Читать книгу Wüsten und Städte - Manfred Rehor - Страница 8
ОглавлениеDie Diplomaten
„Aragotth ist nicht nur die größte Stadt unserer Republik“, sagte Meredeem, „sondern die größte der Welt.“
Rall war bereit, das zu glauben. Er und Zzorg fuhren seit Stunden mit einer Kutsche der Regierung durch Aragotth.
Ihr Stadtführer war ein Mann mittleren Alters, von mittlerer Intelligenz und bekleidete ein Amt irgendwo in der Mitte der Hierarchie der Verwaltung der Karolischen Republik. Kurz gesagt, Meredeem war niemand Besonderes. Er kannte vermutlich keine vertraulichen Fakten aus Regierungskreisen und war deshalb mit dieser Aufgabe betraut worden. Er schien sich darauf einiges einzubilden.
Rall, der Katzenmensch, und Zzorg, der magisch begabte Echsenabkömmling, hielten sich als offizielle Abgesandte des Nebelkontinents und der Freien Republik in Karolien auf. Das war problematisch, denn es gab in ganz Karolien nicht ihresgleichen. Die Einwohner waren es nicht gewohnt, mit Katzen- oder Echsenmenschen umzugehen. Sicherlich hatten die meisten von solchen Rassen gehört, die irgendwo weit weg lebten. Aber schon die erste Begegnung mit Regierungsvertretern lehrte die beiden ungleichen Diplomaten, dass man das in Karolien für Kindermärchen gehalten hatte. Die Menschen waren schockiert, wenn solche Wesen plötzlich vor ihnen standen und zu reden anfingen, als wären sie ganz normale Mitbürger.
Um keine Unruhe zu verbreiten, hatte man Rall und Zzorg gebeten, Umhänge mit weit überhängenden Kapuzen zu tragen. Ihre Gesichter und ihre Gestalt sollten unkenntlich bleiben. Auch fuhr man sie in einer geschlossenen Kutsche durch die Stadt, mit Vorhängen vor den Fenstern, so dass sie nur durch einen Spalt hinaussehen konnten.
„Nachdem Sie das Regierungsviertel und einige der Wohngegenden besichtigt haben“, sagte Meredeem, „führt uns unsere Fahrt nun hinaus in die äußeren Bezirke der Stadt. Dort haben wir die Manufakturen angesiedelt.“
„Angesiedelt?“, wunderte sich Rall.
„Richtig. Die Inhaber der Betriebe würden natürlich gerne so nahe wie möglich bei ihren Kunden produzieren. Aber die moderne Industrie erzeugt viel Dreck und Lärm. Deshalb hat die Regierung gezielt mehrere große Gebiete am Stadtrand für die Errichtung von Manufakturen freigegeben. Gebiete, die selbstverständlich über gute, breite Straßen erreichbar sind. Die produzierten Waren sollen schnell im ganzen Land verfügbar sein.“
„Und die Rohstoffe sollen schnell und billig zu den Manufakturen gebracht werden können“, fügte Zzorg hinzu.
„Richtig. Ich sehe, Sie verstehen etwas von moderner Ökonomie, Botschafter Zzorg. Massengüter werden auf dem Fluss transportiert. Manufakturen, die entsprechende Rohstoffe benötigen, hat man entlang der Ufer errichtet.“
„Um welche Rohstoffe handelt es sich dabei?“, wollte Rall wissen.
„In erster Linie natürlich Kohle und Eisenerz. Dann Baumaterial, denn die Stadt wächst immer weiter und der Bedarf an Steinen und Holz ist enorm. Und als dritte Kategorie kommen inzwischen Nahrungsmittel dazu. Um die Bevölkerung der Hauptstadt zu ernähren, müssen jeden Tag Unmengen an Getreide, Gemüse, Obst und Schlachtvieh aus den ländlichen Regionen herbeigeschafft werden.“
Die Kutsche rollte über eine gepflasterte Straße, auf der reger Verkehr herrschte. Rall sah aber fast ausschließlich Lastkarren, die unterwegs waren. Die meisten wurden von Eseln gezogen.
