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3 Einbrecher

Fürst Borran war mit unbekanntem Ziel verreist. Aber das bedeutete nicht, dass in seiner Residenz jeder tun und lassen konnte, was er wollte. Sein Leibdiener Romeran, inzwischen über achtzig Jahre alt, führte ein straffes Regime. Als ich in die Eingangshalle trat, war er dabei, zwei Frauen dafür zurechtzuweisen, dass die Gästezimmer heute noch nicht gelüftet worden waren. Was für einen Eindruck sollten Gäste haben, falls welche überraschend ins Haus kamen? Die Ausrede, der stinkende Nebel des frühen Morgens hätte sonst schlechte Gerüche hereingetragen, ließ er nicht gelten. Der Vormittag sei vorbei. Und überhaupt ...

Die Dienerinnen hatten Glück, denn mitten in seiner Schelte sah Romeran mich. Er brach ab, schickte die beiden weg und wandte sich mir zu.

„Herr von Reichenstein, als Magi Achain und Fürst Borran Sie mit dem Schutz der neuen Bibliothek beauftragten, haben sie erwartet, dass Problemen vorgebeugt wird und Schaden abgewendet. Diesen Erwartungen scheinen Sie nicht gerecht zu werden!“

„Was ist passiert?“, fragte ich. Seine schlechte Laune nahm ich ihm nicht übel, er zeigte sie jedem gegenüber, der nicht seinen Vorstellungen von Perfektion entsprach.

„Ein Einbrecher hat versucht, in den Keller mit den wertvollsten Büchern einzudringen. Es soll nicht unerheblicher Schaden angerichtet worden sein.“

Das hatte ich nicht erwartet. „Was wurde gestohlen“?

„Dem ersten Augenschein nach - nichts. Der oberste Schreiber Leviktus hat bereits drei Mal Boten nach Ihnen geschickt, ins Handelshaus Oram und hierher. Wo waren Sie?“

„Ich habe Oberpriester Echterion bei einem Besuch in der Königsburg begleitet.“

Das kompensierte einen Teil seines Ärgers, denn ich war bei höhergestellten Personen gewesen, was in seinen Augen bedeutete, dass meine Abwesenheit gerechtfertigt war.

„Danach bin ich auf schnellstem Weg hierher gekommen“, fügte ich hinzu, und damit hatte ich gewonnen.

„Kehren Sie bitte umgehend in die Stadt zurück und suchen Sie die Bibliothek auf.“

Romeran war nicht nur Leibdiener des Fürsten, sondern inoffiziell auch dessen Vertrauter, weil er ihn seit der Geburt kannte. Gewöhnlich war er über alles unterrichtet, was sich tat. Deshalb war die Vermutung, dass er auch etwas über die Fremden wusste, die mich verfolgten, nicht abwegig. Aber er war verschwiegen. Ich versuchte es mit einer Fangfrage: „Haben Sie einen Vorschlag, wie ich ungesehen in die Stadt gelangen kann?“

Er stutzte und sagte dann: „Sie befürchten eine Gefahr?“

„Echterion hat mich eindringlich gewarnt, wie übrigens auch Fürst Borrans Zuträger Seliim. Offenbar zurecht. Auf dem Weg hierher wurde ich von zwei Männern verfolgt.“

„Wir sollten das nicht hier besprechen“, sagte er. „Gehen wir nach oben.“

Ich folgte ihm die Treppe hoch, was eine Weile dauerte, denn er war nicht mehr so gelenkig wie in früheren Jahren. In Borrans Büro schloss er die Tür hinter uns und blieb stehen. Er hätte es sich nie herausgenommen, sich in Gegenwart des Fürsten zu setzen, und hier war der gefühlt immer gegenwärtig. Dieses Büro war der zentrale Raum der Residenz.

„Berichten Sie!“, forderte Romeran mich auf.

