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2 Tempel und Burg

Das längliche Gesicht des Hohepriesters sah blasser aus als sonst. Er lächelte nicht zur Begrüßung, als man mich zu ihm führte, sondern bot mir nur mit einer Handbewegung einen Stuhl vor seinem Schreibtisch an.

„Ich bin froh, dass Sie unversehrt hierher gelangt sind“, begann er.

„Warum das?“, fragte ich verblüfft.

„Hat Seliim Sie nicht gefunden?“

„Doch, hat er. Er sagte, man habe Verräter auf meine Spur gesetzt. Aber er hat nicht gesagt, wen er damit meint.“

„Ringländer, die sich der Sache der Kurrether verschrieben haben. Entweder aus Überzeugung, solche wirren Köpfe gibt es leider, oder gegen Bezahlung. Und wie Sie wissen, verfügen unsere Gegner über viel Gold und Geld. Sie stehlen es unserer Heimat. Seit kurzem bringen sie ihre Beute nicht mehr vollständig außer Landes, sondern setzen sie zunehmend auch hier ein. Sie nutzen das von uns gestohlene Gold, um gegen uns zu intrigieren. Wie viele gedungene Mörder kann man für einen Goldbarren kaufen?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Kommt darauf an, wie gut sie sind. Stümper bekommt man für ein paar Taler. Wer einen Golddukaten ausgibt, kann ziemlich sicher sein, dass das Opfer bald tot ist.“

„Man könnte also mit einem Barren mehrere gefährliche Attentäter bezahlen. Einzelgänger aus anderen Provinzen, die man hier in der Stadt nicht kennt und die nach vollbrachter Tat ebenso unbemerkt verschwinden, wie sie gekommen sind. Ich fürchte, mehr als einer ist auf Sie angesetzt. Das zumindest berichten mir Zuträger aus der Königsburg. Deshalb sagte ich, ich sei froh, dass Sie unversehrt hierher gelangt sind.“

„Das hört sich ernster an, als ich bisher vermutet hatte. Wieso sind Sie auf Informanten aus der Burg angewiesen? Bekommen Sie keine offiziellen Nachrichten mehr von dort?“

„Der Grund dafür ist so geheim, dass ihn nur wenige Menschen in Dongarth kennen. Also behalten Sie ihn bitte für sich.“ Er sah mich für einen Moment starr an, bevor er fortfuhr: „Die Königin-Witwe ist erkrankt. Schwer erkrankt. Wir beten täglich für sie, aber ob der Eine Gott Gnade walten lässt, erscheint zunehmend zweifelhaft.“

„Sie meinen, sie könnte sterben?“ Da er nicht antwortete, fragte ich weiter: „Was geschieht in diesem Fall? Prinz Joha ist Thronfolger, aber noch ein Kind.“

„Er bekommt einen Vormund.“

„Und wer ernennt den?“ Ich ahnte die Antwort, bevor er sie aussprach.

„Der Rat der königlichen Verwalter unter dem Vorsitz des kurrethischen Rats Geshkan.“

„Das bedeutet, die Kurrether würden die Macht übernehmen, bis der Prinz volljährig ist. Das wäre eine Katastrophe für die Ringlande. Sie könnten tun und lassen, was sie wollen.“

„Das können sie jetzt schon. Solange die Königin-Witwe die Geschäfte nicht führen kann, erledigen das die königlichen Verwalter.“

Mir kam ein weiterer ungeheuerlicher Gedanke. „Was ist, wenn auch der Prinz stirbt? Durch eine Krankheit oder einen Unfall?“

„Dann endet die bisherige Königslinie. Der Rat der Fürsten unter Leitung von Fürst Borran wird einen neuen König krönen. Der kann aus dem Kreis der sieben Provinzfürsten stammen, aber es gibt kein Gesetz, das dies vorschreibt.“

„Es könnte also auch ein Kurrether König der Ringlande werden?“

„Wenn vier der Fürsten so abstimmen, dann ja.“

Ich wusste, dass der Regent meiner Heimatprovinz Krayhan eng mit den Fremden zusammenarbeitete. Er würde Geshkan unterstützen. Borran war genauso eindeutig dagegen, ebenso der Fürst von Arbaran, den ich persönlich kannte. Aber bei den Herrschern der anderen Provinzen war ich mir nicht sicher. „Wie viele sind für und wie viele gegen die Kurrether eingestellt?“

„Nur zwei werden in so einer Situation ohne Zweifel für sie stimmen. Aber mit ausreichend Gold könnten sie weitere Stimmen kaufen. Doch lassen wir diese Gedankenspiele, noch lebt die Königin-Witwe.“

„Seliim sagte, hier im Tempel sei ich sicher. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie mir erlauben, mich dauerhaft hier zu verstecken. Oder haben Sie Pläne, bei deren Umsetzung Sie meine Hilfe gebrauchen können?“

„Pläne habe ich viele, aber auch Probleme. Einige möchte ich Ihnen schildern, damit Sie besser informiert sind. Natürlich dürfen Sie nicht für immer hier im Tempel bleiben - außer Sie entschließen sich, dem weltlichen Leben zu entsagen und das Gelübde abzulegen.“

Er sah mich tatsächlich so überlegend an, als habe er diesen Vorschlag mit vollem Ernst gemacht.

