Читать книгу Wüsten und Städte - Manfred Rehor - Страница 6

Оглавление

Fradecco

Lärm und Geschrei weckten Macay am folgenden Morgen in Kedorrah. Schnell stand er auf, wusch sich und verließ das Gasthaus, um sich umzusehen. Es war kein Tumult in der Stadt ausgebrochen. Der Lärm kam vom Marktplatz, wo der berühmte Jahreszeitenmarkt begonnen hatte. Das Ereignis markierte den Beginn des Frühlings und später im Jahr den des Herbsts.

Der erste Markttag war ein Feiertag. Die Bürger der kleinen Stadt zogen ihre beste Kleidung an, um durch die Stadt zu spazieren. Überall konnte man die Fahnen der Karolischen Republik sehen. Man schlenderte ohne Eile über den Markt, wenn man nicht als Rüpel gelten wollte. Gutgelaunt ließ man sich hier die Probe eines Gewürzes aus fernen Gegenden unter die Nase halten und dort die Kostprobe eines besonderen Gebäcks. Man trank Tee aus dünnen Tassen, während man sich an einem Stehtisch mit anderen Marktbesuchern unterhielt. Wer Hunger hatte, verschwand in den Zelten am Rande des Marktplatzes, aus denen der Duft von allerlei Gebratenem strömte - Lamm, Ochse, Geflügel.

Nichts störte den Eindruck eines gesitteten Gemeinwesens, dessen Mitglieder zwar nicht reich, aber doch wohlhabend waren. Die Fachwerkhäuser, die den Marktplatz umstanden, sahen aus wie gerade frisch verputzt, so hell strahlte das Weiß zwischen den dunklen Balken. Die Fenster waren groß und sauber, mit Blumenkästen davor und bunten Gardinen dahinter.

Kein Bettler belästigte die Marktbesucher, kein Scharlatan versuchte, ihnen mit kleinen Zauberkunststückchen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Was es an Angeboten gab, war seriös und gediegen und seinen Preis wert.

Schöner konnte ein Jahrmarkt, den viele Menschen aus der Stadt und dem Umland besuchten, eigentlich gar nicht sein.

Trotzdem fühlte sich Macay nicht wohl, während er von Stand zu Stand ging und die Waren betrachtete. Er kannte größere Märkte. Vor allem den in seiner Heimatstadt Mersellen, der so ganz anders war. Bunter, grobschlächtiger, aber auch lebendiger. Sicherlich, in Mersellen konnte man nicht so sorglos herumspazieren. Wer das tat, war binnen kürzester Zeit seine Geldbörse los. Kedorrah war dagegen von geradezu gähnender Langeweile.

Macay war nach Kedorrah gekommen, weil Bea ihm geraten hatte, im Süden mit seinen Nachforschungen zu beginnen. Im Gegensatz zur Hauptstadt der Karolischen Republik, dem riesigen Aragotth, musste er hier auch nicht damit rechnen, von Regierungsspitzeln umgeben zu sein.

Nicht einmal vor Taschendieben brauchte er sich in Acht zu nehmen, obwohl er im Moment ein fettes Opfer für sie wäre. Er hatte viel Geld bei sich. Doch das war nicht sein ganzer Besitz. Einer Gewohnheit folgend, die seinen Erfahrungen in Mersellen geschuldet war, trug er das Wertvollste, was er besaß, immer direkt am Körper. In Mersellen war das manchmal ein Stoffbeutel mit ein paar Münzen gewesen, oder eine Ration Schiffszwieback, die er einem betrunkenen Matrosen gestohlen hatte.

Nun trug er unter Wams und Hemd einen Stab aus Metall, der in der Innentasche des Hemdes steckte. Macay hatte sich diese Innentasche von einem Schneider einnähen lassen.

Der Gegenstand, der dort sicher verborgen war, hatte etwa die Größe eines Schleifsteins, wie man ihn für kleine Messer benutzte. Seine Oberfläche zeigte das gesprenkelte Aussehen von Granit, war aber eindeutig aus Metall. Bea hatte ihm diesen sprechenden Stein gegeben, um jederzeit mit ihm Verbindung aufnehmen zu können.