Ich erzählte ihm das Wenige, was ich gehört und erlebt hatte. Seine Reaktion bestand aus längerem Schweigen, bevor er zum Schreibtisch ging und eine Schublade aufzog. Er nahm mehrere verschlossene Briefumschläge heraus, die, soweit ich erkennen konnte, alle das Siegel des Fürsten trugen.

„Kirringa, sagten Sie?“, fragte er.

„Die sechs Männer? Ja, eindeutig.“

„Ich meinte, wohin zu reisen Ihnen der Hohepriester geraten hat.“

„Auch das war Kirringa. Die Hauptstadt Pregge.“

Er legte alle Umschläge bis auf einen zurück in die Schublade, nahm dafür aber einen Lederbeutel heraus. Dann kam er zu mir und gab mir beides.

„Ein Empfehlungsschreiben, das Sie bitte dem Fürsten von Kirringa überreichen“, sagte er. „Und Geld für die Reise. Fürst Borran hat Probleme dieser Art vorausgesehen und entsprechende Vorbereitungen getroffen. Trotzdem sollten Sie sich um die Bibliothek kümmern, bevor Sie Dongarth verlassen. Beauftragen Sie andere Personen damit, sie zu schützen. Auch dafür ist das Geld vorgesehen.“

„Merion hat mir versichert, dass die Diebesgilde die Bibliothek nicht berauben wird“, sagte ich. Mit Romeran konnte ich offen darüber reden, dass ich mit dem Anführer der Gilde befreundet war. „Zu mehr werde ich ihn nicht bewegen können. Man kann nicht erwarten, dass seine Leute auch noch andere daran hindern, Verbrechen zu begehen.“

„Sprechen Sie mit ihm! Sie können auch ihre persönlichen Freunde bitten, die Rolle der Wächter zu übernehmen. Es geht nicht nur darum, die wertvollen Bücher zu schützen, sondern den Schreiberinnen und Schreibern das Gefühl zu vermitteln, sie werden gut behütet.“

Damit hatte er auf jeden Fall Recht. Diese Leutchen waren ein Leben ohne Gefahren gewohnt, mehr noch als alle anderen Ringländer. Sie hatten sich bereiterklärt, sich an der geheimnisvollen Aktion zu beteiligen, was manchen sicherlich Überwindung gekostet hatte. Wenn reale Bedrohungen auftauchten, bestand die Möglichkeit, dass der eine oder die andere aufhörte. Das musste verhindert werden, es waren sowieso schon zu wenige, um die ihnen gestellte Aufgabe in den nächsten Jahren zu erfüllen.

„Ich rede mit Serron“, versprach ich. „Er kann sich mit Gendra und Martie abstimmen, so dass immer einer von ihnen in der Bibliothek ist - zusätzlich zu den fürstlichen Wachsoldaten.“

Romeran nickte. „Tun Sie das. Es geht durchaus auch darum, Präsenz zu zeigen. Was Ihre Frage nach einem Schleichweg hinunter in die Stadt betrifft, so kann ich Ihnen leider keine Ratschläge geben. Ich denke, das ist ein Gebiet, auf dem Sie sich besser auskennen als ich.“

Ich dachte an die Möglichkeit, einen Diener aus der Residenz in die Innenstadt zu schicken, um meinen Freunden eine Nachricht zu bringen. Sie könnten hochkommen und mich eskortieren. Aber ich verwarf den Gedanken gleich wieder. Wenn ich in Dongarth nicht mehr ohne Schutz auskam, dann war ich überall in den Ringlanden ein leichtes Opfer und mein Leben sowieso nichts wert. Deshalb machte ich mich nachmittags alleine auf den Weg.

