Читать книгу Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur - Manuel Caballero González - Страница 19

III.3 InoIno

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Im Katalog der TragödieTragödien von Kannicht (Kol. I 21) wird dieses Werk mit dem Eintrag Εἰνώ präsentiert. Kannicht1 bemerkt, dass die Handschriften das Wort Οἰνεῖ statt ̓Ινοῖ schreiben.

Diese Tragödie genoss immer großes Ansehen, wie Piccardi anmerkt: „Ebbe una notevole fortuna anche in età imperiale, come testimoniano le numerose citazioni che si trovano in Plutarco, e in particolar modo in Egitto, come dimostra l’alto numero di papiri rinvenuti che contenevano questo dramma: del tema si era appropriato anche il pantomimo (Luc., saltLukian von SamosataSalt. LXVIILukian von SamosataSalt. XLII. 42 e 67), probabilmente attratto dalla spettacolarità delle scene di follia“2.

Ino gehört zu der Gruppe der ‚rachsüchtigen Frauen‘, wie Klytaimnestra, Medea, usw., die nicht zögern, Lüge, Arglist, sogar Mord anzuwenden, wenn es nötig ist, um ihr Ziel zu erreichen. Euripides war von diesem Motiv fasziniert und er bearbeitete es zeitlebens öfter. Valgiglio berichtet, „il problema matrimoniale è il leitmotiv del teatro euripideo del primo gruppo delle tragedie pervenute: Alcesti, Medea, Ippolito (alle quali sono da aggiungere Stenebea, Bellerofonte, Fenice, Ino, Eolo, Peleo, Andromaca)“3. In der Tat ist Ino ja eng mit den von Athamas infolge seiner Ehen verursachten Problemen verknüpft.

Jouan / Van Looy4 zufolge ist dieses Werk sehr wichtig, denn es hat Athamas’ Mythos, vor allem, der I-T-Version, die definitive Gestalt gegeben. Valgiglio meint, dass, obwohl man nicht sicher ist, welche Version Euripides in dieser Tragödie verwendet hat, kein Zweifel darüber besteht, dass die elenden Lebensumstände der Frauen da aufgeführt wurden: „Il pianto della protagonista vi doveva apparire tanto da farne un personaggio flebilis per antonomasia (Hor. Ad PisHorazArs P. 123. 123)“5. Andererseits denkt Aélion, dass Ino früher als 425 gewesen sein muss, weil dieses Datum dem Werk Die Acharner von Aristophanes entspricht. Sogar die Metrik der erhaltenen Fragmente macht ein früheres Datum denkbar. Wenn folgende Behauptung von Aélion richtig ist, und zwar „le silence du choeur est assuré dans toutes les tragédies où il est en pleine sympathie avec les personnages dont il approuve les plans“6, ist es wahrscheinlich – die Sympathie für Ino muss sicher sein7 –, dass der Chor auch in dieser TragödieTragödie die furchtbare Aktion von Ino gegen ThemistoThemisto verschweigt.

Zwei Belege von Aristophanes lassen sich auf Euripides’ Ino zurückführen:

 1) Ar. AchAristophanesAch. 432–434. 432–434

In dieser Textstelle wird über Inos Lumpenzeug geredet. Der Kontext ist folgender: Dikaipolis besucht Euripides, damit er ihm hilft, sich angemessen anzukleiden, weil er vor der Versammlung sprechen muss. Genau wie Telephos muss Dikaipolis mit zerfetzter Kleidung den Acharnern entgegentreten. Diese Lumpen lagen zwischen denen des Thyestes und der Ino.

 2) Ar. VespAristophanesVesp. 1412–1414. 1412–1414.

Diese Textstelle präsentiert Ino, „die dem Euripides am Beine hängt“8. Der Kontext ist folgender: Der Protagonist Philokleon hat eine Bäckerin namens Myrtia beleidigt, die Philokleons Sohn, nämlich Antikleon, um seine Hilfe bat. Philokleon spottet darüber, dass das Brotweib Chairephon als Zeugen gewählt hat, denn sein weibisches Aussehen wird ihn daran hindern, als echter Zeuge auszusagen, und Philokleon wird freigesprochen. Myrtia ist eigentlich, Aristophanes zufolge, ein leichenblasses (θαψίνη) Weib, eine Ino κρεμαμένῃ πρὸς ποδῶν Εὐριπίδου (1414). Das Schol. in Ar. Vesp. 1413b KosterScholia zu AristophanesSchol. in Ar. Vesp. 1413b Koster erläutert das Wort θαψίνῃ auf eine merkwürdige Weise: vet Tr θαψίνῃ: ἵν’ ᾖ‘ὠχρᾷ’, ὡς οἱ κεχρημένοι θαψίᾳ. V εἰσήγαγε γὰρ R δὲ V Εὐριπίδης τὴν Ἰνὼ ὠχρὰν ὑπὸ τῆς κακοπαθείας· καὶ ὁ Χαιρεφῶν δὲ V τοιοῦτος. RV. In Poll. IV 140PollusPoll. IV 140 wird der Schmuck der Frauen angedeutet und der Begriff ὠχρὰ bedeutet ,Freude- oder Gesundheitsmangel‘.

In Bezug auf den Vers 1414AristophanesVesp. 1414 leugnet Robert, dass die vierte Fabel von Hygin in Zusammenhang mit diesem Werk von Euripides9 steht; er ist aber der Meinung, dass „in den übertreibenden Worten des Aristophanes VespAristophanesVesp. 1413. 1413 Ἰνοῖ κρεμαμένῃ πρὸς ποδῶν Εὐριπίδου doch ein Körnchen Wahrheit stecken muss. Danach scheint es, dass Athamas nach dem Tode von Themisto und ihrer Kinder an Ino Rache nehmen wollte; aber Dionysos wird wohl seine Pflegemutter gerettet haben, wie in einer andern von Hyg. FabHyginusFab. II . 2 berichteten Version“10.