„Drehe die Enden gegeneinander. Du wirst feststellen, dass der Stab sich nicht bewegt. Aber die Kraft, die du bei dem Versuch aufwendest, wird registriert und setzt im Inneren des Stabes einen Mechanismus in Gang. Dann hörst du meine Stimme und wir können uns unterhalten. Wenn ich mit dir reden will, wird der sprechende Stein kurz vibrieren.“

Macay hatte das Wunderding seitdem schon mehrfach benutzt. Doch seit er in Karolien eingetroffen war, funktionierte der Stab nicht mehr. Das Drehen der Enden gegeneinander führte zu keiner Reaktion. Vielleicht war er unterwegs kaputt gegangen. Solange das nicht feststand, trug ihn Macay jedoch immer bei sich, um das leichte Vibrieren nicht zu verpassen, falls Bea sich meldete.

Wegen des fehlenden Kontakts fühlte sich Macay unwohl auf seiner Reise durch Karolien. Denn Bea hatte ihn bisher auch über die Entwicklung in seiner Heimat auf dem Laufenden gehalten. Macays Eltern organisierten dort die Umsiedlung der sogenannten Adeligen auf den Nebelkontinent. Man rodete bereits Teile des östlichen Dschungels, um eine Stadt für sie zu errichten. Auf dem kaiserlichen Kontinent hatte sich die Freie Republik gegründet. Derzeit regierte ein Übergangsrat, der eine neue Regierung wählen und einsetzen sollte. Trotz seines jugendlichen Alters war Macay Mitglied dieses Übergangsrates.

Nun, es war sinnlos, darüber nachzugrübeln. Macay schlenderte weiter über den Markt. An einer Bude kaufte er sich einen heißen Fladen, bestrichen mit würzigem Waldhonig, wie man ihn hier in der Gegend gerne aß. Damit stellte er sich in eine ruhige Ecke zwischen zwei Marktständen.

Jemand schubste ihn von hinten an und drängelte sich an ihm vorbei. Macays Reflexe waren schneller als seine Gedanken. Er ließ den Honigfladen fallen und griff mit der Rechten nach seiner Hosentasche, um sie vor fremdem Zugriff zu schützen. Im nächsten Sekundenbruchteil bekam er eine Hand zu fassen, die versuchte, ihm seine Geldbörse aus der Tasche zu ziehen. Schnell ein Bein vorgestreckt, das Handgelenk des Diebs fest umklammert, und schon stolperte ein junger Mann neben Macay zu Boden und renkte sich dabei fast den Arm aus.

Der Mann, schlank und gut gekleidet, machte nicht den Eindruck eines gewöhnlichen Taschendiebs.

„Versuch das nicht noch einmal!“, herrschte Macay ihn an.

In Macays Heimatstadt Mersellen rief man nicht die Polizei, wenn man einen Dieb erwischte. Zumindest nicht, wenn man wie Macay von Kindheit an selbst auf gelegentliche Diebstähle angewiesen war, um etwas zu Essen zu haben. Man machte seinem Gegenüber klar, dass man auf derselben Seite stand, und ließ ihn laufen.

Der Taschendieb starrte Macay mit großen Augen an, während er sich hochrappelte. Macay ließ sein Handgelenk los. Der Mann schüttelte die Hand nach unten, als wolle er prüfen, ob das Gelenk noch funktioniert. Dann stand er unschlüssig da.

Macay grinste ihn an, um die Spannung zu nehmen. „Man hat mir gesagt, in Kedorrah gebe es keine Diebe“, sagte er. „Wer bist du?“

Der junge Mann öffnete den Mund, um zu antworten. Aber er besann sich anders und drehte den Kopf zur Seite, als höre er etwas Ungewöhnliches.

