Читать книгу Wüsten und Städte - Manfred Rehor - Страница 11
ОглавлениеDas Interview
In der Innenstadt von Aragotth kannte sich Derec Celath aus. Er führte Macay durch Straßen und Seitenstraßen immer weiter zum Zentrum der Stadt hin, obwohl es Nacht war. Nur in wenigen Fenstern standen Kerzen, um den Passanten den Weg zu weisen. Der Mond war hinter dicht treibenden Wolken verborgen, die wohl bald Regen bringen würden.
Schließlich sah Macay in der Ferne ein helles Leuchten. „Was ist denn das?“, fragte er. „Ein Brand?“
„Nein. Der Regierungsplatz. Dort stehen der Palast der Regierung und rundherum die verschiedenen Ministerien. Der Platz wird durch Gaslampen fast taghell erleuchtet. Eine neue Erfindung, von der mir niemand so recht sagen konnte, wer sie eigentlich gemacht hat.“
„Gas?“ Macay kannte brennbares Gas, das manchmal aus den Sümpfen des Nebelkontinents entwich. Aber ein Sumpf lieferte sicherlich nicht genug Gas, um die Lichtflut zu erzeugen, auf die sie nun zugingen.
„Richtig. Es strömt irgendwo an der Westküste von alleine aus dem Boden. Man fängt es auf und pumpt es in dicken Rohren bis hierher nach Aragotth. In unterirdischen, dünnen Leitungen wird dann das Gas verteilt auf viele baumlange Maste, auf denen eine Flamme brennt. Abends geht ein Mann herum und entzündet die Lampen mit Hilfe einer langen Stange, mit der er bis nach oben reichen kann. Morgens werden die Lampen gelöscht, indem man am Hauptrohr das Gas abdreht. Eigentlich genial, nicht wahr?“
„Ein ziemlicher Aufwand, um einen einzelnen Platz zu erleuchten“, meinte Macay.
„Es ist das Zentrum unserer Republik. Da ist kein Aufwand zu groß. Außerdem soll mit dieser Anlage die Zuverlässigkeit des Gaslichts erprobt werden. Wenn es sich als ungefährlich erweist, plant die Regierung, alle Haushalte in der Innenstadt an die Gasversorgung anzuschließen. Kerzen und Petroleumlampen in den Häusern würden unnötig werden. Wie sie an das viele dann benötigte Gas herankommen wollen, sagen die hohen Herren aber nicht.“
Sie erreichten den Platz und Macay staunte die Lampen an, die in doppelter Mannshöhe leuchteten. Er zählte kurz durch und kam überschlägig auf rund fünfzig.
Derec Celath zeigte auf ein Gebäude: „Das ist der Sitz unserer Regierung. Sechs Stockwerke hoch und auch innen mit dem neuen Gaslicht ausgestattet. Es zu errichten hat ein Vermögen gekostet. Aber die Bürger haben nur anfangs wegen der hohen Ausgaben gemurrt. Inzwischen sind sie so stolz auf dieses Bauwerk, dass sie über die Kosten gar nicht mehr reden.“
„Das kann ich verstehen“, gab Macay zu.
Sie gingen am Regierungspalast vorbei zum Außenministerium. Vor dem Eingang hielten zwei Soldaten mit blinkenden Hellebarden Wache. Derec Celath zeigte ihnen sein Einladungsschreiben. Er und Macay durfte passieren.
Sie traten durch den Haupteingang und gelangten von dort in ein immenses Treppenhaus. Ein Mann in einem schwarzen Anzug kam auf sie zu. Wiederum zeigte Derec Celath das Schreiben vor. Der Mann verbeugte sich andeutungsweise und ging voran die breite Treppe hoch.
Im ersten Stock kamen sie an großen Türen vorbei, die mit Blattgold verziert waren. Macay fragte sich, was so ein riesiges Außenministerium wohl für Aufgaben hatte. Schließlich gab es auf der Welt außer der Karolischen Republik nur die Freie Republik und den unbedeutenden Nebelkontinent. Eine Handvoll Beamter sollte in der Lage sein, ohne großen Aufwand die internationalen Beziehungen zu verwalten.