Ohne selbst aus dem Fenster zu sehen, erläuterte Meredeem, was Rall sah: „Es geht noch ziemlich rückständig zu, nicht wahr? Eselskarren, ab und zu ein Pferdefuhrwerk, das ist nicht effektiv. Aber wir arbeiten an einem System, mit dessen Hilfe wir große Mengen von Gütern schnell und preiswert bewegen können. Wir werden morgen eine Versuchsanlage besichtigen, in der man solche Maschinen baut.“
„Maschinen?“, fragte Zzorg. „Sie meinen mit Zahnrädern ausgestattete Apparaturen ähnlich wie Uhrwerke?“ Uhren gehörten zu den wenigen mechanischen Geräten, die man auf dem Nebelkontinent und in der Freien Republik kannte. Allerdings hatten Rall und Zzorg während ihrer Abenteuer mit Macay Gelegenheit gehabt, ganz andere Wunder der Technik zu bestaunen. Aber das durften sie nicht erwähnen.
„Große Maschinen“, antwortete Meredeem. Er erlaubte sich ein abschätziges Lächeln, als er fortfuhr: „Ich weiß, Sie können sich keine Vorstellung davon machen. Lassen Sie sich überraschen. Wir erreichen jetzt eine Eisengießerei.“
Die Kutsche rollte auf den Hof eines Gebäudekomplexes von riesigen Ausmaßen. Aus hohen Schornsteinen, die an ihrer Basis so viel Platz wie ein normales Wohnhaus beanspruchten, quoll schwarzer Rauch.
Vor einem Verwaltungsgebäude stiegen Rall, Zzorg und Meredeem aus. Man stellte sie dem Direktor der Fabrik vor, einem dicken älteren Mann, der sichtlich nervös war. Rall schrieb das der Tatsache zu, dass der Mann sie trotz ihrer Kapuzen als Tiermenschen erkannte. Obwohl man ihn sicherlich vorgewarnt hatte.
Der Direktor bat die Besucher in sein Büro. Dort erzählte er in ziemlich unzusammenhängenden Worten, wie man in seiner Manufaktur aus Kohle und Eisenerz in einem komplizierten Verfahren Eisen herstellte. Nach einer halben Stunde erlöste er seine Zuhörer. „Ich stelle Ihnen nun unseren leitenden Ingenieur vor, Haran Deregu. Er wird Sie durch die Produktion führen.“
Haran Deregu kam herein. Er schien von dem merkwürdigen Äußeren seiner Besucher nicht beeindruckt zu sein. Statt einer Begrüßung sagte er in ziemlich verärgerten Ton: „Dort drinnen herrscht große Hitze. Falls Sie das nicht vertragen, sagen Sie es gleich.“
Rall und Zzorg sahen sich erstaunt an. „Wir haben damit keine Probleme“, sagte Rall.
„Aber ich“, meldete sich Meredeem. „Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich hier auf Sie warte?“
„Nein, Ihre Gesundheit möchten wir keinesfalls beeinträchtigen“, versicherte Rall.
„So etwas dachte ich mir schon“, sagte Haran Deregu. „Folgen Sie mir.“ Er war ein drahtiger, großer Mann mit dunkler Haut, der vor Energie zu strotzen schien - oder vor unterdrückter Wut.
Haran Deregu marschierte voraus. Als gewöhnliches Gehen konnte man seine Art der Fortbewegung nicht bezeichnen. Er schritt sehr exakt aus, immer im gleichen Rhythmus mit sehr langen Schritten, als könne er gar nicht schnell genug zu seinem Ziel gelangen.
Rall und Zzorg folgten ihm. Auch ohne darum gebeten zu werden, zogen sie ihre Kapuzen tiefer über die Gesichter, um den Arbeitern keinen Schrecken einzujagen.
Zunächst zeigte ihnen Haran Deregu die Produkte, die man in der Fabrik herstellte. Es waren lange Eisenträger, deren Gewicht nur durch Kräne und Seilwinden bewältigt werden konnte. Wozu diese Eisenträger dienten, wollte der Ingenieur allerdings nicht verraten. Dann zeigte er die Rohstoffe, nämlich Eisenerz und Kohle, die in Halden am hinteren Rand des Firmengeländes auf die Weiterverarbeitung warteten.
