Читать книгу Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur - Manuel Caballero González - Страница 32
I.1.2 Met. IV 416–562OvidMet. IV 416–562
ОглавлениеDies ist die wichtigste Textstelle der Metamorphosen und ein Grundpfeiler der erhaltenen Texte über den Mythos von Athamas; bei dieser Passage handelt es sich um Athamas’ WahnsinnWahnsinn und Inos SprungSprung.
Ovid präsentiert hier die I-L-M-Version. Dies ist nicht der einzige Moment, in dem dieser Dichter über Athamas’ Wahnsinn schreibt: Er kommt auch in den Fasten vor1. Allerdings sagt Anderson mit Recht, „Ovid’s version here of the destruction of Ino and her family differs considerably from the story he composes on the same subject in Fast. 6485 ffOvidFast. VI 485“2. In den Fasten gibt es z.B. keine Einzelheit von Learchos’ Tod und Ino begräbt seine Leiche. Darüber hinaus ist das Ziel in beiden Erzählungen ein ganz anderes, denn hier geht es um eine Geschichte von Metamorphose, in den Fasten aber funktioniert die Erzählung als „Vorgeschichte für seine Darstellung der Aitia im KultKult der Mater Matuta“3. Bernbeck zufolge präsentiert Ovid all diese Ereignisse in einer epischen Erzählung, denn „alle Einzelabschnitte werden als Handlung in der Zeit geschildert“4. Ovids zeitliche Vorstellung stimmt mit anderen Autoren, wie z.B. Nonnos, nicht überein.
Bevor diese Textstelle analysiert wird, muss man wissen, dass Ovid ein Meister der ‚Abweichung‘ ist: Er versucht die Erwartungen des Lesers zu überraschen, vor allem wenn es um einen Leser doctus geht, der die übliche Tradition dieses Mythos gut kennt. Hershkowitz bemerkt richtig: „A major deviation occurs in the way madness appears and is used in the Metamorfosis, in which ‘standard’ scenes of epic madness, such as that exhibited in the Athamas and Ino episode, are rare, while scenes where madness should occur but does not, such as the Ajax episode, are much more frequent“5.
Die Passage, die ausführlich auf den folgendenen Seiten untersucht wird, besteht im Wesentlichen aus Athamas’ und Inos Geschichte. Die letzte Szene, nämlich die der Versteinerung oder der Verwandlung in Tiere der sidonischen Gefährtinnen von Ino, findet sich in keiner anderen literarischen Quelle und wird in dieser Untersuchung als ein Anhang der echten Geschichte von Athamas und Ino gesehen. Die Haupttextstelle besteht aus verschiedenen Szenen.
1’) Inos Prahlerei (416–419)
Bacchus hat in ThebenTheben triumphiert; Pentheus hat sogar sein Leben verloren, indem er zu verhindern versuchte, dass sich der neue Gott in der Stadt durchsetzte: Semeles Sohn wird in Böotiens Hauptstadt verehrt. Unmöglich zu übersehen ist die enge Verbindung bei Ovid zwischen Bacchus und Theben und, im Hintergrund, zwischen Bacchus und Ino; Theben ist zweifellos die Stadt des neuen Gottes.
In Bezug auf das Wort numen vom Ausdruck memorabile … | numen (416–417), der an das memorabile numen von Verg. Aen. IV 94VergilAen. IV 94 erinnert, muss man Acht geben, dass es Leseweisen gibt, die nomen statt numen haben6.
Bacchus ist der Sieger, Ino sein Herold. Sie wird beauftragt, die Heldentaten ihres göttlichen Neffen zu verkünden7. Damit richtet sie sich allerdings gegen ihren anderen Neffen Pentheus und ihre Schwester Agave, Pentheus’ Mutter. Anderson meint, „Ino is presented as guiltless“8, obwohl sie an Pentheus’ Tod9 mitgewirkt hat. Diese Beschreibung Inos verursachte beim Leser der Antike eine unterschwellige Furcht und Misstrauen: Ino sündigt aus ὕβρις10. Wenn man übermütig prahlt, man fühle kein Leiden11, löst dies die traurigen künftigen Ereignisse aus. Es sieht so aus, als ob Ino nicht klar sei, dass sie einer großen Gefahr ausgesetzt ist, aber „Ovid hat das Schicksal der Cadmus-Tochter Ino bereits III 313 kurz angedeutet“12. Der Wortschatz beider Erzählungen verknüpft sich eng, wie z.B. im Wort matertera (Met. III 313 – IV 417OvidMet. III 313 – IV 417) zu sehen ist.
2’) Junos Schmerz (420–431)
Juno sieht Ino13. Bernbeck ist folgender Meinung: „Wie in der Aeneis (134ff, VII 286ff.VergilAen. VII 286) ist das die Einleitung zu einem Monolog, der gemäß der traditionellen epischen Technik in einem Entschluß gipfelt und den Anstoß für das kommende Geschehen gibt“14. In der Tat, nachdem sie Ino gesehen hat, spricht die Göttin mit sich selbst; möglicherweise deutet Ovid das berühmte Selbstgespräch Junos in Aen. I 37ffVergilAen. I 37 an, das genau mit den Wörtern haec secum15 beginnt. Im Gegensatz zum Geschehen in ThebenTheben erkennt JunoJuno Bacchus nicht und nennt ihn de paelice natus (422). Juno ist hassHasserfüllt, weil sie sich als vertrieben, machtlos und gedemütigt betrachtet.
Drei Gründe gibt es für Inos Hybris und Junos Bitterkeit:
A) Inos Kinder: Das ist ein neues Motiv16, das man nicht aus Ovids Text herauslesen kann; es scheint aus Niobes Geschichte zu stammen.
B) Athamas’ Ehe: Schwierig zu erkennen ist, worin der Grund der Hybris liegt17. Bömer18 selbst meint treffend, dieser Stolz auf ihre Kinder und ihren Mann „ist im allgemeinen kein strafwürdiges Vergehen“19.
C) Die Erziehung einer Gottheit: Dies ist das echte Motiv von Junos ZornZorn und Inos Prahlerei. Bernbeck denkt, dass Ovid mit der Reihenfolge der Gründe und ihrer Bedeutsamkeit spielt: „Erst danach nennt er die Motive für Junos Zorn, dazu noch in der umgekehrten Reihenfolge ihrer Bedeutsamkeit“20.
Bömer zufolge „läßt sich auch das Verhalten der Ino nicht mit dem der Niobe vergleichen (VI 146ff. OTIS 322f.)“21, weil, obwohl Juno sich so brutal verhält wie im Fall von Leto, Ovid hier nur die Ungerechtigkeit der Götter, Wächter der universellen Ordnung, zeigen und den Zorn der eifersüchtigen Juno betonen will. Bömer hat Recht: Ino preist Bacchus und beleidigt Juno nicht22.
Jupiters Frau beklagt sich laut und deutlich über dieses letzte Motiv: Bacchus ist Junos echter Schmerz23. Die Göttin zählt die schon erfüllten Heldentaten von Bacchus, den sie nie nennt24, auf: Die Verwandlung der maionischen Schiffer25 (Met. III 582–691OvidMet. III 582–691); Pentheus’ Tod durch seine Mutter Agave (Met. III 511–581OvidMet. III 511–581); den WahnsinnWahnsinn der drei Minyaden (Met. IV 1–54OvidMet. IV 1–54). Sie klagt über viele ungerächte Schmerzen: Es sieht so aus, als ob Jupiters Frau nur die Macht zu weinen hätte26. Bömer meint, „die Klage über die eigene Machtlosigkeit und die stärkere Macht der anderen (posse, potentia, potestas) gehört als Topos zu Reden dieser Art, speziell zu Reden der Iuno“27. Aber Junos Charaktereigenschaft ist nicht nur von hilflosem Weinen geprägt, sondern auch von zielstrebigem Handeln.
Dann spricht JunoJuno einen Schlüsselsatz für die Entwicklung der Passage aus: ipse docet quid agam28 (426). Und was sonst hat Bacchus bis jetzt gemacht, als Kadmos’ Tochter, den Minyaden und den tyrrhenischen Piraten den WahnsinnWahnsinn zu schicken? Wenn es einen Zweifel gab, verdeutlicht Juno selbst ihr Ziel: die Macht des furor zu verwenden (427). Nach Ovid scheint es, dass der Wahnsinn als Bestrafung mit Bacchus geboren wurde und diese Figur den anderen Göttern zeigt, wie sie diese Macht für ihren Vorteil nutzen können. Auffällig ist, dass Ovid nur für den Wahnsinn von Agave, nur für den Tod von Pentheus das Wort furor29 verwendet; für die anderen Fälle verwendet Ovid das Wort insania, indem er den von Cicero vorgeschlagenen Unterschied30 ignoriert. Zum anderen erinnert der Stachel von Vers 430 (stimulus) eher an Io. Die Folgen des furor hat Juno an Pentheus gesehen. Die Frage stellt sich, warum Ino hinter Agave nicht her sein sollte. Bernbeck fragt sich, ob die verborgene Andeutung auf Agave auf den zukünftigen Tod eines der Kinder von Ino hinweist, und er erläutert: „Das wäre ja mehr eine StrafeStrafe für den Sohn als für Ino!“31. Meiner Meinung nach ist es eine deutlich größere Bestrafung für eine Mutter, ihre Kinder unbewusst zu töten, als wenn sie selbst von fremder Hand umgebracht würde.
Merkwürdig ist, dass das letzte Wort von Junos Rede Ino ist. Anderson sagt, dass dies bewirkt, „both to make the speech more sinister and to tease the audience’s familiarity with myth“32. Ovid bezeichnet den Zustand Ios als Wahnsinn, die als erste Sterbliche unter dieser Krankheit33 zu leiden hatte; das lateinische Verb stimulo übersetzt das griechische Verb οἰστράω. In Bezug auf cognata … exempla (430), beteuert Haupt, „in freierer Fassung des Gedankens ist adjectivisch gesetzt, was eigentlich durch den substantivischen Genetivus cognatarum oder sororum auszudrücken war“34. Dieser Forscher erklärt, dass der Ausdruck ire per exemplum bzw. exempla alicuius heißt „seinem Beispiel folgen“35.
Hier gibt es eine Textvariante: In der Handschrift P steht furoribus – diese Leseweise ist m.E. treffend –; das heißt, dass man auf griechisch διὰ μαινῶν verstehen sollte. Die Handschrift N aber bringt sororibus. Dasselbe passiert im Vers 471: furores BMF2gHP (τὸν ̓Αθαμάντα ταῖς μανίαις ἐφελκύσασθαι): sorores NH.
Schließlich könnte Junos Rede in drei Teile gegliedert werden, wie Bernbeck andeutet; jeder Teil entspricht der Struktur von Junos Selbstgesprächen in Aeneis.
a) „Zuerst ein Abschnitt, der auf die bestehende Situation Bezug nimmt“36. Der Leser wird an die Ursache von Junos Bitterkeit erinnert, und ihre Klage steht im Text klar und deutlich; die rethorischen Fragen und die Anrufungen sind üblich. Dieser Teil fehlt in den Metamorphosen.
b) „Dann eine Reihe von mythologischen Beispielen für den Triumph einer Gottheit über ihre Feinde“37 (Met. IV 422OvidMet. IV 422OvidMet. IV 422–425–425). Alle Beispiele bei Ovid beziehen sich auf dieselbe Figur: Bacchus. So rechtfertigt Jupiters Frau ihre Rache an dem Gott. Diese Beispiele haben hier auch ein anderes wichtiges Ziel, nämlich die Erzählung in den Metamorphosen zu bestätigen.
c) „Zuletzt ein Abschnitt, in dem Juno aus den Beispielen die Schlußfolgerung für die gegenwärtige Lage zieht“38 (Met. IV 426–431OvidMet. IV 426–431). Juno spricht aus, wie Recht und Gerechtigkeit näher bei ihr stehen als in den erwähnten Beispielen, in denen die Protagonisten befriedigt wurden.
3’) Der Besuch in der Unterwelt (432–480).