Das Problem liegt dann in dem präzisen Sinne von κρεμαμένῃ πρὸς ποδῶν Εὐριπίδου. Abgesehen von Kannichts Skepsis, der die Meinung vertritt, „incertum est quo sensu pependerit Ino πρὸς ποδῶν Εὐριπίδου“11, haben die Gelehrten verschiedene Lösungen erwogen. Mastromarco erläutert, „l’eroina si aggrappava ai piedi di un altro personaggio, forse il marito Atamante“12. Kannicht zitiert Matthias und bietet eine andere Deutung für den Terminus ‚hängen‘: „Videtur igitur Euripides‘κρεμάμενος’ sensu translato posuisse quo Latini ‘suspensum animo’ dicunt, et hoc risisse Aristophanes“13, das heißt, dass Ino Angst hat, weil sie nicht weiß, welche Haltung Athamas ihr gegenüber einnehmen wird, und dass ihre Seele an einem seidenen Faden hängt. Diese psychologische Deutung ist m.E. im üblichen Sinne entweder von ‚knien‘ oder von ‚am Beine hängen‘ abzuleiten. Diese Geste will das Erbarmen in dieser Person hervorrufen und die Seele des Betroffenen ist im Ungewissen, bis sie barmherzige Worte des Mächtigen hört. Von dieser Geste gibt es viele andere Belege: E. HF.EuripidesHF. 520 520; Thuc. VII 75ThukydidesThuc. VII 75, 4, 4; Luc. ToxLukian von SamosataTox. LXI. 61 … In Hinblick auf das Wortspiel Εὐριπίδου pro ̓Αθάμαντος macht Mastromarco folgende Bemerkung: „‘di Euripide’ è aprosdóketon in luogo del nomen del personaggio ai cui piedi Ino si agrappava“14.

Infolgedessen kann man wegen dieser beiden Textstellen von Aristophanes nicht ausschließen, dass Ino die Bühne mit einem bleichen Aussehen – entweder wegen einer Krankheit oder als Strategie, um Athamas’ Gnade zu gewinnen – und mit Lumpen betrat.

Interessant ist nun, dass man sich, Aristophanes auslassend, auf die vierte Fabel von Hygin konzentriert; denn dieses Werk ist die unfangreichste Quelle von Informationen, aber nicht ohne Schwierigkeiten. In dieser Fabel erscheint ein bedeutsamer Titel: INO EVRIPIDIS. Dieser Titel hat zu einer bemerkenswerten Polemik geführt, und die Haltungen der Wissenschaftler dazu sind gespalten.

 1) Die Authentizität der Zuweisung von Hygin wird abgelehnt.

Es gibt einige Forscher, die diese Fabel für unecht halten und glauben, dass sie nicht für die Rekonstruktion der euripideischen Tragödie beachtet werden sollte. So denkt z.B. Nauck: „Spuriam recte iudicant C. Bursian Jahrb. f. Philol., vol. 94, p. 776 et M. Schmidt Hygini fabHyginusFab. IV. 4“15. Derselben Meinung ist auch Robert: „Über das Schicksal der Ino ist aus Hygin nichts zu entnehmen, da der Schluss der Geschichte einfach aus fab. 2HyginusFab. II wiederholt wird und mit Euripides nicht zu tun hat“16. Es scheint, dass Page sich auch für diese Ansicht entscheidet, indem er die erwähnte Passage von Euripides’ Medea erläutert: „The plot of Eur.’s Ino is unknown“17; es ist klar, dass die von Hygin überlieferte Information nicht gilt.

 2) Die Authentizität der Zuweisung von Hygin wird angenommen.

Es gibt auch diejenigen, die Hyg. Fab IVHyginusFab. IV für zuverlässig halten. So meint z.B. Wagner: „Inonis historiam ex Euripide narrat Hygin. fab. IV“18. Darüber hinaus schlägt dieser Gelehrte als Kernpunkt der Handlung das Spiel um Inos Identität ‚hüllen-enthüllen‘ vor. Kannicht behauptet, dass „hanc quoque fabulam ex argumentis Euripideis fluxisse demonstruit Luppe“19. Luppe aber beschränkt sich nur auf die Hypothesis der euripideischen Tragödie und bezieht sich nicht auf das Werk selbst; er stellt jedoch fest: „Die Vermutung, die Vorlage Hygins könnte in der „Antiopa“- und in der „Ino“-Fabula unmittelbar auf die betreffenden Euripides-Hypothesen zurückgehen, scheint sich m.E. durch Art und Ausdrucksweise dieser Hygin-Fabeln zu bestätigen“20. Auf jeden Fall war Hygins Kopie durchaus keine buchstäbliche.

D’Antò glaubt, dass es keinen Grund gibt, an Hygins Theorie zu zweifeln: „Sarebbe, com’è espressamente indicato nel titolo, l’argomento dell’Ino euripidea“21. Aélion ist auch für die Glaubwürdigkeit des lateinischen Autors: „Nous admettons donc que l’Ino d’Euripide est résumée par Hygin“22; sie räumt aber ein, dass man nicht weiß, wie die Teile verbunden waren, und dass die von Fragmenten geleistete Hilfe sehr begrenzt ist. Kakridis verknüpft ebenfalls Hygins Werk mit Euripides’ Tragödie: „Nach Hygin, der uns den Inhalt jener Tragödie gibt, …“23. Dasselbe meinen Schmid / Stählin, vor allem seit der Entdeckung des aus dem 2. oder 3. Jh. n. Chr. stammenden Papyrus: „Das Geständnis macht nach Hygins’ Bericht, der im wesentlichen offenbar das euripideische Stück richtig wiedergibt …“24. Ruiz de Elvira entscheidet sich für diese Haltung: „Algunos de sus relatos son un fiel resumen de algunas obras conservadas de la épica y dramática griegas, por lo que resulta digno de crédito para las no conservadas“25. Webster beruft sich auf Hygin, um Euripides’ TragödieTragödie zu rekonstruieren; er vertritt die Ansicht, „Horace’s flebilis Ino, contrasted with Medea ferox, suits the oppressed Ino of the story“26, wie in Hyg. Fab. IVHyginusFab. IV erzählt wird.

Dieser letztere Gelehrte27 führt eine ausführliche und detaillierte Untersuchung der Fragmente durch, um festzustellen, welche zu Hygins Text passen; er schlägt folgendes Schema vor:

Prolog: Vielleicht von Athamas.

Episode:

Athamas empfiehlt ThemistoThemisto, Ino als Dienerin aufzunehmen (Frg. 410 und 412 KannichtEuripidesIno:Frg. 410 KannichtEuripidesIno:Frg. 412 Kannicht28).

Dialog zwischen Themisto und Ino (Frg. 413; 415–420 und 409 KannichtEuripidesIno:Frg. 413 KannichtEuripidesIno:Frg. 415–420 KannichtEuripidesIno:Frg. 409 Kannicht).

Anmerkungen zu Ino (Frg. 400–403 KannichtEuripidesIno:Frg. 400–403 Kannicht).

Rede über den OpferOpfertod der Kinder von Themisto und des späteren Selbstmords von Themisto.

