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5 Ergan Rozzary

Mit meinen drei Freunden ging ich hinunter ans Ufer der Reena. Dort waren nachts die wenigsten Leute unterwegs, und der bereits aufsteigende Nebel bot uns zusätzliche Sicherheit.

Langsam spazierten wir westwärts, überquerten den Fluss Richtung Stadtmitte und erreichten unbehelligt die Nordseite der Brücke am Rand des vornehmen Bergviertels. Die Bürger, die hier lebten, hatten dieses Bauwerk nicht nur mit Statuen von Göttern verzieren lassen, sondern bezahlten auch für eine nächtliche Beleuchtung. Das war ein Luxus, den es sonst nirgends in der Stadt gab.

Hier traf man nachts nicht auf Ganoven, denn die scheuten das Licht. Allerdings wurde man selbst schon von weitem gesehen. Doch es gab trotzdem einen Ort, der gut für uns geeignet war, und zwar unter dem Brückenansatz, direkt am Wasser. Hier war man im Dunkeln, also nicht erkennbar für Passanten, hörte aber jeden, der sich über die Brücke oder die gepflasterte Straße näherte. Wir setzten uns ans Ufer und unterhielten uns flüsternd über die Ereignisse des Tages.

„Du musst aus der Stadt verschwinden!“, forderte Serron abschließend. „Drei Mal hast du Glück gehabt und deine Gegner konnten dir nichts anhaben. Abgesehen von der Verletzung an deiner Hüfte. Aber morgen ist vielleicht dein letzter Tag, wenn du noch hier bist.“

„Diesen Ratschlag gibt mir jeder“, beschwerte ich mich. „Trotzdem muss ich vorher einige Dinge klären. Den Schutz der Bibliothek organisieren, zum Beispiel. Mit Magi Achain absprechen, was weiter zu tun ist. Noch einmal mit Romeran reden. Vielleicht verrät er mir doch, wo Fürst Borran zu erreichen ist, da sich die Lage in der Stadt spürbar zuspitzt. Und ähnlich Wichtiges. Könnt ihr mich hoch zu Borrans Residenz begleiten?“

Sie stimmten zu und wir machten uns auf den Weg. Es dauerte keine Viertelstunde, bis wir unser Ziel erreichten.

Ich klopfte und erwartete, dass einer der Diener der Nachtschicht mir öffnete, aber es war Romeran persönlich. Als ich meine Freunde verabschieden wollte, schüttelte er den Kopf.

„Bitte kommen Sie alle herein!“, forderte er sie auf.

Wir standen in der Eingangshalle um ihn herum, während er mit dem Zeigefinger auf mich gerichtet fortfuhr: „Hohepriester Echterion und der Schreiber Leviktus haben mir Nachrichten über Sie zukommen lassen. Warum sind Sie noch in der Stadt? Sie haben das Empfehlungsschreiben und das Geld für die Reise von mir erhalten.“

„Es geht um den Schutz der Bibliothek ...“, begann ich.

Er wandte sich an meine Freunde. „Können Sie das übernehmen? Fürst Borran hat Ihre Dienste immer gut entlohnt und er wird es auch diesmal tun, sobald er von seiner Reise zurück ist. Eine Anzahlung können Sie selbstverständlich bereits in den nächsten Tagen von mir erhalten.“

Sie nickten alle drei und er fuhr fort: „Ich werden Leviktus über diese Änderung informieren. Bitte melden Sie sich morgen gegen Mittag in der Bibliothek und sprechen Sie dort mit ihm die Einzelheiten ab.“

Dann sah Romeran mich wieder an. „Was noch?“

„Wie komme ich in dringenden Fällen mit Fürst Borran in Kontakt?“

„Gar nicht. Weitere Fragen?“

„Ich will mit Magi Achain sprechen. Wissen Sie, ob er in der Stadt ist?“

„Er ist auf Reisen.“

Der alte Diener sah mich stechend an und wartete auf die nächste Frage. Eigentlich hatte ich keine mehr parat, deshalb dachte ich mir eine aus. „Wer weiß über den Orden der Assassinen Bescheid, der in der Provinz Malbraan gegründet worden sein soll?“

Ohne zu zögern antwortete er: „Sprechen Sie mit dem Handelsherren Rozzary. Allerdings nehme ich nicht an, dass er jetzt, mitten in der Nacht, Zeit für Sie haben wird.“

Das war ein deutlicher Hinweis darauf, dass auch er Besseres zu tun hatte. Schlafen zu gehen, beispielsweise.