Der römische Dichter präsentiert in dieser Textstelle verschiedene Szenen wie in einem Theaterstück, wo die unterschiedlichen Phasen einer TragödieTragödie bzw. eines Dramas auf einer Bühne dargestellt werden: Zunächst geht es um die handelnden Personen und die Ursache der Beleidigung. Als nächstes folgt die Entwicklung der Handlung, wobei jede Szene schroff abbricht (der Vorhang fällt). Die Handlung beginnt mit Junos Reise zur Unterwelt, fährt fort mit Tisiphones Besuch in Athamas’ Haus; Athamas’ Jagd; Inos FluchtFlucht und SprungSprung. Der letzte Teil bringt die Lösung des Dramas mit Inos und Melikertes’ DivinisierungDivnisierung. Als Anhang wird die Metamorphose der sidonischen Frauen, Inos Gefährtinnen, erzählt.
Der Leser befindet sich in der zweiten Szene der Entwicklung. Dieser Akt ist völlig anders als Allektos Episode in Aen. VIIVergilAen. VII; Hershkowitz sagt es sehr deutlich: „Whereas Allecto is summoned to JunoJuno in the Aeneid, Juno goes to Tisiphone in the Metamorfosis“39. Die Innovation spielt eine herausragende Rolle, denn eine olympische Göttin besucht die Unterwelt; das ist eine ungeheure literarische Revolution. Bömer behauptet, „die Unterweltsszene innerhalb der Athamas-Ino-Geschichte darf trotz mancher durch die Sache gegebener älterer Vorbilder und Parallelen mit großer Wahrscheinlichkeit als eine Erfindung Ovids gelten“40. Sogar in diesem letzten Fall beruft sich Ovid auf eine sehr alte griechische Tradition, die die Unterwelt und den Verstand von Personen, vor allem wenn dieser gestört war, verknüpfte. Padel glaubt, „underworld and mind are parallel habitats, therefore, of Madness, Erinyes, black dreams“41. Dies ist die Verbindung zwischen der Innenwelten der Menschen.
Ovid bricht plötzlich Junos Überlegungen ab und präsentiert dem Leser eine uia. Auf Worte folgen Taten. „Bei Ovid bricht der Monolog einfach ab“42, im Gegensatz zu Vergil43, bei dem es eine Formel gibt, um einen Monolog zu beenden. Dieser Weg führt zur Tiefe des Auernus44. Anderson schreibt: „Ovid begins a brief ecphrasis, in the formulaic manner, with est + noun“45. Dieser Pfad steht im Widerspruch zu dem, der in der ersten Ekphrase zum Himmel führt: est uia sublimis (MetOvidMet. I 168. I 168). Die Eibe wird erwähnt, denn ihre tödlichen Beeren „had a poetic association with the Underworld“46 . Darüber hinaus galten ihre Früchte in der Antike als giftig47, während die dunkle Farbe ihrer Blätter die Unterwelt andeutete. Die Einführung des Auernus in der Geschichte bricht nicht nur Junos Selbstgespräch ab, sondern auch die Erzählung Ovids über Athamas und Ino: Der Leser muss lernen, Geduld zu haben.
Interessant ist Bernbeck zufolge der Vergleich mit Vergil: „An die Stelle der epischen Erzählweise Vergils, der auf die übersichtliche Darstellung des Handlungsablaufs größte Sorgfalt verwendet und ihn gleichsam an einem nie abreißenden Faden weiterverfolgt, tritt bei Ovid ein sprunghaftes Nacheinander zweier unverbundener Szenen“48. Der Forscher hält diesen Abbruch für wenig episch. Anderson stellt auch beide Autoren gegenüber und besteht auf der verschiedenen Sichtweise Ovids hinsichtlich Vergils: „Instead of showing this strange world through the visitor’s eyes and feelings (as Vergil did with Aeneas), Ovid reduces the interest of the setting to its effect on the newly dead“49.
Der Pfad zur Unterwelt hat bei beiden Autoren dieselben Züge, nämlich: Steilheit – Dunkelheit – Ruhe – Schatten – Bleiche – Winter – Dornen – Unwissenheit. Dieser Weg beginnt mit dem Styx, einem kleinen Bach, der nur Nebel verursacht50. Dies ist der einzige Fluss der Unterwelt.
Überzeugend ist Padels Assoziation zwischen den Wildbächen der Unterwelt, der Dunkelheit und dem Wahnsinn: „In the mind which answers to Hades’ rivers is the dark inner flow of passion“51. Dieser Fluss „receives an epithet usually reserved for the calm, ‚dead‘ waters of the Cocytus“52, nämlich iners; auf dieser Linie bleibt auch Bömer, der erklärt: „Das Epitheton iners widerspricht der klassischen Vorstellung von den Wassern der Styx … und bezieht sich in Wirklichkeit auf den Kokytos, der zusammen mit dem Pyriphlegethon als ein Arm der Styx genannt wird (seit Hom. OdHomerOd. X 514. X 514) und in den Acheron fließt“53.
Der Weg aber ist nicht menschenleer. Eine große Menge von Manen, von Bildern54 läuft zur riesigen stygischen Stadt. Da sie neu sind, heißt das, dass sie diese Pfade nicht kennen und nicht wissen, wohin sie gehen müssen. Bernbeck kritisiert den Ausdruck simulacra functa sepulcris: „Diese Wortverbindung ist logisch nicht ganz einwandfrei“55, denn man begräbt tote Körper und nicht ihre Schatten. Haupt meint, Ovid beziehe sich auf jene, „die die Bestattung durchgemacht haben“56. Bömer interpretiert ihn folgendermaßen: „Totenseelen, die das Grab hinter sich gebracht haben“57. Meiner Ansicht nach handelt es sich nur um eine Metapher für Personen, die ihre Trauerfeier schon bekommen haben; dieser Meinung ist auch Anderson58. Übertrieben ist m.E., dass Bernbeck in Bezug auf diesen Ausdruck und den von umbrae recentes (434) schreibt: „Ovid hat in beiden Ausdrücken die epische Stilhöhe verlassen“59; Bömer übt Kritik an Bernbeck und beteuert „seine Ausführungen über die di Manes als ‚den unsterblichen Rest von Verstorbenen’ sind falsch …, bei Verg. a. O. sind die manes fere i. q. ‘ossa’ (Thes. VIIIPlutarchThes. VIII 299,50ff.)“60.
Nachdem Ovid den Pfad beschrieben hat, beschäftigt sich der Dichter mit dem Ziel der Reise, nämlich der Stadt von Auernus, denn „die eigentliche Unterwelt stellt Ovid als eine Stadt dar“61. Es scheint, dass es für diese Darstellung kein früheres Muster gibt62. Bömer meint, „die Epitheta niger … und ferus … sind in den Vorstellungen von der Unterwelt (Pforte, Palast, Reich u. dgl.) austauschbar“63. Nach Bernbeck „ergibt sich ein Tartarusbild ohne allen Schrecken und Schauder“64; diese Behauptung ist m.W. falsch, weil Ovid nicht den Anspruch hat, den Leser zu erschrecken, sondern Junos Reise zur Unterwelt darzustellen. Vielleicht hat dieser Forscher diese Hölle mit der christlichen, die ja Angst und Erschütterung verursacht, verwechselt. Die klassische Unterwelt ist eine Wohnung, ganz anders als die auf der Erde, aber darum nicht besser oder schlechter, weil man die Schatten mit den leibhaftigen Personen nicht vergleichen kann. Dieses Wort Dis „ist zusammengezogen aus diues, wie der griechische Name (Beiname des Αἵδης) Πλούτων von πλοῦτος stammt“65. Haupt fügt hinzu, dass der Reichtum, den die Erde dem Menschen gewährt, in der Antike eine den Menschen vom Hades geschickte Gabe war66.
Die zahllosen Zugänge der Stadt symbolisieren die Öffnung der Unterwelt für alle Menschen: Der Tod hat mit niemandem ein Problem, er nimmt alle auf. Bömer erläutert: „die Unterwelt hat für alle Platz, Hades ist πολυδέκτης“67. Dies ist ein Begriff, der von den Griechen kommt und von alters her gebräuchlich ist. Das Bild des MeerMeeres verstärkt die Idee, dass die Stadt neue Bewohner von überall her aufnimmt, dazu kommt noch ihre riesige, ausgedehnte Geräumigkeit. Genau wie das Meer trotz allen Wassers der darin mündenden Flüsse nie voll sein wird, so wird auch die Stadt der Unterwelt von den Schatten der Toten nie angefüllt sein68. Unmöglich ist, hier nicht an die berühmte Coplas a la muerte de su padre (25–31) von Jorge Manrique zu erinnern:
Nuestras vidas son los ríos
que van a dar a la mar
que es el morir;
allí van los señoríos
derechos a se acabar
y consumir;
allí los ríos caudales,
allí los otros medianos
y más chicos,
allegados son iguales,
los que viven por sus manos
y los ricos.
Natürlich stimmt Ovid mit dem letzten Teil der Strophe überhaupt nicht überein: Der Tod kann im Moment seines Erscheinens alle gleich machen, in seinem Königreich aber nicht.
Dann werden die Einwohner der Stadt dargestellt; die Schatten ohne Körper, ohne Blut, ohne Knochen. Die Leere ist der wichtigste Wesenzug des Todes; es sieht so aus, als gäbe es etwas, aber es gibt nichts. Dem Wort exsangues (443) steht die Beschreibung von Tisiphone entgegen: Nicht nur in ihrer Kleidung (blutbefleckter Mantel) und in ihren Komplementen (blutige Fackel), sondern auch im Gifttrank – überall gibt es Blut. Es ist das Leben und die sich von Blut nährende Macht des Bösen.
Aber leer oder nicht, jeder muss die Pflicht weiter erfüllen, die er auch auf der Erde hatte. Die Rangordnung wird streng respektiert, sogar im Jenseits. Der Tod macht alle ohne Ausnahme im Moment seines Erscheinens auf der Erde gleich; in seinem Königreich bleibt alles, was es war. Bömer erklärt, „es ist eine alte, seit der Nekyia bekannte und verbreitete Auffassung, daß der Tote in der Unterwelt den Beschäftigungen nachgeht, die er auch im Leben ausgeübt hat“69. Und Haupt denkt, Ovid „folgt auch Platon“70 in dieser Ansicht. Ovids Text ist überhaupt nicht revolutionär. Der Ausdruck imi tecta tyranni (444) „is clever, but hardly a subversive allusion to Augustus“71; Augustus lebte eigentlich nie in einem Palast, denn die Domus Augustana et Flauia auf dem Palatin wurden von seinen Nachkommen erbaut. Bömer erläutet, „das wäre wenigstens endlich einmal ein handfester Affront gegen den Kaiser“72 und sicher ist, dass Ovid kein Problem mit dem ‚Pater Patriae‘ haben wollte.
Juno setzt sich in Bewegung. Wie Bernbeck richtig sagt, unterbricht die Beschreibung der Unterwelt die Handlung unserer Geschichte: „Für volle 15 Verse bleibt der Leser im Unklaren, was Juno tut und was mit Ino geschieht“73. Zum ersten Mal beschreibt ein Schriftsteller den Besuch einer olympischen Gottheit in der Unterwelt; bis jetzt hatten entweder nur die Boten der Götter oder die Helden diesen Wohnort betreten. Dies ist m.W. die wichtigste Neuerung von Ovid in Bezug auf Homer und Vergil: Beide lassen einen Helden (Odysseus – Aeneas) zur Unterwelt hinabsteigen; Ovids Text übertrifft alle, denn er lässt eine Göttin – und was für eine Göttin, Jupiters Frau! – die Unterwelt betreten. Ovid spricht eine deutliche Botschaft aus: Um das Übel zu provozieren, muss man die Grenze der ‚Normalität‘ überschreiten.