Ich ging langsam und achtete auf jeden, der in Sichtweite kam. Immer wieder drehte ich mich kurz um, damit mich niemand von hinten überraschen konnte. Dabei vermied ich diesmal Umgehungen und Gassen. Stattdessen nutzte ich die breite Straße, bis ich auf dem Vorplatz des Tempels ankam. Es herrschte reger Trubel. Die vielen Menschen, die in der Nordstadt arbeiteten und in der Altstadt wohnten, kamen um diese Zeit hier vorbei. Verkaufsstände warben am Rand des Platzes mit ihren Waren, wie jeden Nachmittag, damit die Heimkommenden schnell etwas mitnehmen konnten. Denn wer arbeitete, war nicht in der Lage, morgens den großen Markt am West-Tor aufzusuchen. Mitten auf dem Platz duldeten die Priester zwar keine Händler, aber gegen das geschäftige Treiben rundherum hatten sie nichts einzuwenden.

Von hier aus war es nicht weit zur Bibliothek, die in einem ehemaligen Handelshaus eingerichtet worden war. Genau genommen war es mehr als eine Bibliothek, denn ihre Hauptaufgabe bestand nicht darin, Bücher zu sammeln und auszuleihen, sondern sie zu kopieren oder neu zu verfassen. Das gesamte Wissen der Ringlande sollte so zu Papier gebracht werden, damit man es später außer Landes schmuggeln konnte.

Ich sah mich auf dem Platz um. Einige Gesichter kannte ich, doch die meisten Menschen waren für mich Fremde. Das konnte in einer so großen Stadt gar nicht anders sein. Weder die beiden verdächtigen Männer vom Vormittag, noch die sechs Kleinwüchsigen aus Kirringa entdeckte ich. Aber auch das Fehlen anderer Personen fiel mir bald auf: Ich sah nirgends Taschendiebe und Trickbetrüger. In diesem Milieu kannte ich mich aus, ich war selbst in meiner ersten Zeit in Dongarth Schüler von Merion gewesen. Inzwischen beherrschte ich nicht mehr viele der damals erlernten Tricks, mangels ständiger Übung. Aber ich erkannte ein Mitglied der Diebesgilde auf den ersten Blick. Diese Leute waren immer dort anzutreffen, wo sich viele Menschen aufhielten. Nur hier und heute nicht.

Ich drehte mich langsam um mich selbst, um sicher zu sein, dass ich niemanden übersah. Dann ging ich noch aufmerksamer und misstrauischer auf die Einmündung der Straße zu, die zur Bibliothek führte. Ich hielt zwar den Degen nicht in der Hand, aber ich war jederzeit bereit, einen Angriff zu parieren, woher auch immer er kommen mochte. Wenn es sich nicht gerade um einen Pfeil handelte, der aus dem Fenster eines der Häuser abgeschossen wurde, die den Platz umstanden.

Was dann geschah, überraschte mich trotzdem.

Eine Frau, die mir entgegen kam, schrie auf und starrte mich entsetzt an. Dabei hob sie die Arme, als würde ich sie belästigen und sie sich wehren. Ich versuchte, ihr aus dem Weg zu gehen, aber da waren schon Passanten heran, die die Situation missverstanden und mich abdrängten. Plötzlich befand ich mich im Mittelpunkt eines ganzen Knäuels von Menschen. Bevor ich begriff, was vor sich ging, spürte ich einen Schmerz in der rechten Seite. Jemand hatte mich mit einem Messer verletzt.

Ich wollte ausweichen, wurde aber von hinten umfasst und zu Boden gezogen. Mehrere Männer drückten mich nach unten, obwohl ich mich verzweifelt wehrte.

Bis mir einer ins Ohr brüllte: „Hör auf, du Dummkopf! Wir wollen dir helfen!“

Ich sah das Gesicht des Kerls vor mir und gab meinen Widerstand auf. Es war ein Trickdieb mit Namen Marraur, einer der Vertrauten von Merion. Einen Moment später packte er mich am Arm und zog mich hoch, wobei er von zwei anderen Männern unterstützt wurde.