Derec Celath schien Macays Gedanken zu ahnen. Er deutete auf die Türen und sagte: „Jede Bürokratie ist hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt. Solange der Staat das Geld dafür hat, wird die Bürokratie wachsen. Die Zahl der Beamten ist ein Beweis für die Wirtschaftskraft des Staates. Genauso wie prächtige Bauwerke, die niemand wirklich braucht.“
Der Mann, der ihnen vorausging, musste diese Bemerkung gehört haben, aber er reagierte nicht darauf. Er öffnete eine besonders auffällige Tür und sagte: „Bitte nehmen Sie Platz. Die Herren Diplomaten werden in Kürze erscheinen.“
Hinter der Tür war ein großer, hell ausgeleuchteter Raum, in dem mit rotem Samt bezogene Stühle um einen Tisch standen. Macay setzte sich so, dass er die Tür im Blick hatte. So konnte er hoffentlich seinen Freunden beim Hereinkommen durch ein rasches Zeichen zu verstehen geben, dass sie sich nicht kannten.
Nach ein paar Minuten öffnete sich die Tür und zwei Gestalten traten herein. Sie trugen Umhänge mit Kapuzen, die ihre Gesichter überschatteten. Ruckartig blieben sie stehen, als sie sahen, wer sie erwartete. Macay legte schnell den Finger auf die Lippen. Da Derec Celath seine Aufmerksamkeit ganz auf die Neuankömmlinge richtete, bekam er das nicht mit.
Die beiden Gestalten warfen ihre Kapuzen nach hinten. Die Köpfe eines Katzers und eines Echsenmannes wurden sichtbar. Derec Celath zuckte im ersten Schrecken zurück. Doch er fing sich schnell wieder. Er stand auf, ging zu den Diplomaten und streckte ihnen zur Begrüßung die Hand entgegen.
„Mein Name ist Derec Celath, ich bin Berichterstatter des Aragotther Boten. Mein junger Begleiter heißt Macay und unterstützt mich heute.“
Auch Macay trat nach vorne und gab den beiden die Hand. Er zwinkerte ihnen dabei verschwörerisch zu.
Derec Celath fuhr fort: „Ich freue mich, dass Sie bereit sind, sich von uns ausfragen zu lassen. Setzen wir uns doch.“
Sie setzten sich an den Tisch, Macay neben Derec Celath und der Katzer und der Echser den beiden gegenüber.
„Ich heiße Zzorg“, sagte der Echsenmensch.
„Und ich heiße Rall“, ergänzte der Katzenmensch. „Wir sind gerne bereit, die Öffentlichkeit der Karolischen Republik über die guten Absichten des Nebelkontinents und der Freien Republik zu informieren.“
Es klopfte, die Tür öffnete sich und der schwarzgekleidete Beamte erschien wieder. Diesmal schob er ein Rollwägelchen vor sich her, auf dem Tee und andere Getränke sowie ein kleiner Imbiss standen. „Dieser Raum steht Ihnen eine Stunde zur Verfügung, meine Herren. Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen.“ Er deutete eine Verneigung an und ging hinaus.
„Als ob man mitten in der Nacht in diesem Riesengebäude ausgerechnet diesen Raum in einer Stunde für etwas Anderes benötigen würde“, sagte Derec Celath. „Das ist nur Ausdruck bürokratischer Willkür. Ich hoffe, ich rede nicht zu offen.“
Rall schüttelte den Kopf. „Auch wir lernen nach und nach die Einschränkungen kennen, die ein so großes Staatswesen wie das Karolische mit sich bringt. Seit wir die Entführung überstanden haben, lässt man uns nicht mehr aus diesem Gebäude heraus. Draußen vor der Tür dieses Raumes postieren sich jetzt Wachsoldaten.“
„Wir haben sie nicht gesehen“, sagte Macay verblüfft.
„Sie sind unsere ständigen Begleiter seit diesem Vorfall.“
„Vorfall nennen Sie das?“, fragte Derec Celath. Er legte einen Notizblock vor sich hin und begann zu schreiben.