Juno kommt in ‚die den Göttern verbotene Stadt‘, weil sie ein klares Ziel hat: Athamas und Ino den WahnsinnWahnsinn zu schicken. Bernbeck erklärt, warum Juno so deutlich die Erwartungen des Lesers übertrifft: „Als unsterbliche Wesen und Inbegriff des Lebens haben die Götter nichts mit der Welt der Toten gemein, und daher erscheint es unvorstellbar, daß sie das Reich des Todes betreten könnten“74. Darüber hinaus stellt die Unterwelt nicht nur eine Art von den Göttern ‚verbotener Stadt‘ dar, sondern diese müssen sogar vermeiden, in Kontakt mit den Göttern der Unterwelt zu treten: AtheneAthene betritt das Haus des NeidNeids nicht (Met. II 766–767OvidMet. II 766–767) und Ceres kann den Hunger nicht begleiten (Met. VIII 785OvidMet. VIII 785)75.
Letztlich liegt Ovids Wagemut in der Reise zur Unterwelt selbst, nicht im Gespräch mit den Erinnyen. In der Tat präsentiert auch Vergil Juno, indem sie mit Allekto direkt spricht, ohne Mittelsperson; JunoJuno aber steigt nicht zur Unterwelt hinab, sondern sie ruft Allekto von der Erde aus, damit die Rachegöttin aus dem Tartaros heraufkommt. Für die Römer konnte keiner der superi in die infera hineingehen. Allerdings waren allen die mit der Unterwelt verknüpften Beinamen von Juno und JupiterJupiter bekannt; Bömer erklärt, „wo [wir] im römischen Bereich etwa Iuno inferna oder Iuppiter Stygius begegnen (II 261), handelt es sich um poetische Konstruktionen oder Vorstellungen der Griechen“76. Nach ihm hatten die Griechen seit Aristophanes’ Die Frösche kein Problem damit, dass ein olympischer Gott in die Unterwelt ging.
Der Anlass der Reise wurde von Ovid selbst ausgesprochen: odia et irae (448). Der HassHass führt unabänderlich zur Hölle. Bömer beteuert, „odia et irae werden hier ohne Rücksicht auf philosophische Differenzierungen (Cic. Tusc. IV 21CiceroTusc. IV 21 odium ira inueterata: Chrysipp. Frg. 397f. SVF III 96fChrysipposFrg. 397f. SVF III 96f von Chrysippos .) poetisch zu einem Hendiadyoin, dem die inhomogene, vielleicht nur äußerlich zur Vermeidung der Synaloephe gewählte Verbindung (IV 341) von Plural und Singular einen besonderen Reiz verleiht“77. Junos Anwesenheit in der Unterwelt ist die fabelhafte Weise, die Ovid gefunden hat, um die ‚Größe‘ des Hasses von JunoJuno zu zeigen: Sie ist zu allem fähig, um ihr Ziel zu erreichen, sogar den Weg und den Ort zu betreten, die kein anderer olympischer Gott vor ihr betreten hatte. Schließlich entspricht die Reise von Jupiters Gemahlin in die Unterwelt dem Maße ihres Hasses und ihres Zorns: Die sind so groß, dass sie die kosmische Ordnung zu brechen wagen.
Daraufhin bereitet Ovid den Leser auf Junos Rede vor, und zwar durch aufeinander folgende Geräusche von Stimmen, die ihre Ankunft hervorruft. Zunächst ächzt die Schwelle, wie auch Charon seufzte, als Aeneas in das Boot stieg78. Im Gegensatz zu den Schatten der Toten ist Juno nicht gewichtlos. Mit diesem Bild vergleicht Ovid zwei Szenen: genau wie sich die Schwelle der Unterwelt unter Juno bog, so werden Ino und Athamas’ Flügeltore aus Ahorn vor dem Erscheinen von Tisiphones erblassen. Der Unterschied liegt darin, dass die Erinnyen die Göttin erkennen, aufstehen und Juno entgegengehen; Ino und Athamas aber fliehen entsetzt vor Tisiphone.
Dann bellt Kerberos79 mit seinen drei Mäulern einstimmig80. Merkel zieht die Lektüre von λ3 hinzu: simul. Bei Vergil spielte Kerberos eine bestimmte literarische Funktion: Die Sibylle musste ihn durch eine Honigtorte und mit Zauberkraut ablenken81; bei Ovid, „hat der Vorgang … keine dramaturgische Bedeutung, Iuno nimmt auch von den tres latratus keine Notiz“82. Es sieht so aus, als ob dieses Bild ein Tribut an die Tradition sei83. Zuletzt ruft Juno die Erinnyen.
Der Leser kommt nun zu einem besonderen Ort, dem Kernpunkt der Unterwelt. Vergil84 hatte den Tartaros als eine Befestigung beschrieben, wo Tisiphone (555) war. Aeneas konnte diesen eigentlich nicht betreten (563), denn er war eine reine Person; Juno, die eine olympische Göttin ist, hat trotzdem kein Problem, um das Innerste des Auernus zu betreten. Da sind die aus Stahl85 gemachten Tore, nicht geöffnet, sondern geschlossen, und die Töchter der Nacht86, die Erinnyen, sind ihre Wächterinnen. Bömer erklärt, „diese ‚Pforte der Unterwelt‘ bedeute seit Homer wie die biblischen ‚Pforten der Hölle‘87 zunächst natürlich die Tore selbst, den Eingang, dann aber auch die Unterwelt überhaupt“88. Anderson behauptet seinerseits, „Ovid turns the traditional Tartarus into a Roman prison“89. Ovid vermeidet das Getöse von Ketten, Geschrei und Seufzern, von dem man in Aen. VI 557–559VergilAen. VI 557–559 lesen kann, aber er unterstreicht das Seufzen der Schwelle durch Junos Anwesenheit. Dies hat einen doppelten Grund; die königliche Aura von JunoJuno und ihre Körperlichkeit.
In Bezug auf die Erinnyen ist es möglich, dass sie mit den Κῆρες von Hesiod (ThHesiodTh. 217. 217 )90 zu identifizieren sind. Nach Chadwick und Baumbach könnte dieser Name aus dem Mykenischen91 abgeleitet werden. Bömer erklärt, „als Namen der ErinyenErinyen werden, nicht vor der hellenistischen Zeit, Megaira, Teisiphone und Al(l)ekto genannt“92. Aélion93 fragt sich, ob diese nicht die Personifikation eines abstrakten Begriffes seien; sie wurden eigentlich in grauer Vorzeit als die Seelen von ermordeten Personen, die Rache forderten, betrachtet. Die französische Forscherin denkt, „les Erinyes sont les agents personnifiés qui veillent à l’accomplissement d’une volonté, vengeance humaine ou châtiment divin“94. In den homerischen Gedichten sieht es so aus, als hätten die Erinnyen eine doppelte Funktion, nämlich als Vollstreckerinnen der Rache und als Wächterinnen der Rangordnung; deswegen bestrafen sie den Mord innerhalb der Familie bzw. den Eidbruch. ApollonApollon und AtheneAthene schaffen in Aischylos’ Die Eumeniden die alte Pflicht der Erinnyen ab und geben ihnen dafür eine neue: Sie werden die Garantinnen der Gerechtigkeit und des Wohlstands der Stadt AthenAthen. In der lateinischen Epik wird ihnen Juno einen neuen Auftrag geben: Sie werden die Vollstreckerinnen ihrer Rache. Das geschieht offensichtlich in diesem Mythos, denn weder Athamas noch Ino haben jemanden getötet und weder die kosmische noch die soziale Ordnung gebrochen, als sie Dionysos erzogen haben. Und trotzdem beaufragt HeraHera Tisiphone, ihre Rache durchzuführen. Das ist völlig neu.
Die weibliche Natur der Erinnyen bleibt nicht unberücksichtigt. Padel95 bestätigt, dass der Hades und die Frauen eine unsichtbare und potenziell destruktive Gewalt haben. Aischylos machte sie in dem Stück Die Eumeniden auf der Bühne sichtbar. In der Tragödie Die Weihgussträgerinnen96 konnte nur Orestes sie sehen, als er einen Irrsinnsanfall hatte; im letzten Stück der Trilogie konnte sie aber das ganze Publikum sehen. Aélion meint, „l’horreur vague et mystérieuse d’Homère et d’Hésiode a pris un aspect concret, est devenue un être visible pour tous, presque tangible“97. Die Erinnyen von Euripides sind so subjektiv, dass man nicht wissen kann, ob sie auch zur Wirklichkeit gehören oder ob sie nur eine Redensweise von Orestes sind, um sein Schuldgefühl auszudrücken. Ihr Wohnort ist üblicherweise in der Unterwelt. Auch wenn Megaira vielleicht die bekannteste Erinnye für den modernen Leser ist, machte Vergil doch Allekto im 6. Buch des Aeneis unsterblich; Tisiphone wird auch oft in der späteren Literatur erwähnt.
Zurück zu Ovids Textstelle muss man bemerken, dass die Erinnyen, wie echte Frauen, obwohl sie höllischer Natur sind, nicht damit aufhören können zu tun, was Frauen zu tun pflegen, wie z.B. das Haar kämmen. Hier aber sind die Haare durch gefährliche, schwarzschillernde Nattern ersetzt. Nach Paus. I 28, 6PausaniasPaus. I 28, 6 war Aischylos der erste, der von Schlangen statt Haaren schrieb. Bernbeck kritisiert die Szene: „Dadurch wird auf die Rachegöttinnen ein Zug weiblicher Eitelkeit übertragen, der zu ihrem unheimlichen Wesen nicht passen will“98; jedoch tadelt Bömer Bernbecks Kritik und schließt dies aus, „Damen, die in der Finsternis der Unterwelt ihr Haar kämmen, das aus schwarzen Schlangen besteht, wirken ‚beklemmend‘ genug“99. Padels interessante Überlegung zu der griechischen TragödieTragödie, wenn sie über Lyssa und die ErinyenErinyen im Allgemeinen spricht, ist auch für Tisiphone gültig: „Madness, supremely, is the nonhuman in the human. Madness-daemons are mainly compound, female-cum-animal figures, human and nonhuman“100. So kann man auch die ovidische Tisiphone sehen: eine weibliche, mit Schlangenhaaren beschriebene Figur. Auf jeden Fall erkennen die Erinnyen Juno aufgrund der Nebel und der Überraschung nicht sofort.
Dann schildert Ovid die Behausung, in der der Frevel begangen wurde. Bernbeck sagt, „man erwartet, daß jetzt die Rede auf Ino und die Szene dadurch zu ihrem für die weitere Handlung entscheidenden Höhepunkt kommt. Aber nein!“101; man muss noch Geduld haben und warten. Diese Beschreibung des Auernus war ein Lieblingsthema bei den Dichtern, vor allen bei den Alexandrinern. Den Titel sedes scelarata übernimmt Ovid von Tibul. I 3, 67–68: at scelerata iacet sedes in nocte profunda / abdita, quam circum flumina nigra sonant. Es ist der berühmte τόπος ἀσεβῶν. Tibull war in Messalla verliebt, weswegen er ihr sagt, dass VenusVenus sie nach dem Tode zum Elysium führen wird, wo die Liebe herrscht; die Verurteilten aber werden in diesem sedes scelarata von Tisiphone gequält. Tibull erwähnt Ixion, Tityos, Tantalos und die Danaiden. Ovid fügt – laut Anderson – etwas ausgeklügelter hinzu: „This Sedes is not simply the place of punishment for evil, as in Tibullus, but also the actual seat from which the Furies rise to greet the goddess“102.
Ovid kommt zur Liste der Autoren, die die Namen der bekannten zu unnötigen, sinnlosen Qualen Verurteilten präsentieren. Castiglioni denkt eigentlich, „l’enumerazione delle pene, l’analisi minuta delle sofferenze eterne dei miseri, e il ricordo dei più illustri dannati costituivano un luogo comune“103. Die Namen dieser Unglücklichen finden sich schon in der bekannten Episode von Od. XI 576–600HomerOd. XI 576–600, die ein Echo bei Tibull, Lukrez und Ovid selbst, nicht nur in den Metamorphosen, sondern auch in seinem Ibis haben wird. Sogar außerhalb des Kreises der Dichter wird auch ein Bild von Polygnotos über Tityos in Paus. X 29, 3PausaniasPaus. X 29, 3 beschrieben. Die von Ovid vorgeschlagene Reihenfolge lautet: Tityos, Tantalos, Sisyphos104, Ixion105 und die Danaiden, die der Dichter Beliden106 nennt. In diesem Werk aber, etwas später (MetOvidMet. X 41–44. X 41–44), wird Ovid folgende Reihenfolge vermerken: Tantalos, Ixion, Tityos107, die Danaiden und Sisyphos. In Ou. IbOvidIb. 173–180. 173–180108 wird die Reihe so dargestellt: Sisyphos, Ixion109, die Danaiden, Tantalos110 und Tityos111. „Bei allen befindet sich Tisiphone in unmittelbarer Nähe“112.