Ich schüttelte nur den Kopf.

„Das dachte ich mir. Sie müssen raus aus Dongarth, in eine Gegend, in der Sie nicht so gefährdet sind. Pregge wäre so ein Ort, die Hauptstadt der Provinz Kirringa.“

Er sprach den Namen der Stadt aus wie „Preksch“, weshalb ich zunächst nicht verstand, was er meinte.

„So sprechen es die Einheimischen aus“, belehrte er mich. „Das sind Menschen, die in vielem seltsam sind, aber durchaus auch die Gastfreundschaft hochhalten.“

„Auf dem Weg hierher bin ich sechs Männern begegnet, die von dort stammen“, sagte ich und berichtete ihm davon.

Zum ersten Mal, seit ich hier war, verzog sich das Gesicht des Hohepriesters kurz zu einem Lächeln. „Angehörige des Bergvolkes von Kirringa“, sagte er. „Ein eigenwilliges Völkchen. Ihre Sagen behaupten, sie stammten zum Teil von Zwergen ab - obwohl noch nie jemand in den Ringlanden einen dieser sagenhaften Zwerge gesehen hat. Nichtsdestotrotz gilt eine kleine Körpergröße bei ihnen als vorteilhaft und sie geben sich ganz so, wie man es aus Märchen kennt. Aber Sie wissen ja, dass unsere Vorfahren auf einem anderen Weg hierher gelangt sind und diese Zwergengeschichte nicht stimmen kann.“

Ich nickte. Wir alle stammten von einem kriegerischen Volk ab, das vor vielen Jahrhunderten nördlich des fernen Landes Ostraia lebte. Als es den Ostraianern und ihren Verbündeten gelang, unsere Vorfahren zu besiegen, siedelten sie diese um in die Ringlande. Hier können dank der magischen Wirkung des Berges Zeuth keine Kriege stattfinden. Jedenfalls keine mit mehr als einem Dutzend Kämpfern auf jeder Seite. Auf diese Weise hatte man einst unser Volk gegen seinen Willen befriedet. Seitdem - seit wie vielen Generationen wusste niemand - litten wir unter der Passivität, die zu den Nachteilen der Wirkung des Zeuth gehörte. Deshalb war es den Kurrethern gelungen, sich nach und nach in unserer Heimat auszubreiten und an vielen Stellen führende Funktionen zu übernehmen.

„Nun zu den neuen Problemen“, fuhr Echterion fort. „Es geht zunächst um Geld.“

Enttäuscht lehnte ich mich zurück. Ich hatte erwartet, von einer Gefahr zu hören, die dem Tempel und den Priestern drohte. Einer tödlichen Gefahr, die existenzbedrohend war.

Echterion bemerkte meine Reaktion und schüttelte den Kopf. „Es ist ernst“, betonte er. „Das Königshaus hat die Tempel des Landes erstmalig der Zahlung von Steuern unterworfen. Bisher waren wir davon befreit. Und diese Steuern sind so hoch, dass ich erste Anfragen von Priestern aus kleinen Städten vorliegen habe, die wissen wollen, ob wir sie finanziell unterstützen können. Sonst müssen sie die Tempel schließen.“

„Das wird die Bevölkerung nicht zulassen. Schon, weil die Menschen die Rache der Götter fürchten, falls das geschieht.“

„Die Steuerbehörde hat das vorausgesehen und ein wirksames Gegenmittel gefunden“, belehrte mich Echterion. „Sollten die Bürger einer Stadt der Ansicht sein, dass ihr Tempel steuerfrei bleiben muss, wird man die dadurch entgangenen Einnahmen auf alle Stadtbewohner umlegen. Die Steuern würden sich für jeden spürbar erhöhen.“

Ich stieß einen Pfiff aus. „Das löst einen Aufstand aus!“

„In den Ringlanden? Wohl kaum. Der befriedende Einfluss des Zeuth verhindert das. Aber jedermann wird an seine eigene Geldbörse denken und zu der Überzeugung gelangen, dass die Tempel das geforderte Geld leichter aufbringen können, als er.“

„Was will Geshkan mit den Steuereinnahmen machen?“ Ich unterstellte damit, dass der Kurrether hinter dieser Idee steckte, was der Hohepriester bestätigte.

„Die Macht der Priester deutlich einschränken und seine eigene Beliebtheit beim Volk steigern. Mit dem zusätzlichen Geld sollen Zuschüsse an bedürftige Bürger gezahlt werden, um ihnen das Leben zu erleichtern. Man wird mehr Wachen beschäftigen und sie besser bezahlen, von den Stadtwachen wie hier in Dongarth bis zu den Dorfbütteln auf dem Land. Das soll ein neues Gefühl von Sicherheit vermitteln. Die Straßen zwischen der Hauptstadt und den Provinzen sollen ausgebaut werden und natürlich verfolgt Geshkan seinen Plan weiter, die widerspenstige Provinz Arbaran zu verändern. Er will das Ödland in grüne Weiden verwandeln und dabei die Klöster, Konvente und vor allem die Ruinenstadt Kabh loswerden.“

Davon hatte ich auf meinen Reisen bereits erfahren. Der Fürst von Arbaran war dagegen. Aber wenn das Königshaus darauf bestand und zusätzlich den Bürgern gut bezahlte Arbeit durch das Projekt versprach, musste er womöglich nachgeben. Aber etwas Anderes war wichtiger.