„Ich werde ihn morgen aufsuchen. Heute Nacht bleibe ich hier in der Residenz.“

„Eine gute Entscheidung. Meine Dame, meine Herren, ich wünsche Ihnen eine angenehme Nachtruhe.“ Romeran drehte sich um und ging davon, ohne auf eine Erwiderung zu warten.

Ergan Rozzary war Anfang sechzig, auffallend klein und hager von Gestalt, mit schwarzem Haar, das grau zu werden begann. Eingefallene Wangen prägten sein von Falten durchzogenes Gesicht. Ein unbefangener Beobachter konnte den Eindruck bekommen, einen alten Mann mit Anzeichen der Hinfälligkeit vor sich zu sehen. Da der Handelsherr sich jedoch kerzengerade hielt, strahlte er trotzdem eine energische Entschlossenheit aus. Wobei die Körperhaltung eine Folge seiner geringen Größe war, so munkelte man. Er versuchte sie zu kompensieren, auch durch Schuhe mit besonders dicken Sohlen.

Es war spät am Vormittag, als er mich im Büro seines Handelshauses empfing. Er war der reichste und wichtigste Handelsherr der Ringlande, auch wenn man es ihm nicht ansah. Entsprechend beschäftigt war er. Stapel von Briefen und Rechnungsbüchern lagen vor ihm, und er musste erst zwei Schreiber und einen Sekretär hinausschicken, bevor er sich mit mir unter vier Augen unterhalten konnte.

Doch kaum waren wir alleine, klopfte es und ein anderer seiner Angestellten kam herein, um ihm eine Nachricht vorzulegen, die keinen Aufschub duldete. Während Rozzary las und eine kurze Antwort verfasste, sah ich mich im Büro um. Ich war noch nie hier gewesen und staunte über das, was ich sah.

Entlang aller Wände standen Regale, in denen sich Akten stapelten. Einzig die kleinen Fenster und die Tür waren frei davon. An einem der Regale hing außerdem eine Karte der Ringlande, die man auf eine Korktafel aufgezogen hatte. Nicht so groß wie die im Büro des Fürsten Borran, sondern etwa eine Armlänge lang und breit. Auch waren kaum Einzelheiten darauf eingetragen, nur die bedeutendsten Städte als rote Punkte sowie die beiden Ströme und einige Flüsse als blaue Linien. Das Interessante daran waren die Nadeln mit verschiedenfarbigen Köpfen, die man scheinbar willkürlich in die Karte gesteckt hatte. Ein Spinnennetz von Fäden war zwischen ihnen gezogen, die ebenfalls verschiedene Farben aufwiesen. Ich vermutete, dass so Handelsstützpunkte, Lagerhäuser und Transportwege dargestellt wurden.

Es gab zwei deutliche Knoten in diesem Netz: die Hauptstadt Dongarth und die Hafenstadt Kethal am Haland-Meer. Rozzary war wesentlich am Handel mit dem fernen Land Askajdar beteiligt, woher wir den echten Thee bezogen.

Was ich seinem Büro vermisste, waren Hinweise auf den immensen Reichtum des Händlers. Nichts im Raum war aus Gold oder auch nur vergoldet. Die Regale waren nicht aus teuren Hölzern gefertigt, sondern von einfacher Qualität, ebenso wie die anderen Möbel, zum Beispiel der Stuhl, auf dem ich saß. In Borrans Residenz waren nicht einmal die Dienerzimmer so anspruchslos ausgestattet.

Als der Angestellte wieder draußen war, wandte ich mich Rozzary zu.

„Sie sollten nicht mehr in der Stadt sein“, begann der Handelsherr das Gespräch. „Aber das hat man Ihnen wohl in den letzten Tagen oft genug gesagt.“

„Ich werde bald verschwinden“, versprach ich. „Vorher möchte ich jedoch einige Dinge klären.“

„Fangen Sie an!“ Sein Tonfall machte deutlich, dass ich nur ein paar Minuten hatte, bevor er mich wegen wichtiger Geschäfte wegschicken würde.