Dann geht Juno vom Auge zur Zunge. Sie beginnt ihre Rede, die dem bitteren Selbstgespräch von Verg. AenVergilAen. I 34–49. I 34–49 ähnelt. Juno beklagt sich, dass Sisyphos der einzige Aiolide sei, der unter ewiger Qual leidet; falls es nicht klar genug ist, an wen sie denkt, erwähnt sie nachstehend: Athamas. Er wird zum ersten Mal in der griechischen und lateinischen Literatur als superbus beschrieben; jedoch gibt es keinen literarischen Beleg vom Stolz des Aioliden, wie Bömer bemerkt: „Athamas gilt im allgemeinen nicht als ὑβριστής“113. Man muss annehmen, dass die von Juno bezeichnete Verachtung die Erziehung von Dionysos meint, weswegen auch Ino der Klage hinzugefügt wird. Obwohl Juno von einer Missachtung ihrer Person redet, erwähnt sie nie die echten Gründe ihrer Animosität Dionysos gegenüber.
Der reiche Palast von Athamas zeigt seinen Wohlstand. Mit Bernbeck kann man sagen, dass Junos Worte den Eindruck erwecken wollen, „als ob es ihr mehr um eine Bestrafung des Athamas als der Ino ginge, obwohl doch allein diese ihren Zorn gereizt hatte (420ff)“114.
Ovid bringt nicht den genauen Wortlaut von Juno, wohl aber den Sinn. Sie redet über den Anlass ihres Grolls – der echte Grund ihrer Reise –, von ihrer Absicht: der Zerstörung des Hauses von Kadmos – das hat mit dem Aioliden wenig zu tun – und davon, dass sie Athamas den verbrecherischen WahnsinnWahnsinn sendet. Bernbeck irrt sich m.E., wenn er sagt, „es scheint, als habe Juno ihren ursprünglichen Plan geändert“115 und denke nicht mehr an den bacchischen Wahnsinn. Meiner Meinung nach bezog sich das ipse docet von Vers 426 auf den Wahnsinn im Allgemeinen und nicht auf den bacchischen, wie die Erwähnung der tyrrhenischen Piraten zu bestätigen scheint. Interessant ist andererseits die Abwesenheit von Ino in Junos Forderung; die Göttin beruft sich nur auf KadmosKadmos und Athamas, aber es war Ino und ihr Prahlen, die Junos Groll verursachten.
Die Göttin verhält sich als Jupiters Frau (imperium), als olympische Göttin (promissa), und als eine von ihrem Mann verachtete Frau (preces). Das Verb confundit bezeichnet ganz genau die Verworrenheit ihrer von Groll und Hass motivierten Rede. Bernbeck behauptet, „diese Erzähltechnik ist in epischer Darstellung neu“116; in der Epik von Homer und Vergil werden die Reden üblicherweise buchstäblich wiedergegeben. Darüber hinaus benutzt Ovid eine provokante Technik: Er gibt die sekundären Bemerkungen von JunoJuno Wort für Wort wieder, wie z.B. die über Sisyphos, und deutet nur indirekt den Kernpunkt ihres Zornes und ihres Weges an, nämlich die Bestrafung Inos. Auffallend ist Halm-Tisserants Überlegung, wenn sie behauptet: „Conformément au champ d’action qui, dans la pensée antique, délimite les fonctions divines, Héra ne détient pourtant pas le pouvoir d’aliéner directement“117; dies ist der Grund, weshalb sie sich verschiedener Mittelspersonen, und zwar in diesem Fall einer Erinnye, bedienen muss.
Tisiphone anwortet Juno. Bömer erklärt, „die ovidische Gestalt der Tisiphone ist in unmittelbarer Konkurrenz zu Vergils Allecto konzipiert“118, wie in zwei Beispielen bei Vergil zu sehen ist: In der Aeneis bleibt Allekto immer unsichtbar (Aen. VII, 343–345VergilAen. VII 343–345)119 und auch die zu Amata geschickte Schlange kann nicht gesehen werden (Aen. VII 346–353VergilAen. VII 346–353). Ovid inszeniert Tisiphones Angriff auf eine sehr theatralische Weise, indem er die verschiedenen Motive untereinander verstärkt: Schlangen – giftiger Trank – Fackeln in Bewegung. Bömer beteuert, „das vergilische Motiv wird überhöht, variiert und verdoppelt“120. In Euripides’ Herakles gibt es auch eine Szene, die einige Kontaktpunkte dazu hat. Da erscheinen Iris und Lyssa vor Herakles’ Palast; „Iris exprime la volonté d’Héra, Lyssa doit l’exécuter“121. Der Unterschied zu Tisiphone liegt darin, dass Lyssa Heras Befehl ungern durchführt, indem sie auch ihre Sympathie für Herakles, Heras OpferOpfer, zeigt; bei Ovid willigt Tisiphone in Junos Aufforderung sofort ein, ohne sich zu zieren.
Ovid besteht ganz besonders auf der Aufregung wegen ihrer Haare122 und auf den Schlangen, die sie trägt. Anderson sieht in dieser Bewegung, wie „Ovid has wittily adapted a flamboyant move of contemporary Roman speakers“123. Bernbeck aber glaubt, „dadurch klafft zwischen Wesen und Erscheinung der Furie ein Widerspruch und ergibt wieder den Reiz der unangemessenen Vorstellung“124; seine Behauptung ist m.E. ein bisschen übertrieben. Die Erinnye ist direkt: sie braucht keine Umschweife125. Gesagt, getan (facta puta); auf diese Art wird Juno auch mit den sidonischen Gefährtinnen von Ino (Res dicta secuta est, Vers 550) umgegangen sein. Sie ermahnt die olympische Göttin, zur himmlischen Wohnung zurückzugehen; das heißt, sie muss die von ihr selbst gebrochene Ordnung wiederherstellen.
Juno kam zornig zur Unterwelt und sie verlässt sie sehr froh126. Vergil (Aen. I 81; VII 341VergilAen. VII 341VergilAen. I 81) schildert Junos Rückkehr zum Olymp nicht. Wenige Augenblicke gibt es, in denen sich Juno in der römischen Epik zufrieden zeigt; dies ist tatsächlich die einzige Notiz von Freude – ein bisschen böswillig gesagt – im gesamten Text. Nach Anderson, „Ovid must be referring irreverently to the end of Vergil’s epic (AenVergilAen. XII 841–842. 12841–42), where she gained satisfaction from an arrangement with JupiterJupiter (not the Furies) for the future of Italy“127. Iris128 wird aufgetragen, Juno vor ihrem Eintritt in den Olymp zu reinigen. Ganz ähnlich ist das Bild in Verg. Aen. VI 229–231VergilAen. VI 229–231, „wo nach der Bestattung des Misenus die Gefährten des Aeneas besprengt werden“129. Bernbeck denkt, dass diese Tat nicht dem göttlichen Status von Juno entspricht: „Befleckung widerspricht der Vorstellung der Götter als Inbegriff der Reinheit“130; Ovid vermischt Elemente der menschlichen Welt mit denen der göttlichen. Meiner Ansicht nach ist diese Bemerkung ein kleiner Tribut von Ovid an die Tradition, die die Unterwelt für die olympischen Götter unzugänglich sein ließ; jedenfalls muss Juno gereinigt werden, wenn sie zurückkehrt, denn sie hat einer Regel zuwidergehandelt und die Unterwelt hat sie beschmutzt.
Über Junos descensus zur Unterwelt ist viel geschrieben worden. Es scheint eine Erfindung von Ovid zu sein, wie in der Einleitung gesagt worden ist, aber Castiglione behauptet, „Nonno non manca di accenni speciali che potrebbero indurre a credere che in un modello anteriore si svolgesse un’azione simile all’ovidiana“131. Ovid ahmt Vergil in der Beschreibung der Unterwelt nach; allerdings besteht der innovative Charakter von Ovid darin, dass eine olympische Göttin, nämlich Jupiters Frau Juno, zur Unterwelt hinabsteigt und dieser descensus sich in Athamas’ Mythos befindet, etwas, das niemand früher beschrieben hatte. Beide Autoren, Vergil und Ovid, werden von Nonnos132 nachgeahmt, wenn HeraHera sich in die Unterwelt begibt, um Persephones Hilfe zu erbitten, damit diese die Erinnyen gegen Dionysos schicke und die mutlosen Inder unterstütze133. Obwohl es Unterschiede gibt134, ist der modus operandi der gleiche und sind die Ähnlichkeiten in beiden Texten reichlich vorhanden, wie z.B. die Betonung der vipernhaften Wildheit beider Erinnyen, die Andeutung ihres Giftes und der von ihnen verursachte Wahnsinn.
Nur seiner Merkwürdigkeit wegen sollte Viarres Vorschlag präsentiert werden, denn dieser Gelehrte interpretiert das Hinabsteigen aus einer magischen Perspektive: „Nous avons vu le contexte magique: l’obscurité … la préparation de Tisiphone et le rite de magie sympathique sur lequel s’achève son rôle …la descente dans le silence … le Styx, les ombres, Pluton, Cerbère, les Erynies; les habitants des Enfers avec leurs traditionnelles occupations reprises de la vie … les grands coupables, Ityos, Tantale, Sisyphe, Ixion, les Danaides“135. Dies ist m.E. eine weit hergeholte Lesart von Ovids Textstelle136.
4’) Tisiphone greift Athamas und Ino an (481–511).
Tisiphone zögert nicht, wie Allekto (Aen. VII 341VergilAen. VII 341), und erfüllt ihr Wort sofort. Der ZornZorn von Vergils Juno benutzt Allekto, um den Krieg gegen die Trojaner in Italien zu beginnen137. Anderson aber glaubt, „Tisiphone simply ruins an innocent family of typically unheroic Ovidian victims, not significant epic personalities like Vergil’s Amata and Turnus“138. Wie man deutlich sehen kann und wie schon gesagt worden ist, wird der in der Epik üblicherweise präsentierte Einsatzbereich der Erinnyen geändert: „Relationships bonded by blood or promises are the Homeric Erinys’s sphere“139. Dieser Rolle der Eumeniden bei Homer wird eine andere hinzugefügt: Sie sollen darüber wachen, dass der Fluch gegen eine andere Person erfüllt wird140. Es gehört auch nicht zur TragödieTragödie des 5. Jh. v. Chr., dass die Erinnyen einem Menschen den WahnsinnWahnsinn schicken, damit er ein Verbrechen begeht141; üblicherweise ist es umgekehrt, wie das Beispiel von Orestes zeigt: Die Erinnyen foltern ihn mit Wahnsinn, weil er das Blut seiner Mutter vergossen hat142.
In den Metamorphosen wird aber weder eine Familienverbindung zestört noch die Gegenwart der Erinnyen angerufen, im Gegenteil: Tisiphone verursacht, dass ein Vater seinen eigenen Sohn umbringt. Das ist, wie schon angedeutet worden ist, eine absolute Revolution der bis dahin bekannten Funktionen der Erinnyen. Selbstverständlich heißt das nicht, dass Ovid diesen Begriff erfunden hat; hier wird nur angemerkt, dass die Erinnyen diese Rolle in den frühesten Etappen der griechischen Literatur nicht immer hatten: Sie wurde nach und nach im Laufe der Zeit eingeführt.