„Wir müssen verschwinden, bevor die Stadtwache hier ist. Kannst du gehen?“

Ich machte ein paar Schritte. Zwar spürte ich Schmerzen in der rechten Hüfte, aber sie waren zu ertragen. Also folgte ich meinem Helfer in eine Seitengasse. Mehrere Leute, in denen ich Angehörige der Diebesgilde erkannte, deckten unseren Rückzug.

Wie nicht anders zu erwarten, führte mich Marraur in einen Hinterhof und von dort aus in einen Verschlag, in dem Holz für den Winter lagerte. Solche Verstecke kannte man in seinem Gewerbe überall in der Stadt.

„Danke!“, sagte ich und lehnte mich gegen einen Stapel Holzscheite. „Was ist geschehen?“

„Ein Straßenmädchen hat als Lockvogel die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, sicherlich gegen Geld. Jeder wollte ihr helfen und dich abdrängen, und in dem Durcheinander hat sich ein Fremder an dich herangemacht. Lass die Wunde sehen. Sie blutet noch.“

Vorsichtig zog ich das Hemd hoch. Ich hatte einen Stich in die Hüfte abbekommen, der zum Glück nur oberflächlich war. Etwas tiefer und die Klinge wäre in den Bauchraum eingedrungen - eine Verletzung, die oft tödlich endete.

„Nur ein Kratzer“, kommentierte Marraur. „Geh zu einem Heiler und lass Salbe drauf machen, damit er sich nicht entzündet. Am besten, ich bringe dich zu einem, den ich kenne und der keine Fragen stellt.“

„Ich habe nichts verbrochen“, protestierte ich.

„Das wird das bezahlte Straßenmädchen der Stadtwache anders erzählen. Komm mit.“

„Warum ward ihr so schnell zur Stelle?“, fragte ich. „Ich hatte mich schon gewundert, niemand von euch auf dem Platz zu sehen.“

„Merion hat uns aufgetragen, dich im Auge auf zu behalten. Er muss etwas geahnt haben. Du kennst ihn ja, manchmal weiß er mehr, als er zugibt.“

Auf Umwegen brachte man mich zu einem Heiler, dessen Haus einige Straßen von der Bibliothek entfernt stand. Der Mann wunderte sich nicht darüber, dass wir durch die Hintertür kamen. Er sah meine Wunde an, verteilte eine übel riechende Einreibung an ihren Rändern und legte mir einen Verband an, der mir übertrieben dick vorkam. Dafür forderte er auch ein übertrieben hohes Honorar, das ich widerspruchslos bezahlte. Verschwiegenheit hatte ihren Preis.

Dann geleiteten mich meine drei Helfer bis zum Eingang der Bibliothek. Marraur ging sogar hinein, um sicherzustellen, dass sich im öffentlichen Bereich kein möglicher Angreifer aufhielt.

Ich verabschiedete mich von ihm und betrat das Büro von Leviktus, dem ein erschrockener Ausruf entfuhr, als er mich sah. Mein blutiges Hemd und die vom Gerangel zerfledderte Kleidung boten allen Grund dafür.

„Es ist nichts Schlimmes geschehen“, beruhigte ich den obersten Schreiber. „Ich werde mich nicht setzen, um den Stuhl nicht schmutzig zu machen.“

„Ich hole Ihnen etwas zu trinken“, sagte er, nachdem er sich von dem Schreck erholt hatte.

Nach ein paar Minuten kam er zurück und stellte eine Tasse mit herrlich duftendem askajdanischen Thee vor mich hin. Außerdem brachte er ein Tuch mit, das er über einen der Stühle legte, damit ich mich setzen konnte, ohne den Bezug zu verdrecken.

„Was ist geschehen?“, fragte er dann.