„Und jetzt sehen wir uns an, wie man aus diesem Dreck wertvolles Eisen gewinnt“, verkündete er.
Sie betraten eine riesige Halle, in der ein ungeheurer Lärm herrschte. Während Haran Deregu davon nicht beeindruckt schien, litten Rall und Zzorg geradezu körperliche Schmerzen. Ihr Gehör war empfindlicher als das normaler Menschen. Die Hitze in der Halle war enorm, weshalb viele der Arbeiter mit nacktem Oberkörper arbeiteten. Der Schweiß floss nur so an ihnen herunter, während sie gigantische Hochöfen mit Erz befüllten und mit Kohle versorgten. Andere Arbeiter kümmerten sich um das glühende Eisen, das unten aus den Öfen herauskam.
Haran Deregu erklärte ausführlich, was Rall und Zzorg gerade sahen. Aber wegen des Lärms verstanden beide kaum ein Wort.
Schließlich führte sie Haran Deregu heraus aus dem Gebäude. Das riesige Flügeltor schloss sich hinter ihnen. Rall war unendlich erleichtert über die Stille, die sie nun umfing. Es dauerte eine Weile, bis er bemerkte, dass es so still gar nicht war. Die Taubheit seiner Ohren ließ nur langsam wieder nach. Immerhin konnte er nun die Erklärungen des Ingenieurs verstehen. „Hier wird mit Hilfe von Hämmern überprüft, ob das Eisen in Ordnung ist. Was gut ist, wird weiterverarbeitet, was schlecht ist, wird wieder eingeschmolzen.“
„Wie groß ist diese Ausschussquote?“, fragte Zzorg.
„Derzeit leider noch rund ein Drittel, aber wir verbessern uns von Monat zu Monat. Wir lernen ständig dazu und man gibt uns Hinweise, wie wir es besser machen können.“
„Aha, es gibt also jemanden, der dieses Verfahren perfekt beherrscht.“ Eigentlich hatte Zzorg das nur so hingesagt. Doch er schien ein Thema getroffen zu haben, das dem Ingenieur nicht behagte.
„Ja, äh, so kann man es sagen“, stotterte Haran Deregu.
„Wer ist denn dieser Ratgeber?“, hakte Rall nach. „Eine Konkurrenzfirma wird es ja wohl nicht sein.“
„Die, äh, Regierung, sozusagen.“ Haran Deregu deutete nach rechts. „Dort kommen wir zu den Pausenräumen für die Arbeiter und zu unserer Großküche. Wir sind ein modernes Unternehmen. Die Gesundheit und die gute Ernährung der Arbeiter ist uns wichtig. Schon weil es zeitaufwendig ist, neue auszubilden, wenn jemand krank wird oder stirbt.“
Sie bogen um eine Halde angerosteter Eisenstücke herum, die offenbar aus völlig misslungenen Gussversuchen stammten. Vor ihnen lag ein länglicher Bau. Als sie auf die Eingangstür zugingen, stellten sich plötzlich Ralls Nackenhaare hoch. Abrupt blieb er stehen. Sein Instinkt warnte ihn vor einer Gefahr. Aber vor welcher?
Da sah er sie. Aus der Deckung eines Pferdefuhrwerks kam eine Dreiergruppe vermummter Männer mit Knüppeln in den Händen auf sie zu. Rall fuhr herum. Auch von hinten näherten sich zwei Angreifer.
Ohne auf Haran Deregu zu achten, warf Rall seinen Umhang ab und machte sich zur Verteidigung bereit. Zzorg an seiner Seite tat es ihm nach. Sie waren ein kampferfahrenes Team und stellten sich Rücken an Rücken zueinander auf.
Die Angreifer sahen es und zögerten einen Moment. Sicherlich trugen auch das gebleckte Gebiss des Katzers und Zzorgs halb geöffnetes Reptilienmaul mit dazu bei. Doch sie sahen auch, dass die beiden seltsamen Gestalten unbewaffnet waren. Das machte ihnen wieder Mut und sie rückten weiter vor.