Tisiphone bereitet sich darauf vor, das Haus zu verlassen, „wie wenn sich eine römische Matrone zum Ausgang rüsten würde“143. Sie trägt den Mantel, in diesem Fall aus flüssigem Blut, und den Gürtel, in diesem Fall aus Schlangen144. Die blutige Fackel erhellt den dunklen Weg bis zur Welt der Lebendigen; diese Fackel gehört, wie die Schlangen, eigentlich zu der gewohnten Ikonographie der Erinnyen145. Möglicherweise wandelte sich die Fackel von einem Reinigungsmittel zu einem Folterinstrument aufgrund des von der Unterwelt geprägten Bildes der Folter.
Tisiphone tritt nicht allein heraus. Ein besonderes Gefolge begleitet sie: Luctus, Pauor, Terror, Insania. Bernbeck denkt, „er benutzt die Anregung Vergils zur Ausgestaltung einer theatralischen Prozession von Allegorien des Schreckens“146; Bömer aber glaubt, „Hesiod hat mit seinen Genealogien die gesamte antike Dichtung beeinflußt“147. Trauer gehört tatsächlich zu den sidonischen Frauen; Schrecken und Angst sind die ersten Wirkungen von Tisiphones Gegenwart auf der Erde; Irrsinn ist die letzte Auswirkung ihres Besuchs in Athamas’ Haus. Merkwürdig ist, dass nicht Furor, sondern Insania148 in all diesen Personifikationen von abstrakten Begriffen erwähnt wird. Normalerweiser ist es Pauor, der Hand in Hand mit verschiedenen Übeln geht, wie es bei Seneca (HFSenecaHF. 690–695. 690–695: Sopor, Fames, Metus …) bzw. bei Valerius Flaccus (II 204–206Valerius FlaccusVal.Flac. II 204–206: Discordia, Dolus, Rabies …) der Fall ist. Bömer hebt hervor, „Terror erscheint als Personifikation hier zuerst in der lateinischen Dichtung“149.
Padel weist treffend darauf hin, dass die Erinnyen, und in diesem Fall Tisiphone, ein riesiges Waffenlager haben (Schlange, Fackel, usw.), um den Wahnsinn einzuflößen. Allerdings, „their essential weapons are the victims’s feeling: madness, terror, nightmare, fear“150, das heißt, die Gottheit benutzt die den Menschen eigenen Gefühle, innersten Emotionen und Leidenschaften gegen sie selbst. Auf jeden Fall erscheint keine dieser Personfikationen während des Angriffs von Tisiphone auf der Bühne. Bernbeck kritisiert Ovid sehr stark – meiner Meinung nach allzu sehr – und sagt, „sein Interesse gilt in erster Linie den Augenblickswirkungen“151. Andersons Meinung ist schon eher zu folgen, nämlich dass alle diese Personifikationen eine bestimmte Funktion haben, obwohl sie nicht wörtlich expliziert werden: „Grief will desolate both Ino and her parents and eventually Terror (cf. 488–89) will be the immediate result of this demonic band; and Madness will carry out the purpose articulated by JunoJuno at 471“152.
Die Erinnye kommt unverzüglich ins Haus des Athamas und bringt dem Aioliden und seiner Frau den Wahnsinn. Ovid stellt den Irrsinn selbst nicht dar, wie etwa Euripides in einer Szene des Herakles; bei Ovid wird nur die Induktorin des WahnsinnWahnsinns präsentiert. Die Botschaft ist in beiden Fällen dieselbe: Der Wahnsinn kommt nicht aus dem Inneren des Menschen, sondern „madness is something external, invading, daemonic, autonomous“153.
Ovid verwendet eine epische Zeitkontraktion: „Schon steht (I 609) Tisiphone auf der Schwelle des Palastes in ThebenTheben“154. Die Schwelle des Palasts imitiert die Gegenwart derjenigen, die sie betritt: die Pfosten zittern und die Flügeltore aus Ahorn „perdent l’éclat que leur a donné la main de l’ouvrier“155. Es gibt eine gewisse Personifikation der Tore, die – infolge des Schreckens – wie ein menschliches Wesen erbleichen156. Dieses Erblassen der Tore aus Angst „ist ein bekanntes Motiv („die Umgebung reflektiert die Natur der Gottheit“)“157. In der Tat erinnert die Farbenänderung an die Liebeselegie, „wo die Tür oft über den schlechten Lebenswandel der Hausherrin klagt“158. Der Glanz ist so stark, dass sogar die Sonne verschwindet. Anderson betont, die „absolute opposition between the Sun and this creature of the Underworld, daughter of Night“159. Das Verbleichen und die FluchtFlucht der Sonne deuten im Voraus Athamas’ und Inos Blässe aus Angst und ihre Flucht durch das Dach an.
Ino und Athamas spüren die Anzeichen des kommenden Schreckens und versuchen zu fliehen. Tisiphone160 blockiert alle Ausgänge und schickt ihnen die Schlangen ihrer Haupthaare. Das Bild ist entsetzlich: Athamas und Ino werden umzingelt, angegriffen, von Schlangen bedeckt. Diese spucken ihr verdorbenes Blut und züngeln laut zischend. Dies verursacht eine alle Sinne durchdringende Angst. Ovid verwendet für diesen besonderen Begriff das Verb coruscant (494), wie Anderson erklärt: „He takes a verb that is usually transitive and much-used by Vergil to describe the brandishing of weapons, but intransitively refers to the flickering light of things, and applies it to the … movement of the reptile tongue“161; in der Tat wird Ovid dieses Verb nirgendwo weiter benutzen. Seinerseits wird Nonnos das Geräusch der Schlangen in seiner Beschreibung erweitern162. Die Nattern aber haben nur die Funktion, Angst zu machen und das Ehepaar festzubinden.
Tisiphone wirft anschließend zwei Schlangen, die Athamas und Ino nicht außen, sondern innen beschädigen sollen. Es gibt keine äußerliche Wunde: mens est, quae duros sentiat ictus (499)163. Wie in den Fasten (VI 493–494)OvidFast. VI 493–494 wird nicht nur Athamas, sondern auch Ino vergiftet. In dieser Beschreibung der Metamorphosen hat man den Eindruck, dass Vergil (Vgl. Aen. VII 350–356VergilAen. VII 350–356) wieder einmal Ovids Vorbild ist. Sowohl der Genitiv von Inos Name (Inoos) wie der von Athamas (Athamanteos) sind ungewöhnliche Bildungen. Inous kommt auch in Met. III 722OvidMet. III 722 und in AA. III 176OvidAA. III 176164 vor. Es scheint, dass Vergil der erste ist, der inVergilG. I 437G. I 437165 so schreibt. Athamanteos erscheint so zum ersten Mal in der lateinischen Literatur; es könnte eine ovidische Erneuerung sein. Andere Autoren haben diese Form danach auch verwendet, wie Statius166 und Martial167 .
Und damit nicht genug hat Tisiphone ein starkes, flüssiges Gift mitgebracht; Vergil begnügt sich mit der Wirkung der Schlangen von Allekto. Diese Szene ist nach Bömer eine „barocke Übertreibung …, sowohl im Ausdruck als auch in der Vorstellung“168. Haupt meint ebenfalls, „die Hervorhebung und Schilderung des Grausigen entspricht dem alexandrinischen Charakter der ovidischen Poesie“169. Halm-Tisserant glaubt, „l’interprétation que le poète latin offre de l’épisode (500–509) retient l’intérêt, parce que ne laissant pas vraiment place à la mania, elle associe la démence à la magie“170. Tisiphone erreicht ihr Ziel mit Hilfe von Drogen. Ovid trägt die Verschreibung dieses Gebräus nach dem hellenistischen Verständnis vor; Bömer bemerkt treffend: „In Wahrheit sind die im folgenden genannten uenena durchaus nicht alle liquida“171.
Der Schaum zeigt den WahnsinnWahnsinn an, obwohl er ein den Epileptikern zugehöriger Hinweis ist. Der scheußliche Geifer Echidnas deutet auf ihren fabelhaften Ursprung „à moitié jeune fille et à moitié serpent“172 hin; aus ihr und Typhon wurde Kerberos geboren. Der herumschweifende Wahn und die Verstörung der verblendeten Sinne, zusammen mit dem Vergessen, gehören zum furor. In der Mordlust und in den Tränen mischen sich Ursache und Wirkung. Das frische Blut belebt und verstärkt das Gift. Der Schierling ist das Gift par excellence jener Zeit. Das Gebräu wurde Anderson gemäß wie bei den Hexen gekocht und mit frischem Schierling verrührt. Dieses Gift wird Bernbeck nach ausführlich beschrieben, „weil die Bestandteile eine wesentliche Vorstellung von seiner Wirkung vermitteln“173. Bömer behauptet, indem er diese uenena mit Tisiphones Begleitung vergleicht: „Diese Phantasie greift an unserer Stelle sehr viel kühner aus als bei den üblichen Konkretisierungen abstrakter Begriffe, die im allgemeinen auf Personifikationen hinauslaufen, für die es zahlreiche Vorbilder gibt (IV 484ff.), und daher leichter vorstellbar sind als diese „neutralen“ oder „unpersönlichen“ Konkretisierungen“174. Athamas‘, nicht Inos Geist wird verwundet; sein Leib wird davon nicht berührt. Wie Cicero schreibt175, werden Seele und Leib unterschieden; der Wahnsinn, vor allem, der furor, gehört zur Seele, nicht zum Leib.
Es gibt eine andere Variante für den Vers 506, die eine bestimmte von Anderson vorgeschlagene Interpretation gestattet oder verhindert: uergit o uertit. Anderson nimmt das zweite Wort176 in Teubners Ausgabe an und meint, man solle hier den Kernausdruck der Metamorphose sehen: uertere in + Akkustiv. Er erklärt dies so: „But instead of saying the Fury turned their hearts into poison, he says that she turned poison into their hearts“177. Diese Deutung ist m.E. falsch, auch wenn die Lektüre uertit angenommen wird. Die Verwandlung, auf die Ovid im Mythos von Athamas hinweisen will, ist die von Ino und Melikertes in Götter und die der sidonischen Frauen in Standbilder aus Stein bzw. in Vögel. Meiner Meinung nach ist es nicht zutreffend, dass Ovid sich Athamas’ Wahnsinns-Prozess als eine bleibende Veränderung vorstellt. Die Prozesse sind irreversibel, Athamas’ Wahnsinn aber ist, im Prinzip, nicht für immer verhängt. Darüber hinaus haben die Metamorphosen bei Ovid eine physische Verwandlung zur Folge und dies ist bei Athamas nicht der Fall.
Bömer erklärt, dass furiale uenenum (506) „die faktitive Bedeutung ,ad insaniam compellens‘“178 hat. Das Gift wirkt in pectus, denn da ist der Sitz der Vernunft und der Gefühle des Menschen. In Verg. Aen. VI 472VergilAen. VI 472 wird von praecordia intima gesprochen. Dies ist das Bild des Wahnsinns: Der Irrsinn wird von der Gottheit verursacht – eben wenn sie sich einer Mittelsperson bedient –, aber er wirkt von innen, von den Lebensorganen des Menschen heraus. Dies ist m.W. der im Laufe der Zeit entstandene Kompromiss für das schwierige Dilemma über den Ursprung des WahnsinnWahnsinns: Kommt er von den Göttern oder von einer Fehlfunktion der menschlichen Organe? Padel äußert sich im selben Sinne, „‘Coming from god’ does not have to mean ‘from outside’: daemons are in us as well as outside us“179. Auf jeden Fall hat der Irrsinn seinen Ursprung in der göttlichen Welt, obwohl seine natürliche Ursache leicht erklärbar ist. Schließlich besiegelt Tisiphone alles mit dem Feuer ihrer Fackel (Met. IV 508–509OvidMet. IV 508–509): Tum face iactata per eundem saepius orbem / consequitur motis uelociter ignibus ignes.
