Читать книгу Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur - Manuel Caballero González - Страница 17
III.1 Medea
ОглавлениеIn der berühmten Tragödie Medea (1283–1289) deutet Euripides Inos SprungSprung von den Klippe an. Diese Version unterscheidet sich grundlegend von der, welche von der Mehrheit der Quellen über dieses Ereignis präsentiert werden. Wilamowitz merkt an, was der Grund dieser Darstellung sein könnte: „Euripides Med. 1284; dabei springt sie mit beiden Kindern in das MeerMeer, wohl nur, weil Medea zwei Kinder morden wird“1. Euripides bringt Ino ins Spiel, weil er sie als Muster seiner Medea verwendet: KadmosKadmos’ Tochter tötet ebenso ihre Nachkommen, wie Ino einst ihre zwei Kinder umgebracht hat; dieses Thema aber wird etwas später analysiert. Wilamowitz’ Begründung klingt m.E. sehr vernünftig.
Der Kontext ist folgender: Der Chor der Frauen aus KorinthKorinth fleht Erde und Sonne an, dass Medea ihre verbrecherische Absicht nicht durchführe; das Schreien der Kinder verrät das tragische Geschehen; nun suchen die Frauen einen Präzendenzfall für eine solche Missetat. Wie Newton beteuert, „tragic choruses frequently allude to exempla when acts of violence occur, or are about to occur, in a play“2. Das Ziel dieser exempla ist, den dramatischen Ton der Szene zu mildern und den Zuhörern eine Verbindung zwischen der Gegenwart und dem, was früher einmal zwischen Menschen geschehen ist, zu ziehen. Mit einem Wort: Man versucht das Grauen des Erlebnisses abzuschwächen, indem die vorherigen exempla angerufen werden3. Der Text wird auf den folgenden Seiten analysiert, aber nur unter dem Gesichtspunkt, der zum Verständnis des Mythos von Athamas beiträgt.
Ino tritt in einem definitiv früheren Zeitraum als Medea auf, nämlich in einer ‚mythischen‘ Epoche4. Es ist der einzige Fall – zweimal wird μίαν emphatisch wiederholt –, den der Chor erwähnt, wenn er eine Figur andeuten will, die jemals ein solches Verbrechen gewagt hat. Diese einzige Erwähnung von Ino als unum exemplum ruft aber zweifachen Widerspruch hervor. Zunächst muss man Euripides erwidern, dass es mehrere Beispiele gibt, mit denen man Medeas Gräueltat hätte vergleichen können, wie z.B. Althaiea, Agave oder Prokne selbst, die vielleicht die Geeignetste5 für diesen Fall gewesen wäre. Man könnte dagegenhalten, dass keine dieser drei Frauen zwei Kinder getötet hat; darauf lässt sich aber antworten, dass sich der Kern des Beispiels nur auf die gottlose Tat einer mörderischen Mutter beschränken wollte. Auffällig ist auch, dass Euripides nur auf eine Frau hinweist, während die Autoren sonst zwei oder drei mythologische Figuren anzuführen pflegen, wenn sie ein exemplum setzen wollen. Newton sagt, „the suggestion therefore presents itself that the poet is suppressing other examples“6.
Wenig überzeugend sind m.E. die Gründe, die Newton als Argumente ins Feld führt, um die exklusive Erwähnung von Ino zu rechtfertigen. Es ist wenig glaubwürdig, dass Ino nach ihrem bekannten Sprung ins Meer, in Anspielung auf ihre DivinisierungDivnisierung, als dea-ex-machina vorausgeschickt wurde, um Medea im Sonnenwagen zu parodieren. Auf keinen Fall ist der KultKult der Kinder beider Heldinnen zu vergleichen, denn nur MelikertesMelikertes wird als Gott geehrt, die zwei Kinder von Medea aber in Heras Tempel in Akrea. Es ist meiner Meinung nach zweifelhaft, ob Medea ihre Kinder umbringt, um sie vor den Feinden zu beschützen; Medeas letzter Grund besteht in der Rache an JasonJason, ein Motiv, das im Fall von Ino nie erscheint, wenigstens nicht in allen uns bekannten Überlieferungen7. Ein anderer Unterschied liegt darin, dass Ino stirbt, indem sie tötet, Medea aber nicht ums Leben kommt, sondern feige der Begegnung mit Jason flieht.
Der Anlass für Inos Erwähnung durch Euripides befindet sich am Ende des exempli (Vers 1289): δυοῖν τε παίδοιν ξυνθανοῦσ’ ἀπόλλυται. Jouan / Van Looy8 glauben, „le parallélisme parfait9 avec le double infanticide de Médée“ sei eine von Euripides für diesen Fall erfundene Begründung. Im Gegensatz zu dieser Behauptung erklärt jedoch Page: „Eur.’s innovation here is so slight, and our ignorance so great, that no theory of interpolation here can be seriously entertained for a moment“10.
Mit den Worten μανεῖσαν ἐκ θεῶν wird zum ersten Mal auf Inos verwirrten Zustand hingewiesen. Diese erste allgemeine Bezeichnung11 wird sofort erklärt: HeraHera hat ihr den WahnsinnWahnsinn geschickt. Euripides benutzt ‚physische‘ Metaphern, um den Zustand des Irrsinns indirekt anzuführen: Das Haus kann ihr Herz darstellen, wo ihr Verständnis beherbergt wird12, sie selbst die Vernunft, die umherschweifenden Wege, die krummen Spuren, die nicht den üblichen Gedankengängen entsprechen. So versteht es auch Page: „ἄλῃ: metaph.‘distraction’,‘wandering of mind’, L. & S.9“13, und vor allem Padel, wenn sie über das Herumirren spricht: „Inside is sane. Being «out» of home and all it stands for (mind, right place) is mad. Mad is outside, other, foreign“14. Zweifellos wird ein physisches Herumirren15 nicht ausgeschlossen: Euripides kann sich auf beide Begriffe beziehen. Dieser Text konnte Nonnos (D. IX 242–279Nonnos von PanopolisD. IX 242–279) seine wunderschöne Beschreibung eingeben, wie Ino auf der Suche nach DionysosDionysos als eine Wahnsinnige durch die Berge irrt und den Parnass erreicht, wo ApollonApollon sie in einen erholsamen Schlaf wiegt.
In der Tat ist dieser Zug von WahnsinnWahnsinn derjenige, den Prof. Hose als Hauptunterschied zwischen dem exemplum (Inos Mord) und der damit verglichenen Wirklichkeit (Medeas Mord) sieht: Medea tötet ihre Kinder nicht in einem Anfall von Wahnsinn, wie Ino es machte16: „Das ParadigmaParadigma greift also nicht, sondern dient statt als Parallele – und damit als Relativierung – des Kindermordes als Kontrast. Die Unerhörtheit und das Entsetzliche der Mordtat tritt damit noch stärker hervor“17. Dieser Unterschied zwischen Medea und Ino wird auch von McHardy betont: „Here, however, an important distinction is apparent. Whereas Ino is described as driven mad by the gods … Euripides’ Medea is sane and knows what she is doing“18. Das heißt, dass die Verschiedenheit beider Heldinnen im WahnsinnWahnsinn und der Leidenschaft besteht, die Übereinstimmung aber im Mord an ihren beiden Kindern19.
McHardy sieht eine andere Verbindung zwischen Kindesmord und Wahnsinn; er schlägt deshalb vor, „that through the influence of ideas relating to Dionysiac cult (especially maenadism) the portrayal of mothers killing their own children was deemed particularly suitable for tragic performances“20; viele Versionen von Kindern, die von ihren Müttern absichtlich getötet wurden, gehören tatsächlich in diesen Zeitraum, weil die vorherigen Traditionen entweder den Mord aus der Hand der Mutter nicht erwähnen oder auf eine unabsichtliche Tötung durch die Mutter hinweisen. Ino stirbt, indem sie nicht nur den trübsinnigen Melikertes, sondern auch ihre beiden von Athamas empfangenen Kinder umbringt. Dieses Verbrechen wird von Euripides als δυσσεβής betrachtet.
Interessant ist auch die Frage, warum dieser Tragiker auf die I-L-M-Version des Mythos von Athamas hindeutet. Gantz glaubt – genau wie Wilamowitz –, dass Euripides’ Version in seiner Medea leicht die Tradition des Mythos von Athamas „for the sake of a better parallel with Medea“21 ändert. Euripides aber ‚betrügt‘ feinsinnig. Medea ist auf die neue Frau von Jason und auf die zukünftige Nachkommenschaft sehr einfersüchtig, aber dieser Fall entspricht der I-L-M-Version überhaupt nicht, sondern berührt nur tangential die I-P-H-Version. Medea tötet ja ihre Kinder, aber sie bestraft auch die neue Frau von JasonJason; Ino bestraft jedoch niemanden in der I-L-M-Version: Auf jeden Fall wird sie mit dem Wahnsinn bestraft. Euripides wechselt von einer Figur (Medea), die mit der neuen Frau ihres Mannes Probleme hat, zu einer Figur (Ino), die irrsinnig wird und ihre Kinder in diesem Zustand tötet. Die Ähnlichkeit zwischen Medea und Ino ist tatsächlich minimal. Wenn Hyg. Fab. IVHyginusFab. IV die Handlung Euripides’ Ino spiegelt – wie es m.E. zutrifft – und diese Tragödie älter ist als seine Medea, konnte das Publikum den Vergleich von Med.EuripidesMed. 1282–1289 1282–1289 überhaupt nicht verstehen. Medeas Kindermord – und dasselbe kann man von Inos Kindermord sagen – wurde Halm-Tisserant22 zufolge in Euripides’ Medea verdammt.
In diesen Versen gibt es keine textlichen Probleme, es tauchen aber Schwierigkeiten bei der Interpretation auf. Zum Beispiel: Wie sollte φόνωι … δυσσεβεῖ verstanden werden? Page zufolge ist es „causal dative,‘because of the murder’“23 und er schlägt folgende Belege als Muster vor: Io. 940; Hel. 79; Ba. 1120; Supp. 1042, ElEuripidesIo. 940EuripidesHel. 79EuripidesBa. 1120EuripidesSupp. 1042EuripidesEl. 149. 149, usw. Dieser Meinung ist auch Farnell: „According to Euripides, the mother slew both her children, but the manner of their slaying he does not specify“24. Diese Deutungen aber weisen darauf hin, dass Ino sich ins Meer stürzt, nachdem sie ihre Kinder getötet hat; sie springt also aus Verzweiflung, um ihren Schmerz zu lindern. Valgiglio stimmt auch dieser Sichtweise zu, die Inos Tod als eine Befreiung von einem unerträglichen Übel sieht: „Fra i mali che fanno desiderare la morte c’è la sventura che consiste nella perdita di una persona cara, colla quale si vorrebbe συνθανεῖν incontrando un ἥδιστος θάνατος (Suppl. 1006) che ci libera dal dolore di una sciagura insopportabile, conservando ininterrotto il vincolo che ci lega allo scomparso“25. Nach diesem Gelehrten hat sich Ino mit den Leichen ihrer beiden Kinder ins Meer gestürzt. Diese Idee findet sich auch bei einem antiken Autor: bei Nymphodoros.
Aélion denkt jedoch ganz anders und bezieht sich auf die Worte des Chors: „Une autre femme dans le passé, dit-on, Ino, a tué ses enfants, se jetant avec eux dans la mer, par-delà la falaise marine“26. Diese Wissenschaftlerin interpretiert die Begriffe κλύω und πάρος als ein über den Tod der Kinder Inos entstandenes Gerücht, das den erschütternden Hilferuf der Kinder von Medea übertönt und im Hintergrund lässt. McHardy behauptet aber, „Ino is said to have killed her two children (in an unspecified way) and to have committed suicide by throwing herself into the sea after being driven mad by HeraHera“27. Dieser Kasus φόνωι … δυσσεβεῖ ist auch als ein gleichzeitiger Dativ zu verstehen: Beide Ereignisse geschehen zeitgleich. Der Ausdruck kann m.W. ‚mit dem gottlosen Mord’ treffend übersetzt werden, wobei er die Zweideutigkeit zulässt, die Euripides wahrscheinlich auch beabsichtigte.
Zwei spätere Textestellen können nun hilfreich sein, um MedEuripidesMed. 1282–1289. 1282–1289 besser zu verstehen. In FGrHist. 572 F. 18 von NymphodorosNymphodorosFGrHist. 572 F 1828 – einem von Natale Conti (VIII 4)Natale ContiNatale Conti VIII 4 überlieferter Text – wird Athamas freigesprochen und Ino des Mordes ihrer Kinder beschuldigt. Wahrscheinlich gab es eine Überlieferung – man kann aber nicht ausschließen, dass Euripides es erfunden hat –, in der Ino ihre Kinder umbringt. Newton29 bemerkt, das Schol. in E. Med. 1284 SchwartzScholia zu EuripidesSchol. in E. Med. 1284 Schwartz stellt den Ausdruck ‚einige‘ dem Namen ‚Euripides‘ gegenüber. Er sagt, dass die Möglichkeit, Euripides habe diese Tradition erfunden, zur Wahrscheinlichkeit wird, wenn der Kontext der Andeutung, nämlich die ganze Tragödie, ausführlich analysiert wird: „Euripides is the first to present Medea as the deliberate murderess of her sons“30. Es ist möglich31, obwohl man m.E. auf viele Schwierigkeiten stößt. Falsch ist aber meiner Meinung nach, dass Euripides Inos Fall als „an event which never occurred“32 vorschlägt, denn nur so wird Medeas Grausamkeit deutlich. In der TragödieTragödie wäre diese Verwendung eines exempli ein Sonderfall33.
Es ist auch möglich, dass Euripides diese Version nicht erfunden hat, sondern dass sie nur eine parallele Version mit gerigem Bekanntheitsgrad war und auch nach diesem Tragiker weithin unbekannt blieb. Page meint dazu, diese Version „must have been current before Eur.’s allusion to it here: the poet cannot have introduced even so slight an innovation in a passing reference intended as a parallel“34. Sogar Newton weist auf diese Idee hin, obwohl er sie vorsichtiger darstellt: „It is possible, of course, that they are referring to a version which, though now lost to us, the ancient audience would have recognized“35.
In der Tat wird in Medeae Argumentum Schwartz36 gesagt, dass Euripides nur eine Bearbeitung eines früheren Werkes von Neophron37AthenNeophronMedea:Frg. 3 war; Del Rincón Sánchez zufolge „ambos argumentos debieron ser muy similares, pero Eurípides introdujo un desenlace diferente, que pudo motivar que la tragedia, paradójicamente, fracasara ante Euforión“38. In dem auf Neophrons Medea zurückgeführten Frg. 2, 11–12NeophronMedea:Frg. 2, 11–12 sollte Medea nach Snell wahnsinnig geworden sein. Sie wäre nicht die einzige: Senecas Medea39 hat auch den Verstand verloren, denn sie wird in dieser Tragödie als rasende Mänade dargestellt (Verse 123–124, 382–386SenecaMed. V 382–386SenecaMed. V 806–807SenecaMed. V 849–852SenecaMed. V 123–124, 806–807, 849–852). Diese Grausamkeit von Ino verknüpft sich mit ihrer Erbamunglosigkeit in der I-P-H-Version. Es ist auch möglich, dass Euripides und Nymphodoros dieser ersten Tradition über Athamas’ Frau in ihren Werken folgten: Ino tötet zunächst ihre zwei Kinder und wirft sich danach in einer Verzweiflungstat ins Meer. Das gilt m.E. nicht für Euripides’ Ino in seiner Medea, wenn auch diese Idee sicher nicht ausgeschlossen werden kann.
In der zweiten Textstelle (Plu. Mor.PlutarchMor. 267d-e 267d-e) wird gesagt, dass Ino, eifersüchtig auf die SklavinSklavin ihres Mannes, ihren ZornZorn gegen den Sohn richtet. Der Kontext dieser Passage will eine Antwort auf Leukotheas KultKult geben. Das Problem ist hier die Deutung von τὸν υἱὸν: Ist er Inos Sohn, nämlich LearchosLearchos bzw. Melikertes, oder ist er Athamas’ Sohn – das ist das Wahrscheinlichste –, und zwar Phrixos? Wenn man die erste Möglichkeit annimmt, ist Plutarchs Textstelle mutatis mutandis nach Euripides’ Medea zu verstehen, denn sie tötet auch Jasons Kinder, damit ihr untreuer Mann große Schmerzen leidet. Deshalb kann man sagen, dass diese Version des Mythos von Athamas, in der Ino ihre beiden Kinder umbringt, von Eifersucht geprägt war. Darüber hinaus agieren Euripides’ wie auch Plutarchs Ino im Zustand des Wahnsinns. Es kann eingewendet werden, dass Medea ihre beiden Kinder tötet, Ino aber nur eins. Man könnte erwidern, dass Ino immer eine Griechin bleibt, und dass sie nie so grausam wie die barbarische Medea sein wird; genau diese Angabe wurde in der Tradition von Euripides modifiziert.
Das wichtigste Problem der Textstelle bei Euripides ist die Erwähnung des von HeraHera geschickten WahnsinnWahnsinns. Dies ist etwas Merkwürdiges, vor allem bei Euripides, der sich sehr zurückhält, wenn er die menschlichen Ereignisse auf die Götter zurückführen muss. Schwierig ist die Vorstellung, dass Hera sich einmischt, wenn Dionysos nicht in der Mitte der Geschichte steht; anderenfalls ist es aber auch nicht gerechtfertigt, dass Hera Ino den Wahnsinn schicken sollte, nur weil Athamas z.B. eine Geliebte hatte, wie Plutarch in seinem Text erzählt. Euripides bezieht sich m.E. auf eine sehr alte Variante der I-L-M-Version, in der Ino, und nicht Athamas, Heras Bestrafung bekommt – möglicherweise weil sie Dionysos erzogen hat – und ihre beiden Kinder tötet. In diesem Fall wird das negativste Bild von Ino präsentiert und Athamas’ Wahnsinn überhaupt übersehen40.