich machen können, und verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt selbst. In zwei Jahren wird man Sie in Dongarth vergessen haben. Dann werden wir überlegen, ob Sie dorthin zurückkehren oder ob man sie anderswo sinnvoll einsetzen kann, zum Beispiel in Kroyia. Und vor allem: Halten Sie den Mund, reden Sie nicht mit Fremden, seien Sie nicht zu vertrauensselig.“

Ich dachte, ich hätte mich verhört. „Wie bitte?“, fragte ich nach.

„Sie sollen Fremden nicht vertrauen“, wiederholte er.

„Das meine ich nicht. Sie sagten, ich solle zwei Jahre hier in Pregge verbringen! Mich verstecken und mir eine Arbeit suchen, als sei ich ...“

„Als seien Sie ein braver Bürger, der seinem gottgefälligen Tagwerk nachgeht, genau das. Glauben Sie, wir werden Sie für Aufgaben einsetzen, die mit unserer Sache zu tun haben? Keinesfalls! Jeder, der Sie erkennt, wird dann eine Spur haben, die zu unseren Aktivitäten führt. Übrigens, beschaffen Sie sich Ersatz für diesen Kaiserdegen. Landesübliche Kleidung, eine neue Waffe und ein etwas veränderter Akzent werden Sie zu einem anderen Menschen machen.“

„Keinesfalls!“, sagte ich.

„Ich kann Sie nicht zwingen. Aber Sie sollten mit unserem Fürsten darüber reden.“ Arostak sah hinüber zum Bücherregal. „Er erwartet Sie in vierzig Minuten. Machen Sie sich auf den Weg.“

Ich folgte seinem Blick und sah eine Uhr dort stehen, die nur eine halbe Handspanne hoch und breit war. Sicherlich das Meisterstück eines der hiesigen Handwerker, denn eine so kleine Uhr hatte ich noch nirgendwo gesehen. Das erinnerte mich an etwas: „Ich habe vor einigen Monaten einen Mann aus Ostraia kennengelernt, der behauptete, dort baue man Uhren, die kompakter und besser sind, als alles, was wir in den Ringlanden kennen. Und trotzdem billiger.“

„Ein Gerücht“, sagte er abfällig. „Einer unserer besten Feinwerker wird sich bald auf den Weg dorthin machen. Sollte es diese Wunderwerke tatsächlich geben, so wird er ihre Herstellung erlernen und dieses Wissen in der neuen Heimat unseres Volkes anwenden. Und jetzt gehen Sie.“

Das tat ich. Ich durchquerte den Vorraum und lächelte der Tochter des Priesters zu, die jedoch nicht darauf reagierte. Der Saal mit den Statuen war immer noch menschenleer, ebenso wie der eigentliche Tempel mit dem Gott Hibbuentos, der Vorplatz mit den Pferden und die Parklandschaft draußen. Nun ja, dachte ich, vielleicht sind alle Priester unterwegs, um Spione und Verräter zu jagen.

Da ich noch genügend Zeit hatte, ging ich zu einem der kleinen Marmorbauwerke und sah hinein. Es unterschied sich von den anderen, denn im Mittelpunkt stand keine Statue, sondern eine Rundbank - natürlich aus weißem Marmor. Erst, als ich eintrat, sah ich den Gegenstand der Anbetung: Eingeritzte Zeichnungen bedeckten die Rückwand, in der die Tür zum hinteren Teil war. Dargestellt waren die Gestalt des Gottes Zelchen und die Wundertaten, die man ihm zuschrieb. Dieses Kunstwerk war so fein ausgeführt, dass man nur durch die Wirkung von Licht und Schatten die Bilder wahrnehmen konnte.

Beeindruckt wandte ich mich um - und stürzte zu Boden, weil mich jemand mit einem gekonnten Griff zu Fall brachte, mir dann mit der einen Hand den Mund zuhielt und mit der anderen einen Dolch an die Kehle.

Die Auswanderer

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