Viarre meint, „quant aux émotions humaines qu’Ovide met en rapport avec le feu, elles sont, elles aussi, la plupart du temps, mauvaises et meurtrières“180. Möglich ist, dass Ovid sich von Vergil181 beeinflussen ließ, denn „in der Aeneis stößt Allecto Turnus die Fackel in die Brust und entflammt ihn zu kämpferischem Wahnsinn (VII 456 ff)“182. Anderson aber glaubt, „Ovid’s insistence on literary allusion and on allegory give his scene a distinctly non-Vergilian quality“183. Jedenfalls schließt Ovid Tisiphones’ Eingriff mit dem ersten Mittel aus, nämlich der Fackel aus Feuer, die sie aus der Unterwelt mitgenommen hatte.
Obwohl Ovid sich nicht so sorgfältig wie Vergil um die Gesamtheit des Werkes und die Harmonie der Teile kümmert, sind Bernbecks Behauptungen m.E. ein wenig übertrieben: „Um die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten der Ökonomie und der Zweckmäßigkeit für die Handlung ist er unbekümmert. Die Hauptsache ist ihm die bildhafte Anschaulichkeit der Einzelvorstellungen“184. Meiner Ansicht nach hat Ovid ein anderes Interesse und eine andere Erzählart, die als unzusammenhängend betrachtet werden könnte, die aber einen großen Vorteil hat: Sie ist sehr anschaulich.
Andererseits ist es seltsam, dass alle Attribute Tisiphones von Blut durchtränkt sind, während Athamas und Ino davon nicht betroffen sind: Kein Blutstropfen des Aioliden bzw. seiner Frau wird vergossen. Man hat eher den Eindruck, dass dieses Blut eine Metapher für das Blut ist, das Athamas vergießen wird, wenn er seinen Sohn tötet.
Tisiphone hat ihr Wort gehalten, sie kommt als uictrix185 zum Königreich von Ditis186 zurück und legt ihre Kleidung ab. Diese Beschreibung gehört eigentlich zur Epik: „Wenn eine Person ihre Mission erfüllt hat, tritt sie ausdrücklich von der Bühne ab“187. Dieser Titel, uictrix, wird auch auf Allekto in Aen. VII 544VergilAen. VII 544 zurückgeführt; der Unterschied liegt darin, dass „Tisiphone returns to the underworld unbidden at 4. 510–11 while Allecto must be ordered to go (AenVergilAen. VII 544–571. 7. 544–571)“188.
5’) Athamas’ Jagd (512–519)
Das Gift tut Wirkung und seine Folgen treten unmittelbar ein. Athamas wird furibundus. Es scheint, dass Athamas’ WahnsinnWahnsinn nach Bömer in die attische TragödieTragödie zurückversetzt werden kann, obwohl dieser Forscher zugibt, „die Fragmente der Tragiker geben keinen Anhaltspunkt“189. Haupt behauptet seinerseits, „eine bestimmte Quelle vom Wahnsinn des Athamas und der Ino (vgl. zu 4, 420) läßt sich nicht nachweisen“190, auch wenn sich einige Züge in Kallimachos’ Werk erkennen lassen191. Dieser letztere Gelehrte denkt, dass das Platzieren des Anfangs von Athamas’ Wahnsinn vor seinem Palast entweder eine Erfindung von Ovid oder, vielleicht, die Kopie eines thebanischen Mythologienhandbuchs sein könnte. Selbst das Motiv der Jagd ist vor Ovid192 nicht ganz sicher; es könnte auch eine Erfindung des lateinischen Dichters sein.
Man befindet sich in Athamas’ Haus – bis jetzt war der Standort der Handlung etwas dunkel – und der Aiolide beginnt Befehle zu erteilen, wie es Pentheus in Met. III 562–563OvidMet. III 562–563 oder Agave in Met. III 713OvidMet. III 713 berichten. Ovid ist der einzige Autor, der die von Athamas gesehenen Tiere als eine Löwin mit ihren zwei Jungen identifiziert hat. Das bedeutet, dass Athamas nicht nur Learchos mit einem Tier verwechselt, sondern auch seine Mutter und seinen jüngeren Bruder, was die spätere Verfolgung von Ino und Melikertes rechtfertigen würde. Zum ersten Mal in der griechischen und lateinischen Literatur werden Ino und ihre Kinder mit einer Löwin und ihren Jungen verglichen193. In Bezug auf dieses Bild könnte man sich auf das berühmte Frg. 1a Kannicht / SnellTragica AdespotaFrg. 1a Kannicht / Snell von Adespota: βρυαζούσης λεαίνης und Lac.Pl. Stat.ThebLactantius PlacidusStat.Theb. I 230. I 230 stützen; es erklärt, der Aiolide leonem se putaui occideret, obwohl es eigentlich sein Sohn war194.
Der Ausdruck uisa est mihi (514) ist, wie Anderson sagt, „a nice example of ironically ambivalent Latin“195: Als Passiv bedeutet es, dass Athamas sie wirklich gesehen hat; mit der Bedeutung ‚So habe ich es gesehen‘ = ‚Es sieht so aus‘ wurde dem Leser ein Hinweis darauf gegeben, was wirklich passiert war. Wenn man aber den Text eingehend analysiert, bemerkt man eine gewisse Ungereimheit in Ovids Versen: Wenn sich die Auswirkung des Arzneitranks unmittelbar (protinus) ereignete, wie konnte Athamas dann sagen, dass er kurz vorher (modo) eine Löwin mit ihren Jungen gesehen hatte?
Dann folgt die Jagdszene. Der Leser erinnert sich sofort an einen sehr ähnlichen Kontext für Aktaion und Pentheus mit seinem tragischen Ergebnis. Aber Athamas verfolgt diesesmal nicht Learchos, sondern Ino; der Grund dafür ist offensichtlich: Learchos kann noch nicht laufen, er ist ein schutzloses Kleinkind. Erwähnenswert ist, dass Ovid das Alter der Kinder von Ino verändert: Wenn Learchos ein Kleinkind ist, ist Melikertes ein Neugeborener. Aber Bacchus ist ein Erwachsener196, was unmöglich ist, wenn man der in Nonnos’ Dionysiaka197 (D. IX 53–91Nonnos von PanopolisD. IX 53–91) überlieferten Tradition folgt, nämlich dass Dionysos und Melikertes gleichzeitig von Ino gestillt worden sind. Die Änderung der Perspektive, und zwar dass Ino und nicht Learchos gejagt wird, „steigert das Ausmaß der Raserei“198.
Eine ähnliche Szene wird bei Nonnos (Nonnos von PanopolisD. X 68–73D. X 68–73) geschildert, aber nicht mit Learchos, sondern mit Melikertes. Dort fleht dieser seinen Vater an; da streckt Learchos, als Kleinkind, seinem Vater die Ärmchen liebevoll entgegen. In Bezug auf die Metamorphosen betont Anderson: „Ovid describes the pathetic actions of the object of the main verb in a series of participial clauses, without revealing the violent verb that nullifies the child’s gestures“199. Seine Grausamkeit ist grenzenlos. Vor den Augen seiner Mutter schwingt Athamas seinen Sohn200 nach Art einer Schleuder201 durch die Luft, bis er dessen Kopf am harten Gesteine zerschmettert202. Es sieht so aus, als werfe er einen Stein, aber es ist nicht so. Das Schwingen in der Luft hatte nur das Ziel, mehr Geschwindigkeit zu gewinnen, um den Stoß am Gesteine noch kräftiger werden zu lassen203. Ovid wird diese Szene im Fall von Herkules und des jungen Lichas wiederholen204; auch Seneca übernimmt diese grausame Darstellung für seinen Herkules, denn dieser Held bringt eines seiner Kinder um, indem er es an einem harten Gestein zerschmettert (Sen. HFSenecaHF. 1005–1007. 1005–1007). Bömer erläutert treffend Ovids Inkongruenz mit dem Begriff ‚Jagd‘, „denn kein Jäger wird es für ratsam erachten, das Junge einer Löwin auf diese Weise zu töten“205.
Zur Grausamkeit des Aioliden – es ist das einzige Mal, dass Learchos’ Tod so beschrieben wird – kommt noch das zarte Kindesalter von Learchos hinzu: Dies macht Athamas’ Tat noch erbamungsloser. Und als ob das nicht genug wäre, streckt das Kind seinem verbrecherischen Vater die Arme lächend entgegen, eine Szene, die, wie bereits erwähnt, Melikertes’ Tod bei Nonnos beeinflussen sollte206. Weil Learchos ein Kleinkind war, konnte Athamas möglicherweise nicht die Pfeile verwenden. In dieser Textstelle wird Athamas als furibundus (512), amens (515) und ferox (519) angesehen.
6’) InoIno und MelikertesMelikertes’ FluchtFlucht (519–530)
Ovid präsentiert eine sehr realistische Meinung: Ino wird wahnsinnig, wahrscheinlich aufgrund des Giftes von Tisiphone; aber welche Mutter würde nicht halbverrückt angesichts einer solchen von Ovid geschilderten Darstellung, nicht tief verstört aus Angst und Schmerz, nicht umnachtet vor der geschauten Szene? Dieser Meinung ist Bernbeck: „Sie verhält sich daher zunächst nicht anders, als man von einer Mutter, die der Ermordung ihres Kindes zusehen muß, erwarten kann“207.
Ino flieht, wahnsinnWahnsinnig geworden. Das Geschrei, die ungeordnete Flucht, die fliegenden Haare208 sind physische Hinweise einer Störung ihrer Vernunft. Der Aufschrei könnte eine Äußerung ihres aufgeregten Zustandes sein, aber „it can also prepare us for her Bacchic fantasy“209. Bei Seneca (HFSenecaHF. 1009. 1009) flüchtet Megaira furenti similis, nachdem Herkules seine zwei Söhne getötet hat. Ino trägt sein Kind auf ihren Armen. In der Tat gibt es eine doppelte Bewegung in Hinblick auf Inos Arme: Derjenige, der aus dem mütterlichem Schoß herauskommt, stirbt auf ewig; derjenige, der in ihm bleibt, stirbt auch, aber um für ewig zu leben.
Das Geheul von Vers 521 wird in Vers 523 artikuliert: Euhoe, Bacche!; sie erinnern den Leser an Verg. Aen. VII 389VergilAen. VII 389. Es ist ein Hinweis nicht nur auf die Erziehung dieses Gottes durch Ino und die Verehrung, die er von seiner AmmeAmme bekommt, sondern auch auf den Irrsinn, der sie überwältigt. Im Gegensatz zu Athamas’ Wahnsinn hat der von Ino bacchische Zeichen, über „die nach der Tradition nur Bacchus verfügte“210. Bömer erläutert das, indem er sagt, „die SageSage gehört in den dionysischen Kreis“211. Wichtig ist zu bemerken, „the cry to Bacchus in 523 … comes from an insane woman, not from the once-proud aunt“212. Wie Ino sich um Bacchus kümmerte, als er ein Kind war, muss sie nun sterben, wenn Melikertes noch ein Kleinkind ist.
Bernbeck glaubt, dass, „Ovid wieder die beiden Motive dolor und uenenum miteinander vermischt“213. Tisiphones Gift verursacht aber nicht m.W. einen bacchischen Irrsinn, wie der deutsche Gelehrte behauptet214. Der Wahnsinn, der sowohl durch das Gift als auch durch den grausamen Tod ihres älteren Sohnes ausgelöst wurde, äußert sich m.E. in bacchantischer Art und Weise215. Diese Anrufung, die Ino für ihre Ermutigung und ihre Rettung ausspricht, veranlasst das sarkastische Lachen von Juno: Möge dieser Gott mit ihr verfahren, wie sie es mit ihrer Schwester Agave machte, nämlich dass die Mutter ihren Sohn tötet.
Ovid platziert Ino plötzlich auf dem Gipfel eines Felsblocks, genauso wie er blitzartig den Weg zur Unterwelt präsentiert hatte. Der Dichter beschreibt wunderschön den Felsvorsprung, der über das Meer ragt, wie ein Sprungbrett zum Tode. Das felsige Gelände gilt als ein Dach, das die Wellen vor dem Regen abschirmt. Anderson glaubt, diese Andeutung, „distracts us from the plight of Ino and son“216. Meiner Meinung nach will Ovid mit den Göttern des Himmels und des Wassers spielen: Der Felsblock, von dem Ino springen wird, wird Leukothea, eine Seegöttin, vor HeraHera, einer olympischen Göttin, beschützen. Auf jeden Fall scheint es m.E. nicht so, dass dieses Bild „die Stimmung der Szene spielerisch umschlagen läßt“217.