„Nun, es ist uns nichts weiter passiert“, sagte Zzorg. „Ein paar Schrammen, mehr nicht. Es war ein interessantes Abenteuer.“
„Was wollten die Entführer von Ihnen?“
„Das wissen wir nicht. Vermutlich ging es ihnen nur darum, ein hohes Lösegeld zu erpressen. Was ihnen nicht gelungen ist, weil wir uns selbst befreien konnten.“
Macay bemerkte an Ralls starrem Blick, dass der Katzer log. Ihn interessierte brennend, was wirklich vorgefallen war.
„Trotzdem scheinen Sie mir bemerkenswert wenig beeindruckt von dem Erlebnis zu sein“, bohrte Derec Celath nach. „War es nicht schrecklich, in die Hände von Entführern zu geraten?“
„Sie dürfen nicht vergessen, dass wir vom Nebelkontinent stammen“, sagte Zzorg ein wenig angeberisch. „Gefahren und Abenteuer sind für uns so selbstverständlich wie für einen Karolier die tägliche warme Mahlzeit.“
Alle lachten.
„Eines Tages werde ich diesen berüchtigten Kontinent besuchen“, versprach Derec Celath.
„Sie sind uns jederzeit willkommen“, behauptete Rall. „Ich glaube nicht, dass jemals ein karolischer Berichterstatter bei uns war.“
Noch eine gute halbe Stunde fragte Derec Celath die beiden Tiermenschen aus. Aber er erfuhr wenig mehr, als dass der Nebelkontinent und die Freie Republik an friedlicher Zusammenarbeit und einer Ausweitung des Handels interessiert waren.
Macays Unruhe fiel irgendwann auch Derec Celath auf. „Möchtest du etwas fragen?“, wollte er wissen. „Keine Hemmungen!“
„Wie lange bleiben Sie noch hier in der Hauptstadt?“, wandte sich Macay nach dieser Aufforderung an die Diplomaten.
„Wir werden in zwei Tagen abreisen“, sagte Rall. „Vorzeitig. Die Regierung will kein weiteres Risiko eingehen, hat man uns gesagt.“
„Dann ist dies also die letzte Möglichkeit, uns mit Ihnen zu unterhalten?“
„So ist es, junger Mann.“ Rall machte ein kleines, nur Macay verständliches Zeichen.
Macay stand auf und holte sich eine Tasse Tee von dem Rollwagen. „Möchten Sie auch etwas?“, fragte er Derec Celath.
Derec Celath sagte, seine Kehle sei trocken vom vielen Fragen, Tee würde ihm gut tun. Macay ging noch einmal zum Rollwagen.
Rall stand auf und kam zu ihm. „Auch wir sind durstig“, sagte der Katzer.
Macay und Rall wandten dem Journalisten den Rücken zu. Zzorg verwickelte den Berichterstatter in ein Gespräch. So konnte Rall ungesehen ein Pulver in Derec Celaths Tee mischen. Macay wusste, dass der Katzer ein hervorragender Heiler war, der es verstand, Kräuter zum Nutzen der Menschen einzusetzen. Was auch immer Rall in die Tasse getan hatte, es würde Derec Celath nicht schaden.
Die Wirkung des Tees setzte wenige Minuten nach dem ersten Schluck ein. Derec Celath schloss die Augen, sein Kopf sank langsam nach vorne. Noch einmal riss er sich zusammen und sagte „Entschuldigung!“, dann schlief er ein.
„Leise!“, zischte Zzorg, als Macay etwas sagen wollte. „Wir werden sicherlich belauscht. Komm näher.“
Macay kam zu ihrer Seite des Tisches und die drei steckten die Köpfe zusammen. Flüsternd informierten Rall und Zzorg ihren Freund über ihr Erlebnis mit den angeblichen Entführern. Macay erzählte, was er in Kedorrah erfahren hatte.
„Es scheint, als wisse niemand, wer Karolien tatsächlich regiert. Es gibt eine Macht im Hintergrund, die alles steuert“, fasste Rall zusammen. „Ihr Ziel ist es, eine hochstehende Technologie zu entwickeln, mit der man die Freie Republik und den Nebelkontinent erobern kann. Allerdings ist der Aufwand, der dafür getrieben wird, weit überzogen. Schon jetzt verfügt Karolien über so viele moderne Waffen, dass es die anderen beiden Kontinente vermutlich fast ohne eigene Verluste besiegen könnte.“
„Wir wissen nicht, gegen wen sich diese Waffenmacht eigentlich richtet“, ergänzte Zzorg.