Tatsächlich schallten vom anderen Ende des Marktplatzes Rufe herüber. Während Macay noch überrascht versuchte, zu verstehen, was da gerufen wurde, gab ihm der junge Mann unvermittelt einen Schubs. Macay stolperte einen Schritt nach hinten. Das nutzte der Taschendieb, um davonzurennen und zwischen den Marktbesuchern zu verschwinden.

Macay folgte ihm nicht. Wozu auch? Ihm war nichts gestohlen worden. Und wenn die Diebe in Kedorrah ähnlich organisiert waren, wie er es aus Mersellen kannte, dann sprach sich unter ihnen schnell herum, dass Macay jemand war, dem man besser nicht in die Tasche fasste. Man würde ihn künftig in Ruhe lassen.

Er ging zum anderen Ende des Marktplatzes, von woher das Geschrei erklungen war, das ihn abgelenkt hatte. Er fand eine dichte Menschenmenge, in deren Mitte Uniformierte sich mit einem gutgekleideten Bürger unterhielten, der mit hochrotem Kopf lauthals schimpfte. Ein Taschendieb hatte ihm die Geldbörse gestohlen.

Mit einem unterdrückten Grinsen ging Macay weiter. Dieses Kedorrah war offenbar doch nicht das idyllische Paradies, das zu sein es vorgab.

Als Macay vom Markt zum Gasthaus zurückkehrte, warteten zwei Büttel auf ihn. Sie waren sehr höflich, als sie ihn ansprachen. Der dickere von den beiden stellte sich als Roderham vor, Oberbüttel der Stadt Kedorrah. Er erkundigte sich nach Macays Namen und fragte, wo er herkomme und was er in der Stadt vorhabe.

Macay antwortete mit den vorbereiteten Lügen: Er stamme aus einem Ort weit im Norden des Kontinents und wolle neue Handelsmöglichkeiten erkunden.

„Welche Handelsmöglichkeiten?“

„Wenn ich wüsste, welche Möglichkeiten es gibt, hätte ich die lange Reise nicht auf mich nehmen müssen“, entgegnete Macay.

Einen Moment musste Roderham nachdenken, bevor er zugab: „Das macht Sinn. Sie waren heute auf dem Marktplatz?“

„Wie fast jeder andere Mensch in der Stadt. Der Jahreszeitenmarkt in Kedorrah ist berühmt. Wer würde sich den entgehen lassen?“

Roderhams Gesicht leuchtete auf und er lächelte, als habe das Kompliment ihm persönlich gegolten. „Ja, das stimmt! Sind Sie während des Marktbesuchs belästigt worden?“

„Nein. Wer sollte mich belästigen?“

„Es treibt sich ein Taschendieb auf dem Markt herum.“

„Mir wurde nichts gestohlen“, antwortete Macay wahrheitsgemäß.

„Beruhigend, das zu hören.“ Roderham schien wieder erst nachdenken zu müssen, bevor er eine weitere Frage fand, die er stellen konnte. „Aber dieser Zusammenstoß mit einem anderen Marktbesucher am Honigfladenstand ...“

Nun öffnete der zweite Büttel zum ersten Mal den Mund: „Stand Nummer 62, Inhaber Arad Deran.“

„... erweckte den Anschein, er sei nicht zufällig erfolgt“, beendete Roderham seinen Satz.

Die Büttel sind erstaunlich gut informiert, dachte Macay. Er sagte: „Da hat sich ein junger Mann unvorsichtig an mir vorbeigedrängt. Ich gebe zu, dass ich im ersten Moment einen Taschendieb vermutete, denn das ist eine ihrer Methoden, um Opfer zu überrumpeln. Aber wie schon gesagt, mir wurde nichts gestohlen, und der junge Mann hat sich für seine Unvorsichtigkeit entschuldigt.“

„Aha! Sie wissen genug über die Methoden von Taschendieben, um sofort an diese Möglichkeit zu denken“, folgerte Roderham.