Ino kommt bis zu diesem Ort dank der Kraft, die insania (528)218 ihr verleiht. Juno war zum tiefen Auernus gegangen, als sie von Hass und Zorn angetrieben war; Ino erreicht den Gipfel der Felswand, weil der WahnsinnWahnsinn sie treibt. Tisiphone handelt unverzüglich, wie auch Ino: Sie springt ohne Angst. Der Unterschied zu Nonn.Nonnos von PanopolisD. X 80–121 D. X 80–121 ist groß, weil Ino in dem griechischen Gedicht nicht nur mit dem Sprung zögert, sondern eine lange und pathetische Rede hält, bevor sie sich ins MeerMeer stürzt. Dass Ino nicht zögert, mit Melikertes zu springen, könnte m.E. durch den gewalttätigen Mord von Learchos durch seinen Vater Athamas veranlasst sein: Man muss schnell agieren, es gibt keine Zeit für Zweifel. Ovid deutet die Etymologie von Leukothea mit Blick auf das Weiße – angeblich des Schaums –, das Ino aufnimmt. Anderson meint, „the narrator coolly looks at the way the water grows white with foam when the bodies strike it, but he refuses to waste feeling on the tragic souls“219.
7’) Inos und Melikertes’ DivinisierungDivnisierung (531–542)
Ovid setzt auf die Großeltern, um die Enkelkinder zu beschützen220. So geschieht es im dritten Buch für Pentheus221; nun ist es VenusVenus, die für ihre Enkeltochter Fürbitte einlegt222. Venus’ Eingriff aber „ist gegenüber der Überlieferung neu“223. Der Grund ist klar: Von der Göttin heißt es: inmeritae neptis miserata labores (531), weswegen es möglich ist, dass ein positives Bild von Ino gezeichnet wird224. Bernbeck sagt, dieser Bitte, die der Divinisierung vorhergeht, folgt der Darstellung epischer Tradition225.
Das Problem liegt darin, dass Ovid einen Anlass finden muss, dass sie sich für Ino einsetzt; Bernbeck denkt, dieses Motiv „besteht in der leiblichen Verwandtschaft“226. In der Tat bleibt alles im Schoße der Familie, weil VenusVenus ihrem väterlichen Onkel Neptun schmeichelt. Anderson schreibt eine interessante Anmerkung über diesen Gott: „Neptune intervened against Juno, of his own accord, in the storm of Aen. 1 and, in response to Venus’ appeal, in Aen. 5779 ffVergilAen. V 779“227. Neptuns Rolle als ‚Divinisierer‘ von Ino und Melikertes ist absolut neu. Aristides hatte schon Poseidon mit Leukothea in Verbindung gebracht, obwohl Aristides ihre Identiät mit Ino bestreitet228.
VenusVenus bittet Neptun direkt, Erbarmen zu haben229 und sie als Seegötter aufzunehmen. Dies ist tatsächlich die erste physische Metamorphose der Erzählung. Anderson denkt, das Verb iactari „implies that she and her son are still alive, tossed on the waves“230. So weit darf man nicht gehen: Ovid bezieht sich m.E. ganz einfach auf Inos Sprung.
Der lateinische Dichter lokalisiert den SturzSturz dank des ionischen MeerMeers, das „der südliche Teil des Adriatischen Meeres“231 ist. Anderson behauptet treffend, „it may be better to allow Ovid to be poetic and vague than to argue that Ino made it down to the Corinthian Gulf and that Ovid conceives of that body of water as part of the Ionian Sea“232; dieser Meinung ist auch Haupt233. Bömer äußert sich sehr ähnlich: „Es ist aus diesen Worten nicht zu ersehen, ob Ovid (oder seine Quelle) eine bestimmte Stelle, genauer: den Korinthischen oder den Saronischen Golf gemeint hat“234. Wenn man eine konkrete Angabe sehen will, wird angenommen, „daß er tatsächlich die Nordseite des Isthmus gemeint hat, die zum mare Ionium führt („Korinthische Version“)“235; das steht der megarischen Version, die auf den Molurischen Fels hinweist, entgegen. Andererseits verhindert Learchos’ Tod außerhalb der Herrschaft der Meeres offensichtlich, dass sich VenusVenus ihres ältesten Urenkels erbarmt.
Die Göttin bezieht sich auf ihren Namen, um gewisse Sonderrechte im Königreich des Meeres zu haben. Ovid denkt eigentlich an AphroditeAphrodite, wie es im Vers 538 gesagt wird; in der Tat heißt Schaum auf griechisch ἀφρός; von ihm sagt Hesiod (ThHesiodTh. 195–198. 195–198 ), dass sie aus ihm geboren ist. Merkwüdig ist, dass Bömer andeutet: „der Name ist nicht griechisch“236, weil Ovid an VenusVenus und nicht an Ἀφροδίτη denken muss. Auffälliger noch ist die Art, die Venus verwendet, um den Schaum anzuführen, denn sie sagt nicht, dass sie aus ihm geboren ist, sondern dass sie selbst als Göttin einst Schaum war (spuma fui, Vers 538). Das Problem ist „der Widerspruch … zu den Worten der Venus selbst, in denen sie sich nicht als Tochter Jupiters, sondern als die Schaumgeborene bezeichnet“237, das heißt, dass Ovid auf die Venus oder eher auf die Aphrodite Urania hinweist, deren Verwandtschaft mit Neptun sehr zweifelhaft ist. Schließlich ist die Verwechslung zwischen graium und gratum in der Antike interessant. In der Tat findet man graiumque gemäß Andersons Ausgabe in den Handschriften LM2 und gratumque in der Handschrift A.
Bernbeck fasst die verschiedenen Punkte der Bitte nach dem Schema der epischen ‚impetratoria‘-Rede ausgezeichnet zusammen: „Zuerst die Anrede mit einer Ehrerbietigkeitsformel (532f.), dann der Hinweis auf die Situation, die durch die Bitte geändert werden soll (534f.), darauf die Bitte selbst (536), zuletzt ein Gedanke, der an das Verhältnis gegenseitiger persönlicher Verpflichtung erinnert und dadurch die Bitte unterstreicht“238. Falsch ist aber die Behauptung von Bernbeck, worauf auch Bömer239 hinweist: „Dort wird die Verwandlung, soweit überhaupt eine Gottheit genannt wird, auf Bacchus zurückgeführt“240.
Neptun nimmt das Flehen auf und führt einen kleinen Prozess von DivinisierungDivnisierung durch, indem er alles von ihnen wegnimmt, was sterblich ist, und ihnen alles verleiht, was an ihnen ewig ist. Anderson achtet auf Ovids Gebrauch des Wortes maiestas in Met. II 847OvidMet. II 847 und er glaubt nicht, „we may doubt that Ovid really wants us to admire the exchange of mortality for this and of greatness“241. Bömer vermutet, dass dieses Merkmal der Götter, das sich in grauitas deorum spiegelt, eine griechische Tradition ist, die in die lateinische Welt zu Ciceros Zeit aufgenommen wurde. Allerdings erklärt der deutsche Forscher, „es verdient angemerkt zu werden, daß die Handbücher über die römische Religion die maiestas deorum nicht behandeln“242. Ein Hinweis auf diese Verwandlung ist nicht nur die Änderung des Aussehens, sondern auch die Namensänderung in LeukotheaLeukothea und PalaimonPalaimon. Die lateinischen Versionen dieser Namen aber werden nicht erwähnt; es sieht so aus, als ob Ovid nur die griechische Tradition dieser Besonderheit übernehme. Anderenteils wird die Umgestaltung ihrer Körper nur angedeutet (faciemque nouauit, Vers 541). Allerdings „gibt es keine anschauliche, allmähliche Veränderung, wie sie Ovid in anderen Erzählungen beschreibt“243.
Bernbeck schließt daraus: „So hat Ovid vom Schluß der SageSage ausgehend die Ereignisse gewissermaßen rekonstruiert und die Überlieferung um eine Bittszene erweitert, um eine Szene also, die für epische Darstellung charakteristisch ist“244. Viarre meint, „[la] métamorphose d’Ino et de Mélicerte s’opère de la même façon245 au moyen de l’amour – Vénus – et de l’eau – Neptune – [Cfr. IV, 536ss]“246. Er denkt, dass dieses Erbarmen über Ino durch die Linderung einer unhaltbaren Situation zu einer echten Apotheose führt.
8’) Anhang: Inos sidonische Gefährtinnen (543–562)
Zunächst muss man sich nach der Szene selbst fragen, weil sie kein anderer literarischer bzw. mythographischer Autor überliefert hat, worauf Bömer in seinem Kommentar hindeutet: „Die Geschichte ist anderweitig nicht bekannt“247. Da die Verwandlung in Steinfiguren oder in Küstenvögel ein Element ad hoc für die Metamorphosen ist, wird logischerweise angenommen, dass diese Textstelle am plausibelsten eine Erfindung Ovids ist. Dazu kommt noch: „Dies Motiv der auf die Haupthandlung folgenden Verwandlung von ‚Begleitpersonen‘ findet sich bei Ovid öfter, immer variiert: II 340ff. Heliaden. VIII 533ff. Meleagriden. XI 67ff. Maenaden“248. Ovid gefällt es nach Anderson „to note how sympathy for a victim leads to metamorphosis for friends“249. Man darf jedoch nicht ausschließen, dass der römische Dichter sich auf eine dunkle Tradition bezieht, die die Gegenwart der Ismeniden nahe den Felswänden auf diese Weise erklären wollte.
Ovid schildert ein Gefolge von sidonischen Frauen, die Ino begleiten. Sein Vater KadmosKadmos kam ursprünglich aus Sidon in Phönizien250; die Schwierigkeit ist aber deutlich, wie Anderson anführt: „These women can hardly be first-generation Sidonians“251. Außerdem ist Ino in ThebenTheben geboren und nicht in Sidon. Sie folgen ihr bis zum Rande der Klippe252, bis zum selben Ort, wo Ino ins Meer gesprungen ist; sie halten sie für tot253. Dann werden die typischen Attribute der damals üblichen Klageweiber254 beschrieben: sich die Haare raufen und die Kleider vom Leib reißen. Die zusätzliche laute Klage sidonischer Frauen füllt die Lücke des Trauerns. Den Gesten fügen sie nämlich die Worte hinzu: Juno ist ungerecht und sehr grausam. Dies ruft noch ein weiteres Mal Junos Zorn hervor: Die anklagenden Worte werden das deutlichste Denkmal dessen, worüber sie klagen, nämlich Junos Grausamkeit.
Res dicta secuta est (550)255. Die Worte der Göttin werden unverzüglich durchgeführt. Dies steht im Widerspruch zur großen Paraphernalia der früheren Verse. Junos Absicht wird dort durch einen langen und leidvollen Besuch in der Unterwelt und durch die Erinnye Tisiphone ausgeführt; noch dazu ist Athamas ein Mittel von ZeusZeus’ Frau, um KadmosKadmos’ Haus das Böse zu schicken. Hier nicht: Die Aktion ist zeitnah und unmittelbar. Junos Worte sind keine bloße Redefigur: Die sidonischen Frauen werden selbst zu einem Denkmal. Die Versteinerung der Gefährtinnen von Ino ist ein Zeugnis von Junos Grausamkeit, ein Denkmal für Paralyse, Ruhe, Tod. Merkwürdig ist, dass die ungerechte JunoJuno ihr bösartiges Werk mit der treuesten Gefährtin Inos beginnt; auf diese Weise zeigt sich noch deutlicher Junos Ruchlosigkeit. Bömer erklärt, „pietas ist als Bezeichnung eines Verhältnisses gegenüber Menschen außerhalb der consanguinitas (VII 169) selten“256.