„Gefährdet das die heimlichen Transporte von Kulturgütern aus den Ringlanden heraus?“, wollte ich wissen.

„Vorerst nicht. Kabh ist dafür der wichtigste Knotenpunkt, es ist jedoch nicht unverzichtbar. Es wird fraglos schwieriger werden. Aber andere Möglichkeiten tun sich auf. Denn wenn man ganze Landstriche begrünen und neue Siedlungen gründen will, benötigt man viel Material. Unzählige Fuhrwerke werden unterwegs sein, und unsere fallen darunter nicht so auf. Allerdings bedeutet es auch, dass immer mehr Menschen in der bisherigen Einöde leben und arbeiten werden. Dadurch sind sie näher an Ambrams Schlucht und der Brücke, und folglich auch am östlichen Pass über das Ringgebirge. Die Neugierde wird sie dazu treiben, das alles zu erkunden - sie werden sehen, dass Waren und Personen die Brücke passieren, sie selbst es aber nicht dürfen. Damit wäre dieser Weg nicht mehr nutzbar.“

Der Versuch, die Kultur und das Wissen der Ringländer außer Landes zu schaffen, bevor die Kurrether uns vollständig beherrschten, war eine Idee von Fürst Borran. In der Bibliothek in Dongarth wurde alles niedergeschrieben, was es überhaupt an Wissenswertem über unsere Heimat gab. Kisten mit Folianten, aber auch mit Kunstwerken, magischen Artefakten und anderen einmaligen Gegenständen wurden auf geheimen Wegen nach Kroyia geschafft. Diese Stadt lag außerhalb der Ringlande, am Rand einer Wüste. Von dort aus ging der Transport weiter bis ins ferne Land Ostraia, doch das wusste ich nur vom Hörensagen. Kroyia dagegen hatte ich bereits besucht.

„Was sagt Fürst Borran dazu?“, fragte ich.

„Er ist auf Reisen. Vorerst ist nicht mit seiner Rückkehr zu rechnen.“

Da ich in der Residenz des Fürsten wohnte, wusste ich von seiner Abwesenheit. Aber wie immer war niemand dort bereit, mir zu sagen, wohin und warum er unterwegs war. Es stand mir auch nicht zu, das zu wissen; schließlich war er ein Fürst und ich nur ein besserer Handlanger, der für ihn Aufträge erledigte.

„Verstehe“, behauptete ich. „Und wie weiter?“

„Sie müssen sich in Sicherheit bringen, wie schon gesagt. Dongarth verlassen, möglichst unter einem anderen Namen reisen und ohne ihren verräterischen Kaiserdegen.“ Echterion deutete auf die Waffe, die ich bei mir trug.

Ich gehörte zu den wenigen Ringländern, die so eine Waffe besaßen. Sie stammte aus dem alten Kaiserreich, das längst untergegangen war. Die Qualität der Klinge übertraf alles, was unsere Schwertschmiede herstellen konnten. Man hatte mich mehr als einmal aufgefordert, meinen Degen vorzuzeigen, um zu beweisen, dass ich Aron von Reichenstein war. Das gräuliche Schimmern des Stahls und das Wappen des Kaiserreichs mit dem Löwen über der fünfzackigen Krone waren unverkennbar. Verständlich, dass ich darauf verzichten musste, wenn ich unter falschem Namen reiste.

„Welches Versteck schlagen Sie für mich vor?“, fragte ich.

„Die Provinz Kirringa, wie gesagt. Sie ist weit weg, klein und überschaubar. Der Fürst und vor allem der Priester im Tempel der Hauptstadt Pregge stehen auf unserer Seite. Außerdem sind die Bürger dort wohlhabend und eigensinnig. Die Kurrether haben weniger Einfluss als anderswo.“

„Das klingt gut. Ich mache mich in den nächsten Tagen auf den Weg. Aber es gibt einige persönliche Dinge, die ich vorher regeln muss. Bis dahin werde ich Schleichwege durch die Stadt nutzen und vorwiegend nachts unterwegs sein. Ich verlasse jetzt den Tempel durch einen der Geheimgänge.“

„Noch nicht“, sagte der Hohepriester. „Wir gehen gemeinsam hoch in die Königsburg. Ich habe um ein Gespräch wegen der Steuerpläne gebeten. Sie begleiten mich. Niemand wird Sie angreifen, solange Sie mit mir und den Priestern unterwegs sind.“

„In welcher Funktion wollen Sie mich mitnehmen? Ich gehöre weder zum Tempel, noch habe ich in anderen Belangen etwas zu sagen.“

„Als Beobachter im Auftrag des Fürsten Borran, um ihm aus erster Hand berichten zu können.“