„Man hat Mörder auf mich angesetzt“, sagte ich und erzählte die Vorfälle, knapp zusammengefasst. Anschließend fragte ich: „Gibt es diese Assassinengilde und wissen Sie, warum ihr jemand den Auftrag gegeben haben könnte, mich zu töten?“

Er setzte sich bequemer hin, nicht mehr ganz so aufrecht wie bisher, und sah mich nachdenklich an. „Man versucht, so etwas wie eine Gilde professioneller Halsabschneider in den Ringlanden zu etablieren“, begann er. „Aber wie Ihre Erfahrungen belegen, genügt es nicht, ein paar Leute anzuwerben. Man muss sie ausbilden in allen Künsten des Kampfes und anderer Arten, einen Menschen zu töten, außerdem in Fähigkeiten wie der Tarnung. Das dürfte Jahre dauern. Wenn mehrere von ihnen erfolglos versucht haben, Sie mit Waffengewalt aus dem Weg zu räumen, spricht das nicht dafür, dass man sich diese Zeit genommen hat. Es gibt viele Möglichkeiten, gerade einen kampferfahrenen Mann wie Sie in seiner gewohnten Umgebung umzubringen und es ist nicht gelungen. Ich gehe einmal davon aus, dass da jemand geglaubt hat, Geld alleine genügt, um so eine Gilde ins Leben zu rufen.“

„Also keine Gefahr?“

„Langfristig schon. Man kann aus Fehlern lernen, wissen Sie? Wenn der Auftraggeber schlau ist, schafft er die zwei erfolglosen Attentäter aus dem Weg und nimmt sich ein paar Jahre Zeit, bevor er wieder welche einsetzt. Zumindest hier in Dongarth wissen die wichtigen Leute inzwischen Bescheid, so etwas spricht sich herum.“

„Wer sind die wichtigen Leute?“

Er zögerte, bevor er antwortete: „Die bedeutendsten Handelsherren, einige Magi, der Hohepriester und Stadthauptmann Cham Corram.“

„Das heißt, die Stadtwache weiß von den Assassinen?“ Das überraschte mich.

„Corram weiß meist mehr, als man glaubt. Er nutzt sein Wissen nur nicht immer sofort. Gerade in seiner Position ist es manchmal besser, den Dingen ihren Lauf zu lassen, um zu sehen, wer oder was hinter den vordergründigen Ereignissen steckt.“

„Und wer ist das im Fall der Assassinengilde?“

„Darüber spekuliere ich nicht. Haben Sie weitere Fragen?“

„Wo ist Fürst Borran?“

„Verreist.“

Hier kam ich also bei diesem Thema auch nicht weiter, daher versuchte ich ein anderes. „Drei Freunde von mir werden die Bibliothek beschützen. Gibt es sonst noch etwas in Dongarth, dem Gefahr droht durch unsere Gegner?“

Ich wollte den Begriff Kurrether nicht aussprechen, und er mied ihn ebenfalls.

„Vieles, insbesondere derzeit die Transporte aus der Stadt heraus. Sie werden davon gehört haben. Wir arbeiten an einer Lösung für dieses Problem. Ansonsten dürfte der Ärger erst wirklich losgehen, wenn auffällt, dass immer mehr qualifizierte Handwerker und andere Bürger ihre Heimatstadt verlassen. Eines Tages wird man in der Königsburg auf den richtigen Gedanken kommen und verstehen, was vor sich geht. Wir bereiten uns auf diesen Moment vor, aber die Reaktion unserer Gegner können wir nicht vorhersehen. Sie kann von schlichtem Ignorieren bis zu massiver Gewalt reichen.“

„Wann wird die Auswanderung für die Wirtschaft gefährlich - und damit für Leute wie Sie?“

Er zog indigniert die Augenbrauen hoch. „Ich denke langfristig. Meine Geschäfte sind nicht mehr hier in Dongarth konzentriert. Wenn Sie einen Blick auf die Karte mit den Transportwegen werfen, werden Sie das erkennen.“

„Es führen keine Fäden aus den Ringlanden heraus.“

„Wäre es nicht eine ziemliche Dummheit von mir, diese einzufügen? Noch dazu hier in meinem Büro, das täglich von Geschäftspartnern und Mitgliedern der Verwaltung aufgesucht wird?“

„Vermutlich. Wann werden Sie selbst Dongarth für immer verlassen?“

Er verzog das Gesicht zu einem Lächeln, das nicht erfreut wirkte. „Nie. Ich bin zu alt. Die weite Reise traue ich mir zu, aber wozu sollte ich jenseits des Meeres, in einem Land, das ich nie gesehen habe, neu anfangen? Das überlasse ich meinen Söhnen und Enkelkindern. Ich schaffe die Basis für sie. Und für andere, die Unterstützung benötigen. Ich werde noch hier sein, wenn die Häuser verfallen, weil keine fähigen Handwerker mehr da sind, um sie instand zu setzen. So der Eine Gott will, versteht sich.“

Wir schwiegen beide eine halbe Minute, dann stand ich auf und verabschiedete mich.