„Ein Zwischenfall, der nichts mit der Bibliothek zu tun hat“, behauptete ich. „Ich bin gekommen, weil ich von einem versuchten Einbruch gehört habe. Also gebe ich die Frage an Sie zurück: Was ist geschehen?“

„Sie wissen, dass sich hier im Gebäude ein besonders gesicherter Kellerraum befindet. Dort werden unter anderem versiegelte Folianten der Magischen Akademie des Zeuth und des Tempels des Einen Gottes aufbewahrt. Tagsüber stehen zwei Wachsoldaten vor dem Eingang.“

Ich nickte, weil ich mir diesen Raum vor einigen Monaten angesehen hatte, als die Regale gerade aufgestellt worden waren.

„Letzte Nacht ist jemand in die Bibliothek eingebrochen. Er konnte das Schloss der Eingangstür öffnen und hinterließ dabei nur ein paar Kratzer.“

„Also ein Einbrecher, der sich damit auskennt.“

„Die Stadtwache sagte, es müsse einer der besten Diebe sein, die sich in Dongarth herumtreiben, denn das Schloss ist teure Qualitätsarbeit. Jedenfalls, der Täter hat sich dann an der Kellertür zu schaffen gemacht. Die ist zusätzlich gesichert durch ein spezielles Federwerk, das in der Provinz Kirringa hergestellt wurde. Man benötigt nicht nur einen Schlüssel, um die Tür zu öffnen. Man muss anschließend einige kleine Metallstifte in der richtigen Reihenfolge drücken.“

Kirringa war bekannt für die rassigen Pferde, die man dort züchtete, aber auch für seine Handwerker, die feinste mechanische Vorrichtungen herstellen konnten. Die meisten Uhren in den Ringlanden stammten aus dieser Provinz. Sie wurden in monatelanger Handarbeit von Uhrmachern hergestellt und waren entsprechend teuer.

„Von so etwas habe ich noch nie gehört“, gab ich zu. „Wie funktioniert dieser Mechanismus?“

„Das ist mir ein Rätsel. Aber kommenden Monat werden wir Handwerker aus Pregge hier haben, um ihr Wissen für unsere Bibliothek aufzuzeichnen. Ich hoffe, sie verraten uns auch, wie man solche komplizierten Geräte herstellt.“

„Der Einbrecher ist mit dieser zusätzlichen Sicherung nicht zurecht gekommen?“, hakte ich nach.

„Vermutlich hat er nicht einmal bemerkt, dass die Tür damit gesichert ist. Die Stifte sind im Beschlag der Tür angebracht und sehen aus wie Verzierungen. Der Mechanismus arbeitet fast geräuschlos, allerdings muss er jeden Abend aufgezogen werden, wie eine Uhr. Das gehört zu meinen täglichen Aufgaben, bevor ich die Bibliothek verlasse.“

„Wir müssen also zum einen die Eingangstür sicherer machen und zum anderen darauf achten, dass das Geheimnis dieses Mechanismus nicht bekannt wird. Wie viele Menschen wissen davon?“

„Selbstverständlich Fürst Borran, Hohepriester Echterion und Magi Achain. Hier in der Bibliothek außer mir noch zwei Schreiber. Die Wachsoldaten sehen, wie wir seltsame Bewegungen machen, bevor wir die Tür öffnen. Ich hoffe, sie sind zuverlässig und verraten nichts.“

Da es sich um Männer handelte, die Fürst Borran ausgewählt hatte, war diese Hoffnung berechtigt. Trotzdem waren die Soldaten diejenigen, von denen man am ehesten befürchten musste, dass sie das Geheimnis ausplauderten. Und sei es nur abends in der Taverne, um darüber zu spotten, wie seltsam sich die Schreiber der Bibliothek manchmal benahmen.

„Wie läuft die Arbeit sonst?“, fragte ich.