„Ich habe weder einen Auftrag von ihm, noch eine Ahnung, wo er sich derzeit aufhält.“

Echterion lachte kurz auf und entgegnete: „Aber das weiß Rat Geshkan nicht. Er wird sich also darauf einlassen müssen.“

Es war eine Prozession, die sich auf der kurzen, aber gewundenen Straße zur Burg hoch bewegte. Vorneweg schritten sechs junge Priester in hellen, mit heiligen Symbolen verzierten Roben. Ihnen folgte der Hohepriester, als einziger reitend, und zwar auf einem Schimmel mit Sattel und Zaumzeug aus weißem Leder. Er war in einfaches Weiß gekleidet, ohne jede Verzierung. Hinter ihm gingen ich und ein Schreiber des Tempels, der sein Handwerkszeug in einer Umhängetasche trug. Den Abschluss bildeten zwei alte Priester, die sich auf Stöcke stützen mussten, um den Weg zu bewältigen.

Ich bemühte mich, das langsame, gravitätische Schreiten der anderen zu imitieren, merkte aber, dass ich dafür nicht geschaffen war. Ständig geriet ich aus dem Takt. Nicht nur deshalb fiel ich auf. Als einziger in der Gruppe trug ich normale Kleidung und eine Waffe. Mir fehlte außerdem die blütenweiße Makellosigkeit der Priester, ich war ziemlich verschmutzt von der durchzechten Nacht und dem Morgen oben auf dem feuchten Berghang.

Wie zu erwarten, folgten Gaffer und Faulenzer unserer Gruppe, dazu noch ein paar Straßenkinder. Eben jeder, der in den Straßen unterwegs war und sonst nichts zu tun hatte. Man zeigte mit Fingern auf den Hohepriester, alte Leute neigten ehrerbietig den Kopf, Gassenbengel streckten ihm die Zunge heraus. Echterion kümmerte sich um beides nicht, er sah mit abwesendem Blick geradeaus. Man deutete auch auf mich, und mir fiel es schwer, so zu tun, als sehe ich es nicht.

Auf dem Vorplatz des Burgtores kam es zu einem kurzen Aufenthalt. Man benötigte Zeit, um einige Offizielle im Innenhof zu versammeln, damit es ein angemessener Empfang wurde. Dafür, dass Burg und Tempel in Sichtweite voneinander standen, hielt ich diesen ganzen Aufwand für unangemessen. Ich hätte erwartet, dass die Beziehungen zwischen weltlicher und geistlicher Macht ohne großes Zeremoniell abliefen. Aber darum gekümmert hatte ich mich nie, wie die meisten meiner Mitbürger.

Als wir in den Innenhof kamen, stand dort ein Holztreppchen, auf das der Hohepriester bequem absteigen konnte. Ein Kurrether und zwei weitere Hofbeamte empfingen ihn mit vielen Verbeugungen und höflichen Worten, und geleiteten ihn in eines der Gebäude im Seitenflügel der großen Anlage.

Ich war vorher nur einmal in der Burg gewesen, nachts auf einer Diebestour, als ich Folianten aus einem der Archive stahl. Jetzt bei Tageslicht sah alles anders aus, beeindruckender. Ich hätte mich nicht zurechtgefunden, aber das war auch nicht nötig.

Meine Erwartung war, dass uns Rat Geshkan empfangen würde, denn Echterion war der höchste Priester der Ringlande und Geshkan der höchste Regierungsrepräsentant nach der Königin-Witwe. Doch dem war nicht so.

Man führte uns in ein Büro, das die Größe eines Festsaales aufwies, und in dem es so viele goldene oder vergoldete Gegenstände gab, dass man den Eindruck bekam, es sei die Schatzkammer. Von den Bilderrahmen bis zu den Sessellehnen, den Kanten des Tisches bis zu den Stickereien auf Sitzkissen glänzte alles golden. Das konnte nur das Büro eines Kurrethers sein.

Tatsächlich saß einer von ihnen hinter dem gewaltigen Schreibtisch. Er erhob sich, als Echterion eintrat, kam ihm aber nicht entgegen, sondern blieb bei seinem Stuhl stehen. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen - er wäre mir bestimmt im Gedächtnis geblieben. Er war der erste Kurrether, dem ich begegnete, der eindeutig alt war. Graue Strähnen durchzogen seinen Bart und den schütteren Haarkranz. Wobei diese Strähnen so klar konturiert waren, dass ich den Verdacht hatte, sie seien gefärbt. Doch die Falten im Gesicht wiesen ebenfalls auf sein Alter hin - und es waren nicht die Falten eines Mannes, der in seinem Leben viel gelacht hatte.

„Ich heiße Euch willkommen, Hohepriester“, sagte er mit einer lauten, tiefen Stimme. „Was verschafft mir die Ehre Eures Besuchs?“

Echterion ging bis zum Schreibtisch und blieb dort ebenso stehen wie sein Gegenüber, während die Priester und ich etwas hinter ihm einen Halbkreis bildeten. Selbstverständlich musste ich dem Kurrether sofort auffallen als jemand, der nicht ins Bild passte. Aber ich war ihm nicht einmal einen kurzen Blick wert.