„Einen Moment noch!“, sagte er. „Ich kann Sie dabei unterstützen, die Stadt zu verlassen. Einige Vorbereitungen sind bereits getroffen. In einem der Ställe am Händlerwasen wartet ein gutes Pferd auf Sie, außerdem ein Packpferd. In den Satteltaschen finden Sie alles, was Sie für die ersten Tage benötigen. Ich werden Sie von zweien meiner eigenen Wachleute dorthin begleiten lassen.“

„Ich habe nicht vor, am helllichten Tag davon zu reiten“, entgegnete ich. „Jeder sieht mich, jeder kann mir folgen.“

„Eben das ist beabsichtigt. Sie gehören ab sofort zum Begleitschutz mehrerer Fuhrwerke, die Waren aus meinen Lagerhäusern nach Eronstedt bringen. Unverdächtiges Transportgut, versteht sich. Sie reiten mit denen los und schleichen sich dann unterwegs davon. Am besten in der ersten Nacht, wenn die Wagen in einem Dorf am Rande der Provinz Arbaran Rast machen. Meine Leute werden mögliche Verfolger abfangen. Von dort aus reiten Sie weiter nach Pregge in Kirringa.“

Er sprach den Namen der Stadt korrekt aus, nämlich „Preksch“. Ich nahm mir vor, mir das auch anzugewöhnen. Die Einwohner würden es zu schätzen wissen.

Laut sagte ich: „Danke für das Angebot, aber ich muss einige Sachen packen, bevor ...“

„Müssen Sie nicht!“, entgegnete er hart. „Sie tragen Ihre gewohnte Kleidung samt dem Umhang, in dessen Taschen sich hoffentlich das Empfehlungsschreiben des Fürsten Borran und genügend Geld befinden. Falls nicht, kann ich Ihnen gerne etwas leihen. Außerdem sehe ich den berühmten Degen an Ihrem Gürtel. Sie sind reisefertig. Also gehen Sie jetzt!“

Der Wagentreck verließ am frühen Nachmittag den Händlerwasen. Eine unübliche Zeit, aber die erste Etappe führte nicht weit und die Kutscher wussten sicherlich besser als ich, wie man den Beginn einer langen Fahrt gestaltete, um die Zugtiere einzugewöhnen.

Dass drei Bewaffnete als Begleitung mitritten, darunter ich, war ungewöhnlich und sprach für eine wertvolle Ladung. Um was es sich handelte, verriet mir keiner. Die Fuhrwerke waren mit regenfesten Planen abgedeckt, unter denen sich Holzkisten abzeichneten. In Form und Größe glichen sie denjenigen, die für die heimlichen Transporte aus den Ringlanden heraus verwendet wurden. Ergan Rozzary hatte jedoch gesagt, es handle sich nicht um solche Güter. Wahrscheinlich diente der ganze Wagentreck mehr der Ablenkung, als einem tatsächlichen Handelsgeschäft.

Wir folgten einer Straße in der Ebene unterhalb der Hänge des Berges Zeuth und machten deshalb einen weiten Bogen in die Landschaft hinein. Ich kannte diese Gegend und wusste, dass die Dörfer Prankhorst, Grebbingen und Krenndorf auf unserem Weg lagen. Der erste Rastplatz befand sich am Rand von Grebbingen, wo eine Taverne den Kutschern eine bequeme Übernachtung ermöglichte, während wir drei Bewaffneten gemeinsam Wache bei den Fuhrwerken halten sollten.

Doch wir kamen nicht so weit.

Ein Trupp Soldaten in königlichen Uniformen blockierte kurz hinter Prankhorst die Straße, wir mussten anhalten. Ein Offizier kam zu uns und forderte uns schroff auf, die Abdeckungen von der Ladung zu nehmen. Einer von Rozzarys Leuten lehnte das ebenso schroff ab und ein lautstarker Streit entbrannte.