„Nicht überall sorgt die Obrigkeit so gründlich für die Sicherheit der Bürger wie hier in Kedorrah“, schmeichelte Macay ihm. „In anderen Städten lernt man, vorsichtig zu sein.“

„Das trifft wohl zu.“ Roderhams Gesichtszüge verfinsterten sich und seine Stimme wurde lauter. „Aber wir sind hier nicht in anderen Städten. Ein Taschendieb in unserer Stadt ist ein unerhörter Vorfall! Kein Dieb, welcher Art auch immer, hat sich hier aufzuhalten!“

„Sie wissen doch gar nicht, ob dieser junge Mann ein Taschendieb ist.“

„Ihnen ist nichts entwendet worden, aber anderen Marktbesuchern. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir einen Hinweis auf den Übeltäter geben. Würden Sie ihn wiedererkennen?“

„Vermutlich. Aber das würden auch die anderen Passanten, die den Vorfall beobachtet und Sie darüber informiert haben, nicht wahr?“ Macay konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

„Ja, sicher, da haben Sie recht. Wie lange werden Sie sich noch in unserer Stadt aufhalten?“

„Wenige Tage“, behauptete Macay.

„Und wohin reisen Sie von hier aus?“

„Das kommt darauf an, welche geschäftlichen Möglichkeiten sich ergeben. Eventuell an eine der Küsten, falls das günstig erscheint. Ansonsten in die Hauptstadt, um neue Investoren zu gewinnen.“

„Ich wünschen Ihnen gute Geschäfte und eine gute Reise“, sagte Roderham. Er salutierte zackig. Sein Untergebener tat es ihm nach. Dann marschierten die beiden Ordnungshüter davon.

Es war Abend, als Macay aus dem Stadttor hinaus auf das freie Feld ging, wo ein Schauspiel aufgeführt werden sollte. Das Tor wies nach Norden, denn dorthin führten alle Straßen, über die man Kedorrah erreichen konnte. Südlich der Stadt verwandelte sich das fruchtbare Land binnen weniger Meilen in dürre Steppe; in diese Richtung reiste niemand.

Das Freilufttheater war nicht zu verfehlen, weil es hell beleuchtet war. Um Macay herum gingen viele Bürger der Stadt ebenfalls dorthin, noch festlicher gekleidet als tagsüber auf dem Markt. Vor dem Theatereingang standen Jahrmarktbuden, wie er sie auch auf dem Marktplatz gesehen hatte.

Die Holzbänke vor der improvisierten Bühne reichten nach Macays Schätzung für rund zweihundert Zuschauer. Die Plätze füllten sich schnell. Kultur schien in Kedorrah einen hohen Stellenwert zu haben.

Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis dreimaliges lautes Klingeln verkündete, dass die Vorführung begann. Der Vorhang hob sich und man sah ein Bühnenbild, das rechts einen gemütlich ausgestatteten Wohnraum zeigte, in der Mitte eine angedeutete Hauswand und links eine Straße. Im Haus unterhielten sich die Mitglieder einer Familie über Politik.

Im ersten Moment fragte sich Macay, warum ein heikles Thema wie Politik bei einer solchen Volksbelustigung angesprochen wurde. Doch schnell hörte er heraus, dass das ganze Theaterstück aus Lobreden auf die Regierung der Karolischen Republik und ihren Präsidenten Abruun bestand. Auch der Bürgermeister der Stadt wurde mehrmals gelobt und die Behörden allgemein als vorbildlich erwähnt. Dabei nannten die Schauspieler nie Namen, nicht einmal den der Stadt. Was Macay sah, war ein Standardstück, das man unverändert in jedem Ort Karoliens darbieten konnte. Die Geschichte, um die es eigentlich ging, war ein kompliziertes Liebesverhältnis eines Mädchens, das einen schneidigen, aber armen Offizier heiraten wollte, während sein Vater einen reichen Kaufmannssohn für sie im Auge hatte.

Wenige Minuten genügten, um in Macay gähnende Langeweile aufkommen zu lassen. Das ging nicht nur ihm so. Immer mehr Zuschauer verließen das Theater wieder. Dafür rückten aber ständig andere nach, die wohl nur einen Blick auf die Schauspieler und die Kostüme werfen wollten, ohne sich um das Stück als solches zu kümmern.