„Es gibt einiges zu klären, was die Beziehungen zwischen dem Tempel des Einen Gottes und dem Königshaus betrifft. Es ist eine Ehre, dass Sie mich empfangen, Rat Askalosha, aber ich habe etwas mit Rat Geshkan zu besprechen.“

Ich betrachtete den alten Kurrether aufmerksamer. Askalosha war ein Name, den ich häufig gehört hatte. Er galt als der zweitmächtigste Mann im Rat hinter Geshkan. Aber ich hatte ihn weder bei öffentlichen Anlässen noch bei Besprechungen mit Fürst Borran gesehen. Sagte man Geshkan nach, er sei der politische Kopf der Kurrether und ein gefährlicher Machtmensch, so beschrieb man Askalosha als den Bürokraten. Er erledigte die eigentliche Arbeit, die für die Verwaltung der Ringlande notwendig war.

„Mir sind keine Probleme gegenwärtig, die es derzeit gibt“, behauptete der Rat. „Was ist vorgefallen, dass Ihr persönlich hierher eilt - ohne vorher um einen Termin zu bitten?“

Das war eine Unverschämtheit, denn es drückte aus, dass der Hohepriester wie jeder andere Bürger einen Termin bei einer Behörde vereinbaren musste, wenn er etwas besprechen wollte.

Ich sah Echterion an, doch der reagierte nicht wie erwartet. Er lachte kurz auf, als wäre das ein alter, aber lange nicht mehr gehörter Witz. Die Priester neben mir schien das nicht so zu überraschen wie mich und vor allem Askalosha. Die Augen des Kurrethers wurden größer und er schwieg einen Moment, als müsse er erst herausfinden, was eben geschehen war.

„Was amüsiert Euch, Hohepriester?“, erkundigte er sich dann, und seine Stimme klang nicht mehr so selbstbewusst wie bisher.

„Die Vorstellung, der Stellvertreter des Einen Gottes in den Ringlanden müsste um einen Termin bitten bei Rat Geshkan, dem Vorsitzenden eines Rates, der nur dank der Gnade und der Weisheit des verstorbenen Königs existiert. Teilen Sie Geshkan mit, dass ich ihn sprechen will!“

Das war nun eine ebenso große Unverschämtheit von seiner Seite, denn er ließ den Titel Rat vor dem Namen weg. Das war etwas, das die stolzen und statusbewussten Kurrether bekanntermaßen als beleidigend ansahen. Außerdem hatte sich seine Sprechweise geändert, er sprach im Befehlston.

Askalosha gab nach. Nicht in Worten, aber durchaus an seiner Körpersprache erkennbar. „Aufgrund der derzeitigen Situation ist Rat Geshkan nicht in der Lage, alle Besucher selbst zu empfangen. Ich bitte um Euer Verständnis dafür. Nennt mir Euer Anliegen und ich werde es ihm zuleiten.“

Er spielte auf die Erkrankung der Königin-Witwe an, das wusste ich nun. Die Abweisung Echterions war diesmal zumindest höflicher formuliert. Trotzdem wäre ich an Stelle des Hohepriesters nicht darauf eingegangen. Denn er schuf damit einen Präzedenzfall und würde sich künftig immer als Bittsteller an einen wie Askalosha wenden müssen, wenn es Wichtiges zu besprechen galt.

Aber offenbar lag ich falsch, denn Echterion lenkte ein: „Es geht um die angedrohte Steuer für die Tempel. Es ist unerhört und noch nie da gewesen, die Göttersitze zu besteuern. Dieser Unsinn muss unterbunden werden!“

„Unsinn ist ein hartes Wort. Ist es nicht ein Zeichen der Gleichbehandlung, wenn die Tempel wie alle Bürger und Handelsunternehmen ihren Beitrag zu den Kosten leisten müssen, die der Verwaltung entstehen? Das Geld kommt der Allgemeinheit zugute. Denn die Steuereinnahmen sollen nicht in Schatzkammern gelagert werden, oder gar den Reichtum Einzelner vergrößern, nein, sie dienen dazu, das Leben aller Ringländer zu erleichtern.“

„Schöne Worte, die ich nicht glauben kann“, entgegnete Echterion.

Die beiden Männer standen sich immer noch gegenüber, getrennt von dem großen Schreibtisch. Beide würden es wohl als Niederlage betrachten, sich als erster zu setzten.