Reue der Ino und Flehen zu Athamas (Frg. 399 KannichtEuripidesIno:Frg. 399 Kannicht und Ar. VespAristophanesVesp. 1412–1414. 1413).

Athamas geht zur Jagd29.

Stasimon:

Zu Artemis, der Göttin der Jagd (Frg. 32 BlänsdorfLaeviusFrg. 32 Blänsdorf von Laevius30).

Rede des Boten über Athamas’ WahnsinnWahnsinn und Learchos’ Tod (Frg. 421 und 422 KannichtEuripidesIno:Frg. 421 KannichtEuripidesIno:Frg. 422 Kannicht).

Ino entscheidet sich für den Selbstmord zusammen mit ihrem Sohn Melikertes.

Deus-ex-machina (Frg. 100–101 Kannicht / SnellEuripidesIno:Frg. 100–101 Kannicht / Snell).

Webster platziert diese Tragödie samt Die Kreterinnen, Alkmene, Alope, Danaë, Skiron und Protesilaos in der Gruppe, die er „plays about unhappy women“31 nennt. Jouan / Van Looy stimmen dieser Behauptung nicht zu und glauben, „c’est méconnaître l’importance des accès de folie qui déterminent une partie de l’intrigue, et du rôle de Dionysos“32.

Hartung33 nimmt auch Hygins als Zeuge an und versucht Euripides’ Tragödie zu rekonstruieren. Er denkt, dass der Prolog von Ino gesprochen wurde. In einer poetischen und vielleicht auch ein bisschen übertriebenen Weise beschreibt Hartung das in diesen Versen geschilderte Elend und das wilde Leben Inos außerhalb des Palastes. Als Beispiel dieser Plagen erwähnt er eine Textstelle der Anonymi Comici et Tragici34 und verbindet sie mit dem Frg. 421 KannichtEuripidesIno:Frg. 421 Kannicht; Ar. AchAristophanesAch. 432–434. 434 und VespAristophanesVesp. 1412–1414. 1413 sind ebenfalls Belege dieser Kalamitäten. Athamas gesteht Ino, dass er mit ihr glücklicher war als mit Themisto und er redet philosophisch über die Ehe (Frg. 402; 405 KannichtEuripidesIno:Frg. 402 KannichtEuripidesIno:Frg. 405 Kannicht). Er bittet Ino darum, sich zu verbergen und ihre Identität zu verhüllen, womit sie einverstanden ist. In der Stadt fängt man an zu tuscheln und Themisto vermutet, dass ihr Mann sie betrügt. Athamas präsentiert Themisto Ino. Dann sinnt er über Knechtschaft und Meinungsfreiheit nach (Frg. 410; 412 KannichtEuripidesIno:Frg. 410 KannichtEuripidesIno:Frg. 412 Kannicht). Der König geht zur Jagd; Themisto lästert über ihren Mann (Frg. 414 KannichtEuripidesIno:Frg. 414 Kannicht) und sagt, dass ihre Rivalin keine Chance habe (Frg. 404 KannichtEuripidesIno:Frg. 404 Kannicht). Sie enthüllt Ino ihren makabren Plan, Inos Kinder zu töten. Ino versucht sie jedoch davon abzubringen (Frg. 417; 420 KannichtEuripidesIno:Frg. 417 KannichtEuripidesIno:Frg. 420 Kannicht), sie schafft es aber nicht; Ino täuscht dann vor, Themistos Strategie anzunehmen, nämlich deren Kindern beim Schlafen weiße Kleidung anzuziehen, Inos aber schwarze. Themisto fordert Inos und des Chors Schweigen (Frg. 411 KannichtEuripidesIno:Frg. 411 Kannicht). Ino hält mit sich selbst eine langes Zwiegespräch (Frg. 413; 398 KannichtEuripidesIno:Frg. 413 KannichtEuripidesIno:Frg.398Kannicht ). Der Chor fleht darum, dass Themisto ihren Plan abbricht. Ino betritt die Bühne wieder mit ihren Kindern, die sie gesund und munter an der Hand hält; dann erzählt sie, wie Themistos Kinder gestorben sind. Ino schickt Learchos in dem Gefolge mit, das Athamas zur Jagd begleitet; Melikertes bleibt bei ihr zu Hause. Der Chor, erschrocken über das Verbrechen, bedauert Themistos Zustand mit dem Epigramm 61 Shackleton Bailey der Anthologia Latina35: Pallia nota fouet lacrimis decepta Themisto, / Pyramus, heu, lacrimis pallia nota fouet. Der Chor tröstet sie (Frg. 415; 418; 408 KannichtEuripidesIno:Frg. 415 KannichtEuripidesIno:Frg. 418 KannichtEuripidesIno:Frg. 408 Kannicht). Themisto tritt in den Palast ein und erhängt sich. Der Chor weint darüber. Der König ist noch auf der Jagd; Hartung sagt: „modo Euripidem Liuius imitatus est, de quo haec retulit Terentius Maurus 1931“36, ein Text, der eigentlich auf Laevius zurückzuführen ist, wie wir schon gesagt haben. Ein Diener bringt die Nachricht über den Wahnsinn des Königs und Learchos’ Tod.

Es wird deutlich, dass der deutsche Gelehrte den letzten Teil von Hygin als einen Teil von Euripides’ Theaterstück annimmt. Hartung gründet seine Behauptung auf die Figur von Agave: „Postremo in domum a satellitibus lugentibus deductus est, inde mox ad immensam calamitatem intuendam, sana mente recepta, rediturus“37. Es gibt aber keinen anderen Beleg als den von Plinius dem Älteren in Bezug auf Athamas’ Genesung vom Wahnsinnns. Ino sieht den getöteten Sohn und leidet sehr (Frg. 399; 400; 401; 403; 416 KannichtEuripidesIno:Frg. 399 KannichtEuripidesIno:Frg. 400 KannichtEuripidesIno:Frg. 401 KannichtEuripidesIno:Frg. 403 KannichtEuripidesIno:Frg. 416 Kannicht). Besessen von einem bacchischen furor stürzt sie sich mit ihrem Kind Melikertes von einer Steilküste ins Meer. Athamas erfährt all diese traurigen Ereignisse, die Athenaios (XIII 560d KaibelAthenaiosAth. XIII 560d Kaibel) weiterverbreitete. Der Chor beklagt die tragische Nachricht (Frg. 419 KannichtEuripidesIno:Frg. 419 Kannicht). Dionysos würde am Ende erscheinen und die DivinisierungDivnisierung von Ino und Melikertes ankündigen (Frg. 100–101 Kannicht / SnellEuripidesIno:Frg. 100–101 Kannicht / Snell); dieser Gott verbannt Athamas und sagt ihm vorher, dass eine Ebene seinen Namen tragen werde.