Macay ging zu den Buden, um sich etwas zu Essen zu kaufen. Dabei behielt er seine Umgebung im Auge. Er hoffte, den Taschendieb noch einmal zu sehen. Vielleicht sogar auf frischer Tat zu ertappen. Aber die Beleuchtung war nicht gut genug. So blieb Macay schließlich an einem Stand stehen, der Teigtaschen mit eingelegtem Gemüse anbot, eine Spezialität Karoliens. Er kaufte sich eine Portion und stellte sich neben der Bude in eine dunkle Ecke, um die Marktbesucher zu beobachten, während er den merkwürdig süß-säuerlich schmeckenden Imbiss aß.

Eine größere Menschenmenge kam vom Theater herüber. Die Zuschauer wollten sich in der Pause zwischen zwei Akten eine Erfrischung gönnen. Nur wenige Schritte von Macay entfernt stolperte ein wohlhabend aussehender älterer Mann und wäre beinahe hingefallen. Ein anderer Passant reagierte zum Glück schnell genug und griff dem Älteren stützend unter die Arme. Ein kleiner Zwischenfall, der nur Sekunden dauerte. Doch Macay sah, wie der hilfreiche Passant etwas aus der Jackentasche des Älteren nahm. Auch wenn der scheinbare Helfer nicht der junge Mann vom Vormittag war: Es handelte sich um einen Taschendieb!

Macay folgte ihm. Er wusste, dass Taschendiebe gerne zu zweit arbeiteten. Der eine stahl, gab die Beute dann aber gleich an einen Komplizen weiter. Sollte der Dieb ertappt werden, so würde man keine Beute bei ihm finden und musste ihn laufenlassen.

Wieder rempelte der Mann einen anderen Passanten an - und steckte seinem Opfer diesmal etwas in die Tasche. Doch der Mann, dem er etwas zugesteckt hatte, sah aus wie ein ehrbarer Bürger. Er war mit Frau und zwei Kindern zwischen den Buden unterwegs. Kaum der passende Komplize für einen Taschendieb! Zu gerne hätte Macay Saika nach ihrer Meinung gefragt. Sie war gelernte Diebin. Aber man durfte sie hier in Kedorrah nicht zusammen sehen.

Macay folgte dem Taschendieb weiter. Noch einmal beobachtete er einen inszenierten Beinahezusammenstoß, bei dem der Dieb etwas stahl. Dann verließ der Taschendieb das Gelände.

Macay blieb hinter ihm. Immer wieder schien der Schatten vor Macay zu verschwinden, tauchte dann aber wieder auf. Gemütlich schlendernd manchmal, dann mit schnelleren Schritten, als habe er es plötzlich eilig. Die Silhouette und die geschmeidige Gangart des Mannes waren jedoch so eindeutig, dass Macay sicher war, immer denselben vor sich zu haben.

Schließlich verlor Macay den Taschendieb aus den Augen. Enttäuscht blieb er stehen und versuchte, in der Dunkelheit eine Bewegung zu erkennen. Der Lärm, der vom Theaterplatz herüberklang, machte es unmöglich, Schritte zu hören. Nach einigen Minuten gab er das Warten auf und ging zügig auf das Stadttor zu. Plötzlich packte ihn jemand von hinten, riss ihn herum und warf ihn zu Boden.

Es waren die Reflexe, die er sich während der Abenteuer auf dem Nebelkontinent und den Brückeninseln angeeignet hatte, die Macay retteten. Er wehrte sich nicht, sondern nutzte den Schwung des Falles dazu, sich wegzurollen. Er versuchte auch nicht, sich aufzurichten; er zog im Liegen die Knie an und empfing den Gegner, indem er ihm seine Stiefelsohlen in den Magen rammte. Das brachte den Mann zu Fall. Nun sprang Macay auf. Doch der Angreifer war ebenso wendig wie er und sofort wieder auf den Beinen. Die Klinge eines Messers glänzte im schwachen Mondlicht.