„Rat Geshkan handelt im Sinne der Königin-Witwe, wenn er in allen Städten und Landstrichen Projekte zur Verbesserung der Lebensqualität initiiert. Es soll leichte Beschäftigung gefunden werden für jene, die nicht mehr in der Lage sind, mit der Kraft der Jungen und Gesunden eine Tätigkeit auszuüben. Straßen und öffentliche Gebäude wird man instand setzen, das schafft Arbeit und Wohlstand. Ödland wird begrünt, schmutzige Gewässer wie dieser unsägliche Donnan sollen sauber werden. Auch die Kinder werden profitieren. Es wird königliche Schulen geben, zu denen jedes Kind Zugang hat und an denen gut ausgebildete Lehrer die Grundlagen des Wissens und der Kultur vermitteln. Was könnte vornehmer sein als diese Ziele? Glaubt mir, Hohepriester, die Bevölkerung würde befremdet reagieren, wenn sich ausgerechnet die Tempel nicht an der Finanzierung solcher Wohltaten beteiligen.“

Echterion schnaubte verächtlich. „Die Kosten für all die Projekte wären so immens, dass die zusätzlichen Steuereinnahmen, die durch uns zu erzielen sind, niemals dafür ausreichen.“

„Alle werden ihren Anteil an den Lasten tragen.“ Rat Askalosha zählte auf: „Die Handelshäuser durch eine prozentuale Abgabe am Wert aller gehandelten Waren. Die Handwerker durch einen Aufschlag auf die Preise, die sie für ihre Dienstleistungen verlangen. Die arbeitende Bevölkerung durch eine geringfügige Erhöhung ihrer Steuerabgaben. Sogar die sieben Fürstenhäuser müssen einen Teil ihres Reichtums dem Wohl der Allgemeinheit zur Verfügung stellen.“

„Die Fürsten? Die willigen niemals ein. Wissen sie bereits davon“?

„Es wurden erste Gespräche geführt, wie auch mit den Inhabern bedeutender Handelshäuser. Die Tempel dürfen nicht außen vor bleiben.“

Der Hohepriester starrte den Kurrether so lange an, dass die anwesenden Priester unruhig wurden. Dann wandte er sich wortlos um, ging durch unsere Reihe hindurch und verließ das Büro. Wir folgten ihm.

Als ich durch die Tür ging, drehte ich mich um nach Rat Askalosha. Ich würde nicht sagen, dass ich ein triumphierendes Grinsen auf seinem Gesicht sah, aber mir schien doch, er freue sich über den Verlauf des Gesprächs.

Wir kehrten zurück zum Tempel, wie wir gekommen waren. Niemand sprach. Unsere Gruppe glich einer Prozession, und keiner der Gaffer am Straßenrand konnte ahnen, ob etwas Wichtiges in der Burg vorgefallen war oder es sich nur um einen Höflichkeitsbesuch gehandelt hatte.

Erst im Tempel machte der Hohepriester seinem Ärger Luft. Da waren nur noch die beiden alten Priester und ich dabei, die jungen hatten sich zurückgezogen.

„Er will sich die Zuneigung der Bürger erkaufen!“, sagte Echterion. „Man stelle sich das vor: Ausgerechnet die Kurrether, die unsere Heimat ausplündern, tun so, als wären sie Wohltäter, die nur das Beste wollen. Und womit bezahlen sie das? Mit dem Geld der Tempel und der Fleißigen im Land. Letztendlich läuft es darauf hinaus, dass diejenigen, die Wohlstand schaffen, dafür durch hohe Steuern bestraft werden: die Handelshäuser und die Handwerker.“

„Sind die Steuern für die Tempel tatsächlich so hoch, dass man welche schließen muss?“, fragte ich dazwischen, um ihn auf seine eigene Situation zurückzubringen.

„Für die meisten Tempel gilt das nicht, denn außer einer Grundsteuer, die für die Gebäude erhoben wird, gibt es nur noch eine Kopfsteuer. Und da in Tempeln nur wenige Priester und Angestellte arbeiten, sind diese Steuern verkraftbar. Aber ...“

Ich verstand, worauf er hinaus wollte: „... aber bei den Klöstern und Konventen ist das anders. Die sind erstens groß und zweitens leben Dutzende von Mönchen in ihnen. Ich habe in Arbaran mehrere besucht. Wie viele gibt es in den Ringlanden?“

„Siebenundzwanzig. Eine heilige Zahl, die wir nicht verringern und nicht vergrößern wollen. Vierzehn davon sind in der Provinz Arbaran, da haben Sie Recht. Die Steuern für sie werden so hoch sein, dass wir in wenigen Jahren die ersten schließen müssen - auch wenn der dortige Fürst die Kosten für den laufenden Unterhalt trägt. Da Geshkan die Verlegung von Klöstern aus der Einöde Arbarans weiter nach Westen fordert, unterstützen diese Steuern seine Pläne. Die Bevölkerung zu Spenden aufzurufen, um den Dienern der Götter zu helfen, wird nicht viel bringen, da sie gleichzeitig erfahren, dass sie selbst höhere Steuern bezahlen müssen. Man kann einen Taler nur einmal ausgeben, und wenn er in der Steuerkasse landet, gelangt er nicht in den Spendentopf des Tempels.“

Einer der alten Priester hob die Hand, sprach aber erst, als Echterion ihm aufmunternd zunickte.