In diese Skulpturengruppe kommen Viarre zufolge nach und nach „quatre attitudes différentes, signe d’un même deuil et d’une même inquiétude“257:
a) Der Antrieb: saltumque datura moueri | haud usquam potuit scopuloque affixa cohaesit (552–553). Diese sidonische Fraue verbindet sich völlig mit dem Fels der Klippe.
b) Ein Klagegeschrei: temptatos sensit riguis se lacertos (555). Seltsam ist, dass Ovid für diese Frau das Distributiv altera benutzt, denn sie ist nicht die zweite von zwei, sondern von vielen anderen Frauen. Gewagt ist die Verwendung von temptatos mit lacertos: Dies ergibt ein unerwartetes Bild.
c) Eine Anrufung der Wellen: Saxea facta manus in easdem porrigit undas (557).
d) Sich die Haare raufen: subito digitos in crine uideres (559).
Es gibt einen gewissen Prozess in der Versteinerung der sidonischen Frauen, genauso wie in der Fokussierung der Einzelheiten: vom Körper, der springen will, zu den Armen, die sich wünschen, auf die Brust zu schlagen, zu den nach den Wellen des Meeres sich ausstreckenden Händen, bis zu den die Haare raufenden Fingern. Die Bewegung erstarrt auf Junos Stimme hin; so müssen sie für ewig bleiben.
Allerdings leiden sie nicht alle unter einer Lähmung, ganz im Gegenteil gibt es auch einige, die nie aufhören, sich zu bewegen. Sie werden zu Vögeln, zu den Ismeniden, die im dortigen Meer die Fläche streifen258. Die Ätiologie ist ersichtlich. Eitrem beteuert, „nach Ovid. Met. IV 561fOvidMet. IV 561. wurden die Gefährtinnen der L. in αἴθυιαι verwandelt (als solche erschienen sie ja selbst dem Odysseus in der Od. a. O., vgl. Die AtheneAthene αἴθυια bei MegaraMegara)“259. Es scheint, dass ein Heiligtum von Athene ‚Aithyia‘ sich auf den nahe bei Megara liegenden Klippen befand260; dies würde die megarische Version des Mythos unterstützen. Die Frage ist meiner Meinung nach, warum Ovid zwei Arten von Metamorphosen für die sidonischen Frauen nennt. Andersons Grund ist m.E. nicht sehr überzeugend: „Birds serve as a common symbol of grief, with their piercing cries and seemingly restless flight“261. Leider wurde dafür kein anderer Vorschlag gefunden.
Abgesehen von den erwähnten Varianten für die Verse 431 und 471 sollte man folgendes Textkritikproblem ansprechen: „MSS tradition indicates convincingly that 446 was not in the Ovidian text that survived into the medieval period“262. In der Tat wird dieser Vers in MNλ ausgelassen und nicht wenige Herausgeber haben Zweifel, ob er überhaupt zum Text gehört.
Zunächst muss man mit Bömer zugeben, dass „sich der Zusammenhang auch ohne diesen Vers verstehen“263 lässt. In diesem Fall muss man ein Zeugma und das Auflösen der ‚Strafen‘ annehmen. Dieser Vers kommt zum ersten Mal in einigen Korrekturen einer früheren Handschrift vor; die Datierung dieser Änderung ist vom 12. Jh. n. Chr. Seither wurde er in alle späteren Kopien der Handschriften eingestellt. Der Korrektor264 ist sehr kritisiert geworden, weil die Strafen innerhalb der Stadt der Toten, und nicht außerhalb stattfinden. Allerdings gilt diese Kritik zwar für Vergil, aber nicht für Ovid; in den Metamorphosen kann Juno selbst in diese Gegend eintreten, obwohl sie eine olympische Göttin ist. Man könnte denken, dass die vierte Gruppierung von Toten eine Art Übergang zu Junos Ziel vorbereitet.
Bömer, der den Vers ausführlich analysiert hat, meint: „so bleibt die Entscheidung über die Echtheit des Verses letztlich subjektiv“265. Da der Hauptteil der Tradition diesen Vers nicht präsentiert und die Darstellung der Strafen als ein Fremdteil der Gesamtbeschreibung anzusehen ist, entscheidet sich Bömer, ihn beiseite zu lassen: „Der Interpolator hat dann den Versuch gemacht, das harte Zeugma artes celebrare durch artes exercere zu glätten, seine Vergilkenntnisse anzubringen und gleichzeitig, mit Hilfe Vergils, seinen christlichen Zeitgenossen ins Gewissen zu reden“266. Anderson jedoch schließt aus, „the ‘interpolator’, if he is such, is right on target“267. Heinsius, Merkel, Magnus, Mendner unterlassen seine Erwähnung268; Helm, Lafaye, Breitenback verteidigen ihn269. Anderson behält ihn in Teubners Ausgabe, im Gegensatz zu Tarrant270, in dessen Ausgabe (Oxford) er eine Zeile frei lässt und den Vers darunter in eckiger Klammer schreibt. Meiner Meinung nach könnte der Vers wie bei Teubner im Text bleiben.
Diese besondere wichtige Textstelle ist einige persönliche Endüberlegungen wert.
Die in den Metamorphosen erzählte Geschichte über Athamas und Ino könnte meiner Meinung nach als eine grandiose theatralische Darstellung angesehen werden. Das Drehbuch hat Juno geschrieben; Tisiphone hat das Werk ausgeführt; Ino und Athamas spielen die Hauptrollen; Learchos und Melikertes sind die Nebenfiguren; Bacchus ist die angeblich abwesende Figur, aber er ist immer anwesend; die sidonischen Frauen sind der dem Werk hinzugefügte Epilog. Darüber hinaus ist in dieser Darstellung nicht der Leser der Zuschauer par excellence, sondern Juno, die aus dem Olymp die ganze Aktion sieht und daran Gefallen (vgl. Vers 524) findet.
Es ergeben sich vier Sichtweisen auf das Werk: Ino und Athamas, die nur die ihnen den Wahnsinn schickende Erinnye Tisiphone sehen; Juno, die Anstifterin, die weiß, warum jene wahnsinnig geworden sind; Ovid, der die ganze Geschichte schreibt und beabsichtigt, das, was er schon in den Metamorphosen aufgezeichnet hat, in diesem Buch noch zu schreiben, und auch das, was er von dieser Erzählung schon in anderen Werken berichtet hat und was schon über diesen Mythos vor ihm geschrieben wurde; der Leser, der zu all diesen Elementen hinzufügt, was nach Ovid darüber erzählt worden ist, eine Tradition, die mit Sicherheit wiederum von diesem Dichter und seinen Ansichten beeinflusst worden ist.
Meiner Meinung nach agieren die Personen entschieden und unverzüglich: Juno ist entschlossen, zur Unterwelt zu gehen, ohne lang darüber nachzudenken; Tisiphone verlässt ihr Haus augenblicklich; Athamas ruft sofort seine Gefährten, um zur Jagd zu gehen; Ino zögert nicht, vom Steilufer zu springen; Neptun verhandelt nicht über die Gewährung der Divinisierung. Alles vollzieht sich jedoch im letzten Teil langsamer, und zwar bei der Bestrafung der sidonischen Frauen: Da ist jede Einzelheit sehr wichtig und der Prozess der Versteinerung wird schrittweise und nicht unversehens geschildert.
Ovids Beschreibung stellt auch eine große Bewegtheit vor: Juno steigt aus dem Olymp bis zur Unterwelt hinab und kehrt zum Olymp zurück; Tisiphone steigt aus der Unterwelt zum Hause von Athamas hinauf und kehrt zu ihrem Haus zurück; Athamas schreitet aus dem Palast heraus in Richtung Wald; Ino bewegt sich aus dem Wald über die Felswand zum Meer. In den beiden letzten Fällen kehren die von Wahnsinn unterjochten Hauptfiguren nicht zum Hause zurück. Der Wald und das Meer bleiben als Todesorte. Nur dank des Eingreifens von VenusVenus wird die SeeSee für Ino (und Melikertes) ein Rettungsort und eine ewige Wohnung (Heilung des Wahnsinns). Diesen Bewegungen steht die fortschreitende Unbeweglichkeit der sidonischen Frauen entgegen: Ihre Bewegungslosigkeit ist nicht ein Rettungszeichen, sondern ein Zeugnis von Grausamkeit und Bestrafung. Deswegen haben sie kein Leben, darum werden sie zu Stein271.
Es sieht nicht so aus, als bekümmerte sich Ovid darum, eine ordentliche und perfekt zusammenhängende Erzählung zu verfassen, wie es schon oben angedeutet wurde. Der Dichter zeigt verschiedene Szenen, die sich „durch Assoziationen“272 verbinden. Vergil aber präsentiert eine einheitlichere Geschichte; das kann man z.B. in der Beschreibung der Unterwelt sehen: „Zusammenfassung des ersten Abschnitts (Aen. I 50, VII 323VergilAen. VII 323VergilAen. I 50), Aufbruch und Ankunft am neuen Ort, notwendige Angaben über den Ort, bzw. die Personen der neuen Szene (Aen. I 51–63, VII 324–29VergilAen. VII 324–329VergilAen. I 51–63), dann die weitere Handlung“273. Bernbecks Behauptung über den mangelnden Zusammenhang der Erzählung bei Ovid ist jedoch m.E. ein wenig übertrieben: „Ovid legt auf die Kontinuität der Handlung keinen besonderen Wert“274. Meiner Meinung nach schlägt Ovid eine andere Art von Beschreibung vor, nämlich eine anschaulichere Erzählung, die aus diesem Grund die perfekte Verbindung und Einheit verliert.
Bernbeck zufolge275 besteht der Text aus verschiedenen Szenen, die fast unabhängig voneinander sind:
Einleitung: Grund für Junos Zorn (416–419).
Erste Szene: Junos Monolog (420–431).Einführung zur 2. Szene: Tartaros Beschreibung (432–446).
Zweite Szene: Bitte um Tisiphones Hilfe (447–480).
Dritte Szene: Tisiphones Angriff (481–511).
Vierte Szene: Athamas’ Wahnsinn und Inos SprungSprung (512–530).
Fünfte Szene: Bitte von VenusVenus und Divinisierung von Ino und Melkertes (531–542).
Daraus ergibt sich, dass die Schilderung des Wahnsinns nicht das Hauptmotiv in Ovids Erzählung ist und die Geschichte sich vor allem auf die Darstellung der Unterwelt konzentriert. Bernbeck sagt deshalb: „Bei Ovid dagegen überwuchern die vorbereitenden Szenen, bezeichnenderweise seine eigenen Erfindungen, das durch die Überlieferung vorgegebene Geschehen“276. Dieser Meinung ist auch Anderson: „Thus, he ends up with a brief traditional tale in two phases of about sixteen lines each, which frames his own episode of grotesque Tisiphone, a brilliant tour de force of eighty lines“277.
Bernbeck278 hat Recht, wenn er meint, dass die Figuren von JunoJuno und Tisiphone eine hervorragendere Rolle spielen als Athamas bzw. Ino selbst. Er übt aber eine sehr strafende Kritik an Ovids angeblichen Fehlern gegen die epische Tradition, wie z.B. das Weglassen der Teile, die die Monologe oder die Bitten vorbereiten. Er glaubt, „es fehlen die im Epos gebräuchlichen Angaben über Zugang und Abgang der Personen“279. Ebenso merkt er, wie schon angedeutet worden ist, den Mangel der Einheit der Szenen an und meint darum, dass bei Ovid Ungenauigkeiten und Widersprüche bestehen. Letzlich denkt er, „all diese Erscheinungen bedeuten eine Durchbrechung der Kontinuität des Geschehens und der Darstellung“280. Dies ist m.E. zu exzessiv; Ovid hat seine Art von Erzählung und seine eigenen Richtlinien. Schließlich ist der Humor, den Bernbeck so ungern und im Text allgegenwärtig sieht, auch nicht in der ganzen Erzählung zugegen.
Auf jeden Fall gilt Ovids Textestelle als wesentlich im Verstehen des