Ich hielt mich im Hintergrund und bekam deshalb nicht alles mit, aber es ging wohl um den Verdacht, wir würden gestohlenes Gut transportieren. Die Kutscher zeigten Papiere vor, die belegten, dass sie im Auftrag des mächtigen Handelsherren unterwegs waren. Rozzary würde erbost sein, wenn er von so einer grundlosen Verdächtigung erfuhr.

Als Nächstes fiel dem Offizier auf, dass ein einzelnes Packpferd zu unserem Wagenzug gehörte, was ungewöhnlich war. Diesmal ließ er sich nicht davon abbringen, alles zu durchsuchen, was das Pferd trug. Er fand jedoch nur unverfängliche Gegenstände, wie sie auf einer längeren Reise benötigt wurden: Trockenfleisch, Hartgebäck, Wassersäcke, robuste Kleidungsstücke und die üblichen Dinge, die jeder Reisende bei sich hatte, wie Blechgeschirr, eine Sturmlaterne und Zunder.

„Wem gehört das?“, wollte er wissen.

Einer der beiden Wachmänner von Rozzary meldete sich und behauptete, er werde bald den Wagenzug verlassen, um als Kurier mit einer Nachricht des Handelsherren vorauszureiten, damit sie schneller Eronstedt erreichte.

Es hörte sich für die Soldaten glaubwürdig an, weil sie offenbar nicht wussten, dass man in Arbaran gerne Brieftauben einsetzte, um eilige Nachrichten weiterzuleiten. Nach einem erneuten lauten Wortwechsel mit den Kutschern gab der Offizier den Weg frei, nicht ohne noch einige Drohungen auszustoßen.

Die ganze Aktion kostete uns eine Stunde, weshalb es bereits dunkel war, als wir unser Etappenziel erreichten. Ich bedankte mich bei meinen Begleitern, nahm die Zügel des Packpferdes und verließ die Straße, der wir bisher gefolgt waren. Die beiden Bewaffneten würden bei der Taverne zunächst die Fracht bewachen, bis alles ruhig war, mir dann aber in großem Abstand folgen, um sicherzustellen, dass mir niemand anders auf den Fersen war.

Mein Plan sah vor, nach Südosten zu reiten, bis ich den Murran erreichte. Dieser schmalere Fluss mündete dort in den großen Strom Azondan. Kurz vor der Einmündung gab es eine Furt, von der man mir berichtet hatte. Noch hatten die heftigen Herbstregen nicht eingesetzt, weshalb sie passierbar sein sollte. Der Weg führte anschließend in die südlichen Ausläufer der Einöde der Provinz Arbaran, und von dort aus weiter bis nach Pregge, das am Südufer des Azondan lag. Fähren ermöglichten es, das breite Gewässer zu überqueren, hatte man mir versichert.

Doch nachdem ich die ganze Nacht hindurch auf einem schmalen Pfad zwischen Wäldern und Wiesen gut vorangekommen war, durchkreuzten bei Sonnenaufgang erneut königliche Soldaten meine Pläne.

Ich hielt bereits Ausschau nach einem Rastplatz, um den Tag versteckt zu verbringen und abends meinen Weg fortzusetzen, als der Pfad, dem ich folgte, in eine Straße mündete. Ich hörte Hufschlag und das Knarren von Rädern, die typischen Geräusche eines Fuhrwerks. Da ich nicht gesehen werden wollte, zog ich mich in ein dichtes Gebüsch zurück, das auch meinen beiden Pferden Deckung bot. Dort wartete ich ab. Ich hoffte, der Wagen würde die Stelle passieren, ohne dass ich bemerkt wurde.

Aber gerade, als er in Sichtweite kam, näherten sich Reiter. Es war wieder der Trupp königlicher Soldaten. Der Offizier forderte den Wagenlenker barsch auf, anzuhalten, damit man die Ladung kontrollieren konnte.

Der Mann auf dem Kutschbock gehorchte. Er war alleine unterwegs und dem Aussehen nach ein einfacher Knecht. Sein Auftrag war es, Kisten mit Früchten von einem Bauernhof zum nächsten Markt zu bringen. Eingeschüchtert fragte er, was daran verboten sei.

Nichts, wurde ihm beschieden, er solle weiterfahren. Das tat der dann auch eiligst.