„Ist es nicht so“, begann er, „dass der gemeine Bürger zahlreiche Vorteile von den Plänen des königlichen Rats hat? Es wird Arbeit für viele geben, hoffentlich angemessen entlohnt, und Unterstützung für diejenigen, die nicht arbeiten können. Der Eine Gott wünscht sich, dass es den Menschen gut geht. Ich sehe keinen Grund, uns dagegen zu stellen, solange es nicht unsere Existenz gefährdet.“

„Das ist ein gewichtiger Einwand, der aber nicht berücksichtigt, dass es eine perfekte Verwaltung nicht gibt. Das Erheben der Steuern, das Planen und Überwachen der Bauarbeiten, das Verteilen der Gaben für die Ärmeren wird hohe Kosten verursachen. Ein großer Teil des eingenommenen Geldes wird für die Bezahlung der Bürokratie benötigt werden. Deshalb ist es für die Bürger ein Kreislauf, bei dem sie am Ende die Verlierer sind. Denn sie zahlen die Steuern, von denen man nach Abzug aller Verwaltungskosten ihre Arbeitsplätze finanziert. So ein System kann anfangs funktionieren, wenn vorhandenes Geld ausgegeben wird und über die Steuern neues hereinkommt. Aber bald werden die Fleißigsten, und das sind diejenigen, die die höchsten Abgaben zahlen, sich betrogen fühlen. Sie beginnen entweder damit, in großem Umfang die Steuer zu betrügen, oder sie arbeiten schlicht weniger.“

„Halten Sie das für möglich?“, fragte ich.

„Ja. Wenn ein Handelshaus keine Waren mehr zu fernen Märkten transportiert, weil die Steuern fast so hoch sind wie der Gewinn, verliert das ganze Land. Wenn ein Handwerker schon mittags seine Werkstatt schließt, weil jede weitere Stunde, die er arbeiten würde, ihm kaum etwas einbringt, verliert das ganze Land. Zugegeben, es gewinnen einige. Diejenigen, die Stellen in der überbordenden Verwaltung bekommen, und die Armen. Aber beide nur vorübergehend. Denn der Geldfluss wird versiegen, aus den genannten Gründen. Man wird das zu verhindern versuchen, indem man den prozentualen Anteil der Steuern erhöht, dadurch wird der Arbeitswille noch mehr eingeschränkt. Man muss die Steuern wieder erhöhen, um den Geldfluss zu erhalten, und so weiter.“

„Das System wird unter seiner eigenen Last zusammenbrechen“, fasste ich zusammen. „Ist das nicht gut so? Warten wir es einfach ab.“

„Es wird zehn oder mehr Jahre dauern, bis es so weit ist“, wandte Echterion ein. „Und wir dürfen unsere eigenen Vorhaben nicht außer Acht lassen. Zum einen nützen uns die Steuern, denn die jungen, fleißigen, umtriebigen Bürger werden umso eher bereit sein, über eine Zukunft außerhalb der Ringlande nachzudenken. Aber viele werden das System nicht durchschauen und überzeugt sein, dass von ihrem eigenen Steuergeld ein besseres Leben für sie selbst und ihre Kinder hier geschaffen wird. Es ist ein zweischneidiges Schwert. Doch wir reden zu viel, stelle ich fest. Noch hat Geshkan seine Pläne nicht vom Rat bestätigen lassen, und vielleicht gesundet die Königin-Witwe rasch und setzt dem Einfluss der Kurrether Grenzen.“

Die beiden alten Priester schüttelten ebenso entschieden die Köpfe wie ich. Arienna war seit dem Tod des Königs ein Spielball der Mächte an ihrem eigenen Hof. Sie repräsentierte die Ringlande, aber regiert wurden wir vom Rat der königlichen Verwalter unter der Leitung von Rat Geshkan.

„Wir werden sehen.“ Der Hohepriester griff nach einem Brief, der auf seinem Schreibtisch lag, und begann zu lesen. Das verstand ich als Verabschiedung. Ich verließ den Tempel so in Gedanken, dass ich vergaß, die geheimen Tunnel zu benutzen.

Während ich über den Vorplatz ging, auf dem wie immer reges Treiben herrschte, überlegte ich, was ich tun sollte. Die Hauptstadt zu verlassen, entsprach meiner Stimmungslage, schon weil ich dadurch Distanz zwischen mich und Jinna brachte. Aber einer Gefahr auszuweichen, ohne zu wissen, ob sie real war, und falls ja, wie groß, lag mir nicht. Ich musste mehr darüber in Erfahrung bringen. Ich wandte mich nach links und ging den Weg entlang, der zur Residenz des Fürsten Borran führte.

Ich behielt meine Umgebung genauer im Auge, als ich es gewohnt war. Deshalb fielen mir zwei Männer auf, die ähnlich schnell gingen wie ich. Einer war zwanzig Schritte vor mir, einer auf der anderen Straßenseite mal vor, mal etwas hinter mir. Beide waren groß, schlank und trugen dunkle Umhänge, was bei diesem Herbstwetter nicht ungewöhnlich war. An sich hätten sie Bürger der Stadt sein können, wie alle anderen Passanten auch. Aber es war etwas Seltsames an ihnen, das ich nicht genau erfassen konnte. Sie gingen wie ich in die Richtung von Borrans Residenz.

Falls sie es auf mich abgesehen hatten, so war es die falsche Tageszeit. Zu viele Leute waren unterwegs. Selbst, wenn der neben mir Gehende einen Sprung machte, um mich zu überraschen und mir ein Messer in den Rücken zu rammen, hatte er keine Chance, ungeschoren davon zu kommen. Das würde sich ändern, sobald wir die letzten Häuser hinter uns ließen und die gewundene Straße den Hang hoch zur Residenz gingen. Dort sah man uns zwar noch von der Stadt aus, aber schnell zu Hilfe eilen konnte man mir nicht.

Was tun? Ich blieb stehen und sah mich um. Hinter mir war niemand, der den beiden glich. Doch das musste nicht bedeuten, dass sie keinen weiteren Helfer in Reichweite hatten. Der Mann, der vor mir gegangen war, verlangsamte seinen Schritt und sah sich ebenfalls suchend um, als wisse er den rechten Weg nicht. Derjenige, der auf der linken Seite der Straße war, stand nun in einem Hauseingang. Er zögerte, hineinzugehen. Beide taten alles, um mich so unauffällig wie möglich nicht aus den Augen zu verlieren.

Ich griff nach dem kleinen Dolch, den ich immer bei mir trug, mehr als ein Werkzeug denn als eine Waffe. Bei einem Kampf würde ich mich auf meinen Kaiserdegen verlassen, aber um den zu nutzen, benötigte man Platz zum Ausholen.

Den Dolch verborgen in der Rechten haltend, ging ich zu dem Mann hinüber, der im Hauseingang stand. Ich blieb vor ihm stehen, sah ihm in die Augen und sagte mit einem falschen Lächeln: „Sie scheinen hier fremd zu sein. Kann ich Ihnen helfen?“

Er ließ sich nicht überrumpeln, sondern antwortete freundlich: „Danke, nein. Ich habe mich im Haus geirrt, aber nun weiß ich, wo mein Ziel liegt.“

Die wenigen Worte verrieten mir einiges über ihn. Er sprach gebildet und hatte einen leichten Dialekt, den ich besser kannte, als alle anderen, nämlich den meiner Heimatprovinz Krayhan. Aus der Nähe bemerkte ich außerdem die hohe Qualität seiner Kleidung. Was auf den ersten Blick dunkler Stoff in verschiedenen Schattierungen zu sein schien - Hemd, Hose und Umhang waren daraus gemacht - bestand in Wirklichkeit aus feinstem Ziegenleder. Der Degen an seinem Gürtel war an Heft und Parierstange aufwändig verziert, die Scheide aus Leder wurde durch ein Geflecht von Silberdrähten verstärkt. Das Gesicht des Mannes war länglich und unauffällig, nur seine grünlichen Augen fielen auf. Ihr Blick war hart und stetig. Nicht einen Moment wandten sie sich von mir ab, um zum Beispiel nach dem zweiten Mann zu sehen, der nun in meinem Rücken sein musste.

Ich ging einen halben Schritt beiseite und drehte mich um, so dass ich wieder die Straße entlang sah. Dadurch hatte ich ihn neben mir und den zweiten, der näher gekommen war, fünf Schritte vor mir. Sie arbeiteten also zusammen und hatten es tatsächlich auf mich abgesehen.

Für einen Moment ließ ich den Fremden den Dolch sehen, den ich in der Hand hielt. Wiederum lächelnd deutete ich die Straße hinunter zum Tempelplatz. „Ich glaube, Ihr Ziel liegt in dieser Richtung. Sie sollten sich beeilen, sonst kommen Sie nie dort an!“

Er neigte dankend den Kopf, ging langsam von mir weg und wandte sich dann noch einmal um. Mitten in der Straße stehend betrachtete er mich wie ein Denkmal oder ein auffallendes Gebäude. Er besah sich jede Kleinigkeit an mir, bis der zweite Mann bei ihm war. Gemeinsam gingen sie dann in die Richtung, die ich genannt hatte. Als sie weit genug entfernt waren, setzte ich meinen Weg zu Borrans Residenz fort.

Es handelte sich bei den beiden keinesfalls um einfache Ganoven oder um Tölpel aus einer kleinen Stadt. Die setzte man hier in Dongarth gerne für schmutzige Geschäfte ein, weil es nicht schlimm war, wenn sie dabei ertappt oder gar getötet wurden. Diese Männer stammten aus besseren Kreisen, vielleicht vom Fürstenhof oder aus den wohlhabenderen Familien in Krayhan. In meiner Heimat achtete man mehr auf Herkunft und Gesellschaftsschicht, als es in Dongarth der Fall war.

Hatte ich mir aufs Neue den Groll des dortigen Fürsten zugezogen? Nachdem der Mörder meines Vaters, Pengar Mapuun, jenseits des Ringgebirges umgekommen war, sollten die alten Geschichten eigentlich abgeschlossen sein. Ich hatte es aber versäumt, nach Krayhan zu reisen, wo meine Mutter noch lebte, um die Verhältnisse dort nach dieser Veränderung mit eigenen Augen zu sehen. Eine Nachlässigkeit, die sich nun womöglich rächte. Falls der Fürst beschlossen hatte, mir zwei Mörder aus den Kreisen des Hofes nachzuschicken, so war ich ernsthaft in Gefahr. Denn in Krayhan wurde man gut ausgebildet im Umgang mit Waffen. Niemand wusste das besser als ich.

Die Auswanderer

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