Darüber hinaus glaubt Hartung, worauf Luc. Salt. XLIILukian von SamosataSalt. XLII hinweist, dass ein- und derselbe Schauspieler sowohl Athamas als auch Ino dargestellt habe, „si ab illis actoribus saltationes, ab aliis colloquia exhibita sunt“38. Nach Hartung überliefert dieses Werk zwei neue Fakten: Ino verbringt lange Zeit in einer Höhle als Tier und Athamas’ Haus wird wegen der Eifersüchtelei zweier Frauen zerstört. Auf diese Weise warnt Athamas die Männer vor den Gefahren, die von Frauen ausgehen. Hartung schließt nicht aus, dass das, was einige Gelehrte für eine Erfindung von Euripides halten, eigentlich aus einer wenig bekannten Volkstradition kommt, wie es auch in dieser Untersuchung schon vermutet wurde.

 3) Die Authentizität der Zuweisung von Hygin wird weder begründet noch widerlegt.

Genauso erklärt es Wilamowitz. Auf jeden Fall weist der deutsche Gelehrte darauf hin, dass, wenn Hyg. Fab. IVHyginusFab. IV tatsächlich eine zuverlässige Zusammenfassung von Euripides’ Ino wäre, auch die von Athenagoras überlieferten Fragmente 100 und 101 KannichtEuripidesIno:Frg. 100–101 Kannicht / Snell / Snell zu diesem Theaterstück gehören würden; sie kämen „aus der Rede eines deus ex machina, der die Erhöhung von Ino und Melikertes zu Seegöttern versprach“39. Seitdem diese Fragmente von Wilamowitz der Tragödie zugeschrieben wurden und dank dem Kontext des Zitats von Athenagoras40, nämlich dass Ino als eine WahnsinnWahnsinnige erschien, schlägt McHardy eine gänzlich andere Handlung vor: „It seems that in his Ino Euripides did portray Ino as killing her son while maddened“41. Kein anderer Gelehrter hat diese Idee geäußert. McHardy42 beruft sich auf Plut. MorPlutarchMor. 267d. 267d, um seine Meinung plausibel zu machen: „Interestingly, the plot shifts from the threat a stepmother brings to her stepchildren to the threat that a mother’s irrational emotions may bring to story found in Plutarch (Mor. 267D)“43. Hiermit wird er auch allein bleiben. Schließlich entscheidet sich Gantz auch nicht für oder gegen Hygin: „If Hyginus can be trusted…“44.

In Hinblick auf die bacchische Erfahrung von Ino bietet Kannicht zwei Texte an: Paus. X 4, 3PausaniasPaus. X 4, 345 und Plut. MorPlutarchMor. 249e-f. 249e-f46.

Bezüglich des letzten Teils, Learchos Tod auf der Jagd, glaubt Wilamowitz nicht, dass er zur Tragödie von Euripides gehörte: „Aber das Ende der Ino lässt sich schwer mit der Handlung vereinen, die in ThessalienThessalien spielt, und auf die Schluβsätze der Hyginfabel ist kein Verlaβ“47. Zielinski48 wiederum ändert das Ende der Tragödie: Dem Schreien von Themisto folgt ein ἀγών zwischen Ino und Athamas; Ino bereut ihr Verbrechen vor dem Chor und flieht mit Melikertes, als sie Learchos’ Tod erfährt. Dionysos sollte als deus-ex-machina erscheinen und die Metamorphose von Ino und Melikertes verkünden, indem er für die neuen Gottheiten einen Kult befiehlt. Zielinski denkt, dass dieses Werk als eine ‚Tragödie von Reue (paenitentia)’ angesehen werden kann, obwohl sich diese Erklärung durch kein Fragment begründen lässt.

Webster aber hält Athamas’ Jagd für einen Teil der euripideischen Tragödie. Er plädiert dafür, dass der Beginn der Jagd durch den Hymnus des Chores für die Jägerin Artemis dargestellt werden sollte. In der Tat hätten diese Verse eine konkrete Funktion bei der Aufführung des Theaterstücks gehabt: „This may have masked the interval before the messenger returns with the news that Athamas has gone mad (like Herakles later in the H.frg.) and killed Learchos“49. Das Drama konnte mit einem Hinweis auf den Kult dieser Gottheiten enden, wie es auch in Hippolytos geschah. Schließlich meinen Jouan / Van Looy: „Ino envoya ensuite son fils aîné Léarchos à la recherche de son père Athamas“50; allerdings kann man diese Angabe weder in den erhaltenen Fragmenten des Werkes noch in der 4. Fabel von Hygin finden.

Interessant ist es nun, zwei andere Rekonstruktionsversuche der Tragödie des Euripides zu analysieren.

Der erste ist der von Welcker; er meinte, „die Ino des Euripides war ein Intriguenstück“51. Er denkt, dass Ino die Hauptfigur sei, die den Prolog spreche. Sie sei sich ihrer früheren Verbrechen bewusst, hoffe aber, dass all ihr Leiden bald aufhöre (Frg. 398 KannichtEuripidesIno:Frg. 398 Kannicht). Sie sei tieftraurig darüber, dass Athamas zum dritten Mal geheiratet habe, aber sie erwarte, dass ihre Kinder eine bessere Zukunft haben werden (Frg. 404 KannichtEuripidesIno:Frg. 404 Kannicht) und vertraue darauf, dass Athamas den adeligen Ursprung ihrer Nachkommen nicht vergesse (Frg. 405 KannichtEuripidesIno:Frg. 405 Kannicht). Nach dem ‚Parados‘ wendet sich Ino an den Chor (Frg. 399; 401; 400 Kannicht), der sie tröstet (Frg. 418, 408 und 409 KannichtEuripidesIno:Frg. 418 KannichtEuripidesIno:Frg. 408 KannichtEuripidesIno:Frg. 409 Kannicht). Dann führen Ino und Athamas ein Gespräch (Frg. 410 und 412 KannichtEuripidesIno:Frg. 410 KannichtEuripidesIno:Frg. 412 Kannicht); der Aiolide fordert Themisto auf, zur neuen Dienerin freundlich zu sein (Frg. 407 und 406 KannichtEuripidesIno:Frg. 407 KannichtEuripidesIno:Frg. 406 Kannicht52). Themisto ist aufgrund der Ankunft ihrer Rivalin (Frg. 422 KannichtEuripidesIno:Frg. 422 Kannicht) tief beleidigt, Ino versucht sie zu beruhigen (Frg. 415 KannichtEuripidesIno:Frg. 415 Kannicht). In diesem Moment enthüllt HypseusHypseus’ Tochter der neuen Dienerin ihren machiavellistischen Plan (Frg. 411 KannichtEuripidesIno:Frg. 411 Kannicht), dem Ino scheinbar folgt (Frg. 413 und 402 KannichtEuripidesIno:Frg. 413 KannichtEuripidesIno:Frg. 402 Kannicht). Ein Bote oder ein Pädagoge betritt die Bühne und berichtet den von Themisto unbeabsichtigten Mord an ihren eigenen Kindern (Frg. 403, 419, 420 und 414 KannichtEuripidesIno:Frg. 403 KannichtEuripidesIno:Frg. 419 KannichtEuripidesIno:Frg. 420 KannichtEuripidesIno:Frg. 414 Kannicht). Schließlich kündigt Dionysos Athamas’ WahnsinnWahnsinn (Frg. 421 KannichtEuripidesIno:Frg. 421 Kannicht), Learchos’ Tod und Inos Selbstmord an.