Macay war unbewaffnet. Er machte sich bereit, sein Leben mit bloßen Händen so gut wie möglich zu verteidigen.

„Wir sind nahe am Stadttor“, sagte er, den Blick immer auf das Messer gerichtet, um einen Angriff sofort zu erkennen. „Wenn ich um Hilfe rufe, sind die Büttel in wenigen Augenblicken hier.“

„Feigling!“, sagte der Mann. Aber er steckte das Messer weg. „Du bist der Kerl, der aus der Hauptstadt gekommen ist“, fuhr er fort.

„Behauptet man das?“, fragte Macay.

„Man hört so manches, das aber nicht stimmen muss.“

„Wo kommst du her?“, wollte Macay wissen. „Taschendiebe hat es in Kedorrah bisher nicht gegeben.“

„Sagen wir mal, ich komme auch aus der Hauptstadt und bin hier, weil ich mich von meinen Geschäften dort erholen will.“

„Man ist hinter dir her und du versteckst dich hier“, folgerte Macay.

„Vielleicht.“

„Wer ist der behäbige Mann, dem du vorhin etwas zugesteckt hast?“

„Oha, du hast gute Augen“, antwortete der Taschendieb. „Vergiss das wieder, sonst könnte es sein ...“ Er ließ das Ende seiner Drohung offen. Unvermittelt streckte der Taschendieb seine rechte Hand aus. „Ich heiße Fradecco“, sagte er.

„Macay.“

Sie schüttelten sich die Hand.

„Ich habe das Gefühl, wir passen ganz gut zueinander. Wir sind beide Außenseiter“, sagte Fradecco.

Sie gingen nebeneinander her auf das Stadttor zu. „Wer ist der zweite Taschendieb, der auf dem Jahreszeitenmarkt arbeitet?“, fragte Macay. „Ein junger Mann, auch nicht von hier.“

Fradecco lachte. „Danke für den jungen Mann.“ Dabei fuhr er sich mit der Hand durch die Haare, wischte mit einem Taschentuch Schminke aus seinem Gesicht und richtete sich ein wenig auf. Gleich wirkte er schlanker und jünger als bisher.

Erstaunt sah Macay, dass nun der Taschendieb neben ihm stand, der am Vormittag versucht hatte, ihn zu bestehlen. „Du warst das also!“

„Ich bin der einzige meines Gewerbes in der Stadt“, sagte Fradecco.

„Das war kein Zufall heute Vormittag“, behauptete Macay aus einem Gefühl heraus. „Du hast gezielt versucht, mich zu bestehlen. Worauf bist du aus?“

„Ich weiß es nicht. Man hat mir gesagt, du trägst etwas Wertvolles bei dir und ich solle versuchen, es dir abzunehmen.“

„Man? Wer?“

„Leute hier in der Stadt. Sie haben mir nicht verraten, um was es geht. Nachdem ich dich nun kennengelernt habe, bin ich mir nicht mehr sicher, ob es gut wäre, dich zu bestehlen. Vielleicht sind meine Auftraggeber nicht die wohlgesinnten Leute, die zu sein sie behaupten. Darf ich dir einen Rat geben?“

„Gerne.“

„Verschwinde von hier. Wenn diese Leute feststellen, dass ein Taschendieb nicht mit dir fertig wird, könnte es sein, dass sie auf eine schmerzhaftere Art versuchen, sich in den Besitz deines Eigentums zu setzen.“

„Ich verstehe. Wie groß schätzt du die Gefahr ein?“

„Morgen früh noch vor Sonnenaufgang fährt die erste Kutsche Richtung Aragotth ab.“

„Du bleibst hier?“

„Das werde ich mir in den nächsten Stunden überlegen. Vielleicht treffen wir uns in der Kutsche. Jetzt habe ich erst einmal etwas Anderes vor. Viel Glück und gute Reise.“

Mit schnellen, leisen Schritten verschwand Fradecco in der Dunkelheit zwischen den Büschen am Wegesrand.

Wüsten und Städte

Подняться наверх