„Problemlos. Das Kopieren vorhandener Bücher sowieso, und auch das Erfassen noch nicht dokumentierten Fachwissens durch unsere Schreiber hat sich eingespielt. Sie wissen inzwischen, welche Fragen sie stellen müssen, damit ihnen Handwerker das erklären, was nicht in den branchenüblichen Anleitungen für die Ausbildung steht. Die ganzen kleinen Kniffe, die man sonst nur mündlich weitergibt.“

„Fällt die rege Reisetätigkeit von Handwerkern und auswärtigen Handelsherren inzwischen auf?“

„Ja, aber wir haben eine glaubhafte Begründung dafür gefunden: Wir behaupten, sie kommen, um sich hier in der Bibliothek weiterzubilden.“

Ich lachte darüber, musste mich aber belehren lassen, dass das voreilig war. Es kamen inzwischen sogar ernst gemeinte Anfragen, zum Beispiel von Junghandwerkern, ob sie an solchen Weiterbildungen teilnehmen können.

„Was sicherlich damit zu tun hat, dass wir die Kosten für Anreise und Unterkunft übernehmen“, gab Leviktus zu.

„Dann würde ich auch kommen. Welcher Provinzler lässt sich schon die Möglichkeit entgehen, kostenlos einige Zeit in der Hauptstadt zu verbringen.“ Ich wurde wieder ernst. „Wie verläuft der Abtransport?“

„Schwieriger als erwartet. Wie Sie wissen, sind wir durch einen Tunnel mit einem Lagerhaus des Handelshauses Prehm verbunden. Der junge Prehm, dem früher dieses Gebäude gehört hat, ist ein Vertrauter des Hohepriesters. Duplikate von wichtigen Büchern werden nach Fertigstellung dorthin gebracht. Aber seit die Kurrether immer wieder Stichproben bei Fuhrwerken durchführen, die die Stadt verlassen, ist die Gefahr gestiegen, dass unsere Folianten entdeckt werden.“

„Stichproben? Davon habe ich noch nichts gehört!“

„Man behauptet, es werde immer öfter versucht, das Stapelrecht zu umgehen. Also die Pflicht jedes auswärtigen Händlers, seine Güter hier in Dongarth für drei Tage zum Verkauf anzubieten, bevor er sie weitertransportieren darf. Die Hauptstadt verdankt einen Teil ihres Wohlstands der strikten Einhaltung des Stapelrechts. Bisher fanden Kontrollen nur an den beiden Handelshäfen am Donnan statt, nicht bei Waren aus der Stadt. Der Sinn erschließt sich mir nicht, aber der Vorsitzende des Rats der Handelsherren hat der Regelung zugestimmt.“

„Der Vorsitzende ist ein Kurrether“, sagte ich. „Von wem kam die ursprüngliche Idee für die Kontrollen?“

„Von Rat Geshkan, so hört man. Offiziell wird das aber nicht zugegeben. Das Königshaus hält sich traditionell aus den Angelegenheiten der Handelsherren heraus.“

Wir unterhielten uns noch eine Weile, bis die Schließstunde der Bibliothek nahte. Mit großer Wahrscheinlichkeit warteten meine Widersacher in der Nähe des Gebäudes darauf, dass ich herauskam. Deshalb bat ich Leviktus, den Tunnel benutzen zu dürfen, der zum Lagerhaus von Prehm führte.

„Selbstverständlich“, sagte er. „Aber es liegt nicht in der Richtung, in die Sie wollen, sondern kurz vor der Breiten Brücke am Südufer des Donnan.“

„Das macht nichts. Wichtig ist, dass mich dort niemand erwartet. Dann finde ich einen sicheren Weg durch die Stadt.“

Von ihm geführt ging ich in den Keller der Bibliothek, wo ich aufmerksam die Bewegungen verfolgte, die er machte, um die einzelnen Stifte zur Entriegelung der mechanischen Sicherung in der richtigen Reihenfolge zu drücken. Ein leises Surren ertönte, und er konnte das normale Türschloss mit einem kompliziert aussehenden Schlüssel öffnen.

Durch den Raum mit den Büchern hindurch gelangte ich in den Tunnel, der zum Lagerhaus führte.

Die Auswanderer

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