Haran Deregu war sehr blass. Er starrte die Männer mit den Knüppeln an und keuchte, als würde ihm jemand die Luft abwürgen. Dann rief er gepresst: „Ich habe nichts damit zu tun, verstanden? Ich weiß von nichts und ich bin für nichts verantwortlich!“
„Halt dein blödes Maul!“, blaffte ihn einer der Angreifer an.
Haran Deregu bewegte sich mit kleinen Schritten seitlich von Rall und Zzorg weg. Aber er kam nicht weit.
Einer der beiden Männer, die von hinten kamen, hieb ihm die Keule auf den Kopf. Haran Deregu brach zusammen und blieb leblos liegen.
Rall schnellte sich mit gespreizten Krallen und laut fauchend dem zweiten Mann entgegen. Ohne sich umzusehen, wusste Rall, dass Zzorg im selben Moment reagierte. Der Echser würde mit Hilfe seiner magischen Kräfte einen Feuerball gegen die anderen drei Angreifer schleudern.
Zu Ralls Überraschung wich der Mann, den er angreifen wollte, zurück, ließ den Knüppel fallen und hob die Hände. Trotzdem rammte er ihn und warf ihn um. Sicher ist sicher, dachte sich Rall. Er wandte sich nun um und sah gerade noch, wie Zzorgs Feuerball auf die drei andern Männer zuflog.
„Verdammt, hört auf!“, schrie einer von ihnen. Dann hechtete er beiseite, um dem Feuerball zu entgehen. Der Ball explodierte zwischen den Männern und versengte alle drei. Sie wälzten sich auf dem Boden, um die Flammen zu ersticken.
„Warte!“, rief Rall Zzorg zu. Der Echser war schon dabei, den nächsten Feuerball in seinen schalenförmig vor sich gehaltenen Händen zu erzeugen.
Die drei angesengten Männer standen wieder auf, hielten aber Abstand zu Rall und Zzorg. Die beiden, die von hinten gekommen waren, gingen in weitem Bogen um die Tiermenschen herum, bis alle fünf Angreifer in einer Gruppe beisammenstanden. Sie beäugten Rall und Zzorg misstrauisch, während sie sich tuschelnd miteinander unterhielten.
Dann sagte einer von ihnen: „Hört zu, das war ein Missverständnis. Wir wollten euch nicht angreifen. Wir möchten nur, dass ihr mit uns mitkommt.“
„Warum seid ihr mit Knüppeln auf uns losgegangen?“, fragte Rall.
Der Mann grinste. „Damit niemand auf die Idee kommt, ihr würdet mit Leuten wie uns gemeinsame Sache machen. Das wäre schlecht für euch. Selbst euer Diplomatenstatus könnte euch dann nicht mehr schützen.“
„Mit Leuten wie euch gemeinsame Sache machen?“, echote Rall. „Was für Leute seid ihr denn?“
„Jedenfalls keine von der Regierung“, sagte der Mann. „Wir sollten jetzt verschwinden. Lange lässt man uns hier nicht mehr alleine.“
„Was ist mit ihm?“, fragte Rall und zeigte auf den bewusstlosen Haran Deregu.
„Pah, den haben wir gekauft. Ein geldgieriger kleiner Angeber, sonst nichts. Macht sich vor Angst fast in die Hosen, aber für ein paar Geldstücke ist er bereit, jeden Verrat zu begehen. Vergesst ihn und kommt mit.“
Rall hätte gezögert, doch die Männer überraschten ihn dadurch, dass sie ihm und Zzorg einfach die Rücken zudrehten und davonrannten. Sie verhielten sich gerade so, als unterstellten sie den beiden Tiermenschen die feste Absicht, ihnen zu folgen.
Rall und Zzorg sahen sich an, dann rannten sie hinter den Männern her. Ihr Ziel war ein Kanal auf dem Werksgelände. Das Wasser war völlig verschmutzt, die Oberfläche schimmerte in allen Farben des Regenbogens. Ein paar Hundert Schritte weiter verschwand das Wasser in einem riesigen Rohr. Direkt vor dem Rohr lag ein großes Ruderboot vertäut.
Die fünf Männer stiegen ein. Vier griffen nach den Rudern, einer übernahm den Platz des Steuermanns und winkte Rall und Zzorg zu sich.
Rall sprang elegant in das Boot hinein und suchte sich einen Platz, von dem aus er den Steuermann im Auge behalten konnte. Als Zzorg einstieg, schwankte das Boot bedenklich. Der Echsenmann wog so viel wie zwei normalgroße Menschen. Zzorg setzte sich so, dass er die vier Ruderer vor sich hatte.
Der Steuermann gab ein Kommando und die Männer stießen das Boot vom Kanalufer ab. Rall sah sich um. Das Boot hatte einen flachen Boden, vermutlich, weil der Kanal nicht tief war. Angelruten, Käscher und andere Gegenstände lagen herum. Alles sah normal und nicht bedrohlich aus. Verdächtiger war schon der Holzkasten, den der Steuermann als Sitzplatz nutzte. Der war groß genug, um Waffen zu enthalten.
Während das Ruderboot in das Rohr hineinfuhr, wurde es immer dunkler. Rall wusste jedoch, dass er dank der genetischen Überlegenheit seiner Rasse wesentlich besser sehen konnte, als die Menschen. Die Dunkelheit war also kein Nachteil, sondern ein Vorteil für ihn und Zzorg.
Das Rohr war sehr lang. Die Männer ruderten langsam und schweigend. Deshalb stellte Rall im Moment auch nicht die Fragen, die ihm auf der Zunge lagen.
Zzorg gab einen leisen Zischlaut von sich. Er hatte einen kaum wahrnehmbaren Lichtschimmer in Fahrtrichtung entdeckt. Bald würden sie das Ende des Rohres erreichen. Nun galt es für die beiden Tiermenschen, besonders aufmerksam sein. Es konnte sich immer noch um einen Hinterhalt handeln, in den die Männer sie führten. Mit größter Wachsamkeit achteten sie auf die Bewegungen der Ruderer und des Steuermannes.
„Macht euch bereit für einen Spurt“, sagte der Steuermann zu den Ruderern. Seine Stimme hallte durch das Rohr. Zu den beiden Passagieren gewandt ergänzte er: „Wir kommen jetzt in den Fluss, der durch Aragotth fließt. Wir müssen ihn überqueren, um am anderen Ufer anzulanden. Sollten Schiffe unterwegs sein, könnte es auffallen, wenn wir aus einem der Abwasserrohre kommen. Deshalb müssen wir so schnell wie möglich Abstand zur Rohröffnung gewinnen. Dann tun wir so, als wären wir Angler. Zieht eure Kapuzen tiefer und nehmt eine Angel oder einen Käscher in die Hand.“
Rall und Zzorg folgten seiner Aufforderung.
Als das Boot durch das Ende des Rohres glitt, strengten sich die Ruderer mächtig an. Binnen weniger Sekunden erreichten sie eine Stelle nahe der Uferböschung, an der die überhängenden Äste von Bäumen Sichtschutz boten.
Der Steuermann sah sich um. Hinter ihnen kam ein Lastkahn den Fluss herab, der sich mit der Strömung treiben ließ. An Bord achtete niemand auf sie. Sonst war kein Schiff in der Nähe und an den Ufern waren keine Menschen zu sehen.
„Sieht so aus, als hätten wir Glück gehabt.“
Zwei der Männer nahmen Angeln in die Hand und hielten sie ins Wasser. Die anderen beiden Männer ruderten nun gemütlicher. Der Steuermann wartete, bis der Lastkahn vorüber war, dann lenkte er das Boot zur Strommitte und schließlich dem gegenüberliegenden Ufer zu. Da die Strömung sie flussabwärts trieb, erreichten sie das andere Ufer erst, als das riesige Abwasserrohr schon außer Sicht war.
Zzorg zeigte ins Wasser: „Esst ihr tatsächlich Fische, die aus diesem verschmutzten Fluss stammen?“
„Wir nicht“, antwortete der Steuermann. „Aber es gibt genügend Menschen, denen nichts anderes übrigbleibt. All jene, die zu alt oder zu krank sind, um ihr Geld in einer der Manufakturen zu verdienen. Die sind dankbar, wenn sie Fisch auf den Tisch bekommen. Wie der dann schmeckt, ist ihnen ziemlich egal. Der Hunger lässt einen nicht wählerisch sein.“
Sie landeten an einem Bootssteg, an dem mehrere ähnliche Boote vertäut lagen. Der Steuermann öffnete den Holzkasten, auf dem er gesessen hatte. Er nahm einen Korb mit ein paar Fischen heraus.
„Wir hatten Glück heute, das ist ein guter Fang“, sagte er grinsend. „Falls uns unterwegs jemand fragt: Die Fische beißen ausgesprochen gut. Wahrscheinlich kommt Regenwetter.“
Sie gingen über den Steg, kamen an einem Bootshaus vorbei, das halbverfallen und leer war, und gelangten dann an eine Landstraße. Dort stand ein Eselskarren. Zwei der Männer verabschiedeten sich, setzten sich auf den Karren und fuhren davon. Den Korb voller Fische nahmen sie mit.
„Sie werden in der nächsten Kneipe angeben mit ihrem Fang. So kommen die Anwohner gar nicht auf den Gedanken, hinter unserer Bootsfahrt etwas Anderes zu vermuten als einen Angelausflug“, erklärte der Steuermann. „Ich danke euch, dass ihr mitgekommen seid, ohne dass wir euch niederknüppeln mussten. Was uns wahrscheinlich nicht gelungen wäre.“ Er sah an sich herunter auf sein angesengtes Hemd. „Gleich wird ein Freund von uns eintreffen und euch mitnehmen. Er wird euch Dinge zeigen, die ihr nie erwartet hättet, das kann ich versprechen.“
„Und wenn wir die gesehen haben?“
„Könnt ihr gehen, wohin ihr wollt. Man wird euch vorschlagen, so zu tun, als sei es euch gelungen, euren geldgierigen Entführern zu entfliehen. Denn in Kürze wird die Regierung eine anonyme Mitteilung erhalten, dass man euch entführt hat und Lösegeld fordert. Das geschieht immer mal wieder in Aragotth. Ah, da kommt der Wagen.“
Ein seltsames Gefährt näherte sich. Es war eine schmale, geschlossene Kutsche, die von nur einem Pferd gezogen wurde. Die Kutsche war mit einer Lackierung von silbrigem Grau überzogen, und zwar überall. Selbst die Türgriffe und die Speichen der Räder wiesen diesen Farbton auf. Die Fenster waren matt grau verspiegelt, so dass man nicht in die Kutsche hineinsehen konnte. Auf dem Bock saß ein Kutscher, der ebenfalls ganz in hellem Grau gekleidet war, von der Kopfbedeckung über den Mantel bis zu den Handschuhen.
„Was ist denn das?“, fragte Zzorg verblüfft.
„Das ist die Dienstkutsche eines staatlichen Kontrolleurs. Mit so einer Kutsche kommt man überall hin. Ihr Insasse verfügt über Papiere, die es ihm erlauben, jede Fabrik und jede Behörde in der Karolischen Republik zu überprüfen. Er ist nur den obersten Rängen unserer Regierung gegenüber verantwortlich.“
„Eine hohe Persönlichkeit also“, folgerte Rall. „Aber Vertreter der Regierung hätten wir auch ohne diese fingierte Entführung jederzeit treffen können.“
Der Steuermann grinste. „In dem Wagen sitzt kein Kontrolleur, sondern einer unserer Leute. Auch der Kutscher gehört zu uns. Wir haben den Wagen sozusagen vorübergehend von der Regierung geliehen, um euch einiges zu zeigen.“
„Und wo sind der wahre Besitzer dieses Fahrzeugs und sein Kutscher?“, fragte Zzorg.
Der Steuermann machte eine wegwerfende Handbewegung. „Die haben keine Sorgen mehr, also solltet ihr euch auch keine Sorgen über sie machen. Ich darf euch euren Begleiter für den Rest des Tages vorstellen: Harlan Geraan.“
Die Tür der Kutsche öffnete sich und heraus stieg - Meredeem!