Die Soldaten stiegen von den Pferden und versammelten sich um ihren Offizier. Der zog ein zusammengefaltetes Schriftstück und einen Stift aus der Innentasche seiner Uniformjacke und notierte etwas.

„Das war der sechste. Noch vier, und wir haben das uns versprochene Geld verdient. Jetzt reiten wir zurück Richtung Dongarth, dabei können wir Wagen abfangen, die am frühen Morgen losgefahren sind.“ Er steckte Zettel und Stift wieder ein und wollte auf sein Pferd steigen, als ihm etwas an einem seiner Leute auffiel.

„Kerl, stopf dir das Hemd in die Hose und zieh deine Uniformjacke gerade. So, wie du herumläufst, nimmt dir keiner den königlichen Soldaten ab. Und ihr anderen auch! Achtet auf die Verkleidung, sonst fliegen wir auf und es ist nichts mit dem Sold. Und jetzt aufsitzen!“

Sie zupften an ihren Uniformen herum, und ich sah nun, dass die nicht genau passten und ein wenig schäbig wirkten. Dann stiegen sie auf ihre Pferde und ritten davon.

Ich hatte viel Zeit, über diese Begegnung nachzudenken, denn weitere neun Tage war ich alleine in der dünn besiedelten Landschaft unterwegs. Das war ungewohnt, weil ich längere Reisen fast immer in Begleitung meiner drei Freunde gemacht hatte. Da die Gefahr, entdeckt und erkannt zu werden, nun gering war, konnte ich nachts schlafen und tagsüber reiten. Das war angenehmer und brachte mich deutlich schneller voran.

Dass bezahlte Männer, vermutlich Söldner, mit Uniformen königlicher Soldaten bekleidet Fuhrwerke anhielten, war unglaublich. Die Bedeutung des Königshauses war im Weltbild aller Ringländer so herausragend, dass niemand auf diesen Einfall kommen konnte. Weshalb ich sicher war, dass Kurrether die angeblichen Soldaten beauftragt hatten. Falls ich auf ein Kloster oder einen Konvent stieß, würde ich von dort aus eine Brieftaube mit einer entsprechenden Nachricht nach Eronstedt zum Fürsten von Arbaran schicken lassen.

Doch ich sah nicht einmal mehr Dörfer in meiner Umgebung. Die Landschaft in dem Dreieck zwischen Azondan und Murran war sumpfig. Es gab zwar befestigte Wege, aber nutzbar für Bauern war dieses Land nicht. Nur einen Torfstecher sah ich einmal in der Ferne. Von meinem Standort aus führte kein Pfad in seine Richtung und er reagierte nicht auf meine Rufe, sondern arbeitete unbeirrt vor sich hin.

Die Furt des Murran konnte ich problemlos passieren. Am anderen Ufer begann das Ödland von Arbaran, das mir nur zu bekannt war. Eine flache Landschaft, steinig und von schmalen Schluchten durchzogen, die sich wie Narben dahinzogen und manchmal eine Quelle und etwas Grün bargen.

Die Zeit schien sich endlos auszudehnen, und ich bemerkte, wie meine Gedanken von Tag zu Tag dunkler wurden. Ich dachte an Jinna und die Trennung von ihr. Aber auch an den Exodus in Richtung Ostraia, der ja ebenfalls eine Art von Trennung war, nämlich von unserer Heimat. Dass es jenseits des Meeres besser sein würde, war eine Hoffnung. Wissen konnte es niemand, denn bisher war kein einziger Ringländer jemals dort gewesen. Es war durchaus möglich, dass man uns nicht die Wahrheit gesagt hatte. Vielleicht war das Land, in dem wir eine neue Zukunft aufbauen wollten, so wenig fruchtbar wie der sumpfige Boden, den ich gerade hinter mir gelassen hatte.

Am zwölften Tag meiner Reise erreichte ich den Azondan. Nun war ich nicht mehr alleine. Dutzende Menschen und einige Fuhrwerke standen am Ufer und starrten auf die weite Wasserfläche hinaus. Von dort kam ein breites Etwas heran, das die Fähre nach Pregge sein musste.

Ich erschrak so vor diese Menschenmenge, dass ich für einen Moment überlegte, ob ich abwarten sollte, bis sie weg waren. Die Einsamkeit hatte mich verändert. Aber dann gab ich meinem Pferd die Sporen und galoppierte auf sie zu.

Die Auswanderer

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