„Gegen Bea und die Station der Alten Menschen“, flüsterte Macay.
„Daran haben wir auch schon gedacht. Aber wenn der unbekannte Herrscher Karoliens von Beas Existenz weiß, dann weiß er auch, dass die Station der Alten Menschen auf dem Südkontinent uralt und ein halbes Wrack ist.“
„Auf jeden Fall muss Bea erfahren, was hier vor sich geht“, sagte Macay. „Vielleicht kann sie uns sagen, was das eigentliche Ziel der Karolier ist. Mein sprechender Stein funktioniert aber in Karolien nicht. Ich kann keinen Kontakt mit ihr aufnehmen.“
„Wir werden zu ihr reisen. Allerdings müssen wir vorher die Regierung der Freien Republik über die Gefahr eines Krieges informieren. Viel nützen wird es nicht, weil das ehemalige Kaiserreich kaum die Möglichkeiten hat, einen Angriff abzuwehren. Und was den Nebelkontinent angeht, können wir uns nur, wie schon in früheren Zeiten, auf die Hilfe der Natur verlassen. Sie wird den unerfahrenen Eindringlingen das Leben so schwer machen, dass sie bald wieder abziehen.“
„Fragt Bea auch, was ich weiter tun soll“, bat Macay. „Besteht das Karolische Rätsel darin, wer dieses Land regiert? Falls ja, warum hat sie gesagt, ich müsse im Süden nach einer Lösung suchen? Die Regierung ist hier in Aragotth.“
„Macay, dein Ansatzpunkt ist die Untergrundorganisation, die uns entführt hat“, sagte Rall. „Du sagtest, dieser Taschendieb, Fradecco, will ebenfalls nach Aragotth kommen? Wenn er in seinem Beruf gut ist und sich hier auskennt, wird er dich finden. Warte noch ein paar Tage ab.“
Zzorg fügte hinzu: „Aber dann kehre auf jeden Fall zurück an den Südrand des bewohnten Gebietes von Karolien, wie Bea es wollte.“
„Schluss jetzt“, flüsterte Rall. „Unsere Stunde ist gleich um. Jeden Moment kann man uns stören. Wir müssen Derec Celath wieder wach bekommen.“ Er holte einen kleinen Behälter aus den Innentaschen seines Umhangs. Daraus ließ er etwas Pulver auf Macays Hand rieseln, kaum genug, um sichtbar zu sein. „Vorsicht!“, sagte er. „Bewege deine Hand langsam, damit du das Pulver nicht verlierst. Halte es ihm genau unter die Nase. Sobald er es eingeatmet hat, setze dich hin, als wäre nichts gewesen.“
Macay tat das.
Derec Celath nieste, setzte sich ruckartig auf, nieste noch einmal und sah sich erstaunt um.
„Ich muss eingeschlafen sein“, sagte er.
„Nein“, widersprach Rall. „Aber anscheinend haben die vielen immer gleichen Fragen Ihres jungen Freundes Sie ermüdet. Nun, mehr können wir über das Leben auf dem Nebelkontinent nicht erzählen, egal wie oft du deine Fragen wiederholst, jungen Mann. Wir ...“
Die Tür wurde aufgestoßen und der Beamte in Schwarz erschien. Sein Gesichtsausdruck war zornig, aber sein Tonfall unverändert. „Die Stunde ist vorüber, meine Herren. Ich hoffe, Sie haben sie gut genutzt.“
Er weiß etwas, dachte Macay bei sich; zumindest hat er bemerkt, dass wir uns eine Zeitlang nicht laut unterhalten haben.
Der Schwarzgekleidete brachte Derec Celath und Macay zur Tür und verabschiedete sie. „Ich hoffe, bald Ihren Artikel lesen zu können“, sagte er zum Abschied. „Sicherlich wird er sehr aufschlussreich sein nach dem langen Gespräch, das Sie mit den beiden Diplomaten geführt haben.“
Derec Celath verstand die Anspielung nicht, denn ihm fehlte für einen Teil der Zeit die Erinnerung.