Jouan / Van Looy sind der Ansicht, dass Welcker und Hartung sich irren, wenn sie Ino den Prolog zuschreiben: „Étant le seul personnage à connaître les antécédents en détail, Athamas est donc tout indiqué pour réciter le prologue“53. Ihre Rekonstruktion der Tragödie lautet folgendermaßen: Athamas spricht den Prolog aus, indem er von der unmittelbaren Rückkehr Inos und der verdächtigen Eifersucht Themistos erzählt. Im ‚Parados‘ taucht eine mit Lumpen angezogene Ino mit Athamas’ Dienerinnen auf. Ino, flebilis nach Hor. Ars PHorazArs P. 123. 123, aber „mais douée de « franc parler »“54, fleht Athamas an, aufgenommen zu werden. Nach diesem kurzen Dialog kehrt Athamas noch einmal in den Palast zurück. Die Dienerinnen erkennen ihre alte Herrin, die über ihre Schicksalsschläge klagt und sich fragt, wie sie wieder in Athamas’ Haus zurückkehren könne (Frg. 2, 3 und 4 JVL)55; der Chor versucht sie zu trösten (Frg. 5, 6 und 7 JVL)56. Er singt und tanzt, enthüllt aber Inos Identität57 nicht. In der folgenden Szene präsentiert Athamas Ino der Themisto als eine neue Dienerin; hier kommt der ἀγών zwischen Personen von hohem und von niederem Stand (Frg. 8, 9, 10, 11 und 12 JVL)58 zustande. Mit einem bittersüßen Ton (Frg. 13 JVL)59 nimmt Themisto die SklavinSklavin auf.

HypseusHypseus’ Tochter wirft dem Aioliden ihrerseits vor, dass er weiterhin mit Ino geschlafen habe, wenn er sagt, er gehe zur Jagd. Themisto offenbart Ino ihre verbrecherische Absicht, um das Erbrecht ihrer Kinder zu bewahren (Frg. 14? JVL)60; Ino versucht Themistos ZornZorn zu mildern (Frg. 17, 15, 16 und 18 JVL)61; Themisto aber drängt sie dazu, das Geheimnis zu bewahren (Frg. 19 JVL)62 und Kadmos Tochter versichert ihr, dass sie ein Geheimnis zu bewahren weiß (Frg. 20 JVL)63. Themisto befiehlt ihr, die Kinder ihrer Rivalin schwarz anzuziehen64; Ino bleibt allein auf der Bühne und weint hoffnunglos; der Chor versucht sie zu trösten. Jouan / Van Looy fragen sich: „Annonce-t-elle à ce moment qu’elle fera le contraire en habillant ses propres enfants de blanc?“65.

Nach einem Stasimos, von dem es keine Spur gibt, meldet ein Bote, und zwar entweder die AmmeAmme oder der Pädagoge, Athamas den Tod der Kinder Themistos und deren Selbstmord. An diesem Punkt verliert sich der Faden des Werkes. Es ist möglich, dass es einen kurzen Dialog zwischen Athamas und Ino gibt; ein zweiter Bote berichtet, wie der König seinen Sohn Learchos in einem Anfall von Wahnsinn getötet habe; Ino flieht mit Melikertes. Jouan / Van Looy denken, „il serait selon nous plus dramatique qu’Athamas arrivât lui-même avec le cadavre de Léarchos comme butin de chasse“66. Dann erscheint Dionysos als deus-ex-machina und kündigt Inos und Melikertes’ Divinisierung (Frg. *27 und 28 JVL)67 und Athamas’ Exil an. Jouan / Van Looy halten die Frg. 22, 23 und 24 JVL68 für enigmatisch; das Frg. 25 JVL69 könnte aus dem Bericht über Athamas’ Jagd kommen.

In dem vorliegenden Buch wird die vierte Fabel von Hygin als zuverlässiger Beleg der euripedeischen Tragödie betrachtet.

Wichtig ist dabei zu beachten, dass die I-T-Version so nur in dieser Fabel erzählt wird. Der Name Themisto ist nicht neu70, aber diese Geschichte wird früher nie erzählt. In Hyg. FabHyginusFab. I. I wird auch diese Version beschrieben, jedoch spielt Ino darin überhaupt keine Rolle. Themisto wird ja auch bei Nonnos von Panopolis sehr bedeutsam, aber dessen Zusammenstellung erfolgt sehr spät (5. Jh. n. Chr.), so dass sie von diesen Erzählungen ganz sicher beeinflusst wurde; darüber hinaus schenkt Nonnos dem Kernpunkt der Erzählung Hygins, nämlich der Strategie Inos, dass Themistos Kinder, und nicht ihre eigenen Kinder, getötet werden, keine Aufmerksamkeit.

Es ist zulässig, bezüglich der Zuverlässigkeit der Fabel von Hygin für Euripides’ Tragödie folgende Fragen zu stellen: Inwiefern ist Euripides der Tradition dieses Mythos treu? Hat er diese Geschichte erfunden? Es ist m.E. schwer zu glauben, wie oben angedeutet wurde, dass ein so berühmter Tragiker im AthenAthen des 5. Jh. n. Chr., wo der mythologische Rahmen eine wichtige politische und soziale Funktion hatte, in einem Mythos Figuren, die den Zuschauern bekannt waren, ganz und gar ex nouo erfinden konnte. Alle Tragiker hatten ja in ihren Zusammenstellungen eine gewisse Freiheit, die Werke waren nicht frei von Neuerungen, aber es ist etwas anders, DIE GANZE TRAGÖDIE als Neues zu schaffen. Euripides hätte sich auf eine frühere LegendeLegende beziehen können und er hat sie ja auch in einigen entscheidenden Punkten geändert. Wie unfangreich letztendlich seine eigenen inhaltlich-gedanklichen Beiträge zu dieser Tragödie sind, ist unmöglich zu beantworten.

In dieser Stelle muss auf die Beiträge von Prof. Kurt Weitzmann Bezug genommen werden. In drei seiner Werke erläutert er eine konkrete Abbildung eines ins 9. Jh. n. Chr. zurückreichenden Manuskripts71, nämlich die sehr reich bebilderte Handschrift von Oppianos Über die Jagd (Cod. Gr. 479), die sich in der Bibliothek von San Marco in Venedig befindet und damals dem Kardinal Bessarion gehörte. Die Kopie aber soll im 10. Jh. n. Chr. auf Anregung von Kaiser Konstantin VII. PorphyrogennetosKonstantin VII. PorphyrogennetosDe uirt. II 2272 angefertigt worden sein. Die Analyse dieser Abbildungen ist sehr bedeutsam für die Handlung der mit Ino betitelten Tragödie von Euripides.

Wichtig ist, den folgenden Punkt zu bemerken: „Next to Homer’s Odyssey and Iliad no classical text has stimulated the imagination in the representational arts of classical antiquity more than the dramas of Euripides“73; viele erhaltene Vasen sind ein guter Beweis dafür. Die Malereien der Vasen aus Terrakotta schildern sehr genau das kulturelle Leben Griechenlands. Am Anfang des Hellenismus geht es einen Schritt weiter, als man den Zyklus der erzählenden Malerei erfindet, wo eine Szene der anderen mit ständiger Wiederholung der wichtigsten Schauspieler folgt, wie üblicherweise auch die Erzählung verfährt74. Diese Zyklen wurden geschaffen, um den Inhalt einer Tragödie umfassender darzustellen, als es ein einfaches Bild auf einer Vase leisten konnte; sie beeinflussten stark die Wandmalerei – z.B. in Pompeji – und die Bildhauerei auf den Sarkophagen, wobei sie als Muster galten. Die erzählende Malerei fand ihre Anwendung in Fresken und Wandbildern.

Im Gegensatz dazu stand die zyklische, in der Buchmalerei entstandene Erzählung. Diese Zyklen hätten vor der Erfindung des Kodex im 1. Jh. n. Chr. nicht entstehen können, denn nur dieses Format bot die Möglichkeit, die Wandmalerei mit ähnlichen Proportionen zu kopieren. Da fast alle Papyri mit Abbildungen verlorengegangen sind, „Byzantine miniatures made during the renaissance movement of the tenth century are of primary importance for the reconstruction of a branch of classical painting which is now almost totally lost“75.

Hier ist die zu analysierende Abbildung:

Abb. 4:

Beispiele von ‚Eifersucht‘ nach Oppianos’ Über die Jagd

Die Miniatur zeigt auf zwei Streifen einige aus Eifersucht entstandene Verbrechen, wie in Opp. C. III 244–248OppianosC. III 244–248 zu lesen ist. Weitzmann stellt jedoch fest: „Every one of its scenes can be related to certain Euripidean tragedies, the Aegeus, the Ino, the Peliades, and the Medea, and that the most likely model of the Byzantine miniaturist was an illustrated Euripides manuscript“76.

Aus der Reihe der sieben von Oppianos erwähnten Helden77 werden in der Handschrift nur vier dargestellt, und zwar Theseus, Athamas, Themisto und Medea; weder Prokne / Philomela noch Thyestes werden in der Miniatur gemalt. In Bezug auf die erste Unterlassung glaubt Weitzmann78 den Grund zu kennen: Diese Geschichte kommt – soweit wir wissen – in keiner Tragödie von Euripides vor; in Hinblick auf den zweiten unterlassenen Kindesmord, nämlich den von Thyestes, denkt dieser Gelehrte, dass entweder die verlorene Tragödie Thyestes von Euripides ein anderes Verbrechen dieser mythologischen Figur darstellen könnte oder dieses Werk schon verschwunden war, als die Abbildung entstand.

Im unteren Streifen werden zwei Verbrechen Medeas dargestellt: Das erste könnte der Tragödie Peliaden zugeschrieben werden; das zweite, dem homonymen Werk von Jasons Frau. Im oberen Streifen, der für diese Analyse weit interessanter ist, kann man von links nach rechts als erstes die Personifikation der Eifersucht (ὁ ζῆλος) erkennen, die mit ihrer rechten Hand einen Speer umklammert und mit der linken das adamantische Schwert, auf das sich derselbe Oppianos einige Zeilen vor dem oben erwähnten Zitat bezieht, herausfordernd zeigt. Als nächstes ist Theseus zu sehen, der seine Kleider und die von seinem Vater Aigeus hinterlassenen Waffen hervorholt, damit er von seinem Vater erkannt werden könne, wenn er in AthenAthen ankäme.

Nach Theseus erwähnt Oppianos Athamas. In der Miniatur wird ein Mann in Rüstung dargestellt, der sein Schwert erhebt, um einer anderen männlichen verblutenden Figur, die gerade das Gleichgewicht verliert und kurz davor ist zu stürzen, den Gnadenstoß zu geben. Hier kommt man auf die zwei von Weitzmann genannten Fehler des Kopisten, der wahrscheinlich nicht mehr verstand, was er malte. Der Name ὁ Θησεὺς, der neben der ersten Figur steht, entspricht dieser nicht, sondern der vorhergehenden, die keinen Titel hat. Die Beischrift ὁ Ἀθάμας aber steht über der stürzenden Figur, die jedoch Learchos sein muss, denn kein literarischer Beleg weist darauf hin, dass Athamas durch ein Schwert gestorben sei. Weitzmann behauptet: „As in the preceding scene, the copyist was no longer aware of the meaning of the scene, and so he shifted the inscription of Athamas from the left to the right figure, after having already made a similar mistake in the case of the Theseus figure“79.

Abgesehen von der m.E. Ähnlichkeit dieser Szene mit der Textstelle von Nonn.Nonnos von PanopolisD. X 52–63 D. X 52–63, wird Athamas mit Schwert schon in sehr alten Quellen beschrieben, wie z.B. bei Philostephanos, der erzählt, wie der Aiolide seine Frau Ino mit einem Schwert verfolgt. Dieser Autor, um bei dem Beispiel zu bleiben, erwähnt nicht, auf welche Weise Athamas seinen Sohn Learchos getötet hat; es ist deshalb glaubhaft, dass er mit demselben Schwert, mit dem er Ino bedroht, seinen Sohn umgebracht hat. Ähnliches kann man über das von Kallistratos beschriebene Bild (Callistr. XIVKallistratosCallist. XIV) und über Eust. ad Il.Eustathios von Thessalonikead Il. I 497, 17–498, 5 I 497, 17–498, 580 sagen.

Weitzmann81 erklärt, man könne von der Kopie eines klassischen Musters nicht erwarten, dass Learchus in realistischer Weise als Hirsch dargestellt wird, was man eigentlich in anderen Miniaturen, die keinem klassischen Muster folgen, sehen kann: deswegen ist anzunehmen, dass sich die vorliegende Miniatur auf eine klassische, von einem byzantinischen Kopisten modifizierte Vorlage bezieht.

Weitzmanns Erklärung stößt meiner Meinung nach auf einige Schwierigkeiten, die der deutsche Gelehrte übersieht. Wenn es um Learchos geht, worauf alles hinzudeuten scheint, dann kann man das seiner Hand entglittene Schwert nicht einordnen: Es gibt keinen literarischen Beleg, der berichtet, dass Learchos ein Schwert trug, als er von seinem Vater getötet wurde. Darüber hinaus hat man nicht den Eindruck, dass da eine Jagdszene dargestellt wird, sondern eher ein Duell zwischen zwei Kriegern mit ihren Waffen. Man könnte denken, dass sich Learchos seinem Vater widersetzt und mit ihm kämpft, aber das ist auch eine neue Verstehensweise in der überlieferten Tradition dieser Szene. Wenn es nicht die Beischrift ΑΘΑΜΑΣ gäbe, wäre es unmöglich, dieses Bild dem Aioliden zuzuschreiben. Das betrifft die anderen Figuren nicht; mit Hilfe von Oppianos’ Textstelle ist es einfach, die Person, die zwei im Bett liegende Kinder erstickt, zu identifizieren, obwohl sich der Kopist noch einmal geirrt hat und sie φιλομήλη82 nennt: Es handelt sich selbstverständlich um Themisto und den Mord ihrer Kinder. Im Fall von Athamas und Learchos hilft die graphische Darstellung dem Betrachter bei der Identifizierung nicht.

Weitzmann fragt sich berechtigterweise, warum der Maler den Platz dieser Heldin in der Bilderfolge geändert und nicht nach Medea dargestellt hat; „the only reason we can deduce is its thematic connection with the preceding story of Athamas killing Learchus, which was also told, as we know from Hyginus, in the Ino of Euripides“83. Das bedeutet, dass Weitzmann – im Gegensatz zu Wilamowitz – glaubt, der letzte Absatz von Hyg. Fab. IVHyginusFab. IV komme in der Handlung von Euripides’ Ino vor. Weitzmann denkt auch, die kurze Andeutung von Porphyrion und PtoosPtoos Tod bei Nonnos lasse es als unwahrscheinlich erscheinen, dass sich der Maler von einem bebilderten Werke dieses Autors inspirieren ließ: „Thus we come one more to the conclusion that the Pseudo-Oppian painter used an illustrated Euripides as source, from which he took two scenes, each one illustrating an act of violence resulting from Jealousy. These two scenes do not follow the order of the drama, but this shift is obviously to be explained by the Pseudo-Oppian text which mentions Athamas first and Themisto later“84.

Hierin liegen aber neue Probleme. Zunächst ist Hygins Hinweis auf Learchos’ Tod noch flüchtiger als der von Nonnos auf den Tod der Kinder Themistos. Zweitens hat man beim Lesen von Oppianos’ Text nicht den Eindruck, dass beide Figuren, Athamas und Themisto, Protagonisten ein- und derselben mythologischen Erzählung sind, weil Oppianos drei Heldinnen zwischen diese Personen schiebt. Man könnte sich aber vorstellen, dass der Maler derjenige ist, der sich von Euripides’ Werk inspirieren lässt, um sowohl Learchos’ Tod als auch Themistos Kindermord darzustellen. Allerdings könnte man erwidern, dass beide Darstellungen aus verschiedenen Tragödien, sogar von verschiedenen Autoren stammen könnten: Themistos Verbrechen könnte sich auf Euripides’ Ino beziehen, Learchos’ Tod – es scheint, dass Euripides nie darüber geschrieben hat – auf Sophokles’ ersten Athamas. Dieser letztere Fall ist aber noch unwahrscheinlicher, denn es ist schlüssiger, alle Abbildungen auf das Werk eines einzigen Tragikers zu beziehen.

Allerdings ist diese Abbildung m.E. sehr wichtig, um den Inhalt der vierten Fabel von Hygin (Themistos Verbrechen) Euripides’ Ino zuzuschreiben, selbst wenn die Szene von Athamas in der Handschrift nicht dieser euripideischen Tragödie zuzuordnen wäre. Wie Weitzmann selbst andeutet, „the two scenes in Pseudo-Oppian are the first ever to be connected not only with the Euripidean Ino, but with this myth in general“85. Man hat tatsächlich keinen anderen ikonographischen Beleg des Todes der Kinder von Themisto86.

Zurück zu Euripides’ Ino, muss man mit Jouan / Van Looy einräumen, dass „si on ne possédait que les fragments, pourtant au nombre de vingt-cinq totalisant 79 vers, on ne pourrait jamais deviner l’intrigue d’Ino“87. Nauck schreibt Ähnliches: „de Inone scriptores alii alia perhibent: quam mythi formam Euripides secutus sit nescimus“88. Mattes jedoch glaubt, „die ,Ino’ ist ohne den Wahnsinn beider (Ino und Athamas) oder des einen kaum denkbar“89.

Diese Tragödie war in der Antike wohl bekannt. Ihr Ruf reicht, nach dem Beleg von Philostr. VA., VII 5PhilostratosVA. VII 590, bis ins 1. Jh. n. Chr.: Zur Zeit Kaiser Domitians sollen in Ephesus entweder das ganze Drama oder Teile davon aufgeführt worden sein.

Kannicht, der angeblich Hygins Fabel als zuverlässig betrachtet, bietet die wesentlichen Inhalte dieser Tragödie schematisch an. Die Szene findet in ThessalienThessalien vor Athamas’ Palast statt. Die handelnden Figuren sind wahrscheinlich Ino, Themisto und Athamas. Jouan / Van Looy fügt einen Boten und vielleicht Dionysos hinzu. In Bezug auf den Chor sagt Kannicht, dass er „fortasse ancillis domus regiae“91 bestehen konnte; Mette argumentiert aber mehr generisch: „Chor: Thessalische Frauen“92. Jouan / Van Looy denken, „si le fragment 399 appartient à Ino, le chœur était composé de femmes, amies d’Ino (φίλαι γυναῖκες)“93.

Zur Aktion der Aufführung ist sehr wahrscheinlich nur Frg. 398 KannichtEuripidesIno:Frg. 398 Kannicht zuzuschreiben. Schmid / Stählin aber meinen, „eine Reihe von Versen beziehen sich offenbar auf Inos Verhalten in ihrer dienenden Stellung (fr. 410–413EuripidesIno:Frg. 410–413 Kannicht)“94.

In Hinblick auf die Datierung dieser Tragödie sieht es vermutlich so aus, dass Aristophanes’ Komödie Die Acharner, die 425 v. Chr. aufgeführt wurde, ein terminus ante quem bleibt; denn im Vers 434 werden Inos Lumpen angedeutet, wobei dieser Hinweis immer dem euripideischen Werk zugeschrieben wurde. Nach Jouan / Van Looy, „M. Cropp-G. Fick élargissent légèrement les marges indiquées par T.B.L. Webster: 455–425 au lieu de 455–428“95. Cropp / Fick96 sagen ja, dass hinsichtlich der Komposition durch Jambi keine sichere Schlussfolgerung zu ziehen ist; Goosens aber behauptet, „l’Ino pourrait bien être contemporaine des Péliades ou de peu postérieure à la date de 455“97.

Kannicht stellt die Tragödie in den ‚thessalischen‘ mythologischen Rahmen, woraus „hausta sunt argumenta Phrixorum… et Athamantum“98. Starkie99 berichtet, dass sie nach Hartung100 zur Tetralogie Ino, Erectheus, Ion und Skiron gehören sollte.

Wie die erwähnten Frg. 100–101 Kannicht / SnellEuripidesIno:Frg. 100–101 Kannicht / Snell wurden dieser Tragödie auch die Frg. 953m und 972 KannichtEuripidesIno:Frg. 972 KannichtEuripidesIno:Frg. 953m Kannicht zugerechnet. Es gibt aber einige Fragmente101, die genauer analysiert zu werden verdienen: P.Stras. W.G. 304–307 (Pack2 426). Fassino zufolge, „[si tratta dei] resti di un’antologia di brani lirici dalle Fenicie, dalla Medea e da una terza tragedia, ascrivibile anch’essa con ogni probabilità ad Euripide“102. Interessant sind für dieses Buch nur die Fragmente dieser Tragödie (W.G. 306 Sp. IV)103, deren Titel104 nicht erhalten ist.

Fassino fasst neun wesentliche Angaben für die Identifizierung der Tragödie zusammen:

 1) Eine Frau wünscht sich selbst, ein Kind oder mehrere Kinder zu töten.

 2) KadmosKadmos wird möglicherweise als ein mythischer Vorfahr angedeutet.

 3) Die Achäer werden erwähnt.

 4) Die Leiche eines Kindes erscheint auf der Bühne.

 5) Wahrscheinlich kommt auch eine andere Frau, die sich gänzlich von 1)105 unterscheidet.

 6) Es geschehen möglicherweise zwei Kindermorde.

 7) Ein Kind wird mit einer ἔγχη getötet.

 8) Es sieht so aus, als komme auch ein Mann vor, der wahrscheinlich βασιλεύς ist.

 9) Der Mann einer Frau wünscht anscheinend den Tod für sich herbei.

Fassino schließt die Zuschreibung zu Die eingekerkerte Melanippe und zu Die kluge Melanippe aus; er denkt eher so: „La probabile presenza di una successione negli infanticidi consente forse di restringere la scelta tra le trame note al finale dell’Ino“106. Laut diesem Gelehrten wird der erste Mord von einem Boten, zu dessen rhesis Frg. 421 und 422 KannichtEuripidesIno:Frg. 421 KannichtEuripidesIno:Frg. 422 Kannicht gehören, berichtet. Dann soll Ino ihre Absicht, das andere Kind zu töten und Selbstmord (Z. 4–7) zu begehen, angekündingt haben. Der Chor erwidert ihr, indem er sich auf den Mord des anderen Kindes konzentriert und die Nachricht vom Selbstmord außer Acht lässt. Das Lied (Z. 16–19) ruft die mythischen Präzedenzfälle des damals geschehenen Unglücks ins Gedächtnis; in diesem Moment wird KadmosKadmos angedeutet, weswegen ‚die dionysische Motivierung‘ (HeraHera bestraft Athamas und Ino, weil sie Dionysos erzogen haben) sehr wahrscheinlich ist. Learchos’ Leiche erscheint auf der Bühne (Z. 21–24.27); möglich ist, dass die Speerstiche erst dann ausgeführt werden (Z. 24). Dies versetzt die Anwesenden in Schrecken (Z 19ff). Darauf folgt eine zweite Rhesis mit dem zweiten Kindesmord und Inos Selbstmord. Der Chor (Z. 32–34) und Athamas (Z. 36) bedauern sein verlorenes Glück. Schließlich erscheint Dionysos als deus-ex-machina und berichtet Inos und Melikertes’ Divinisierung. Fassino glaubt, dass die Tragödie in ThessalienThessalien, und zwar im Achaia der Phthia stattfindet, und dass „il βασιλεύς del r. 30 e l’ ἀνέρα del r. 31 dovrebbero essere Atamante“107.

Es ist klar, dass sich diese Rekonstruktion von der in Hyg. Fab. IVHyginusFab. IV erzählten I-T-Version trennt und sich auf den letzten Teil dieser Fabel konzentriert. Obwohl diese These nicht dem Standpunkt des Buches entspricht, sollte Fassinos Artikel in einer ausführlichen Untersuchung von Euripides’ Ino immer beachtet werden.

Zuletzt ist eine Behauptung von Aélion interessant, die sich auf die verlorene Tragödie der Peliaden bezieht, deren Bedeutung aber auch auf die Fragmente von Euripides’ Ino anwendbar ist: „Comme, d’autre part, les fragments sont peu nombreux et que leur contenu est essentiellement gnomique, cette reconstitution ne peut avoir aucune précision“108. Diese Vorsicht gilt auch für die hier unterbreiteten Vorschläge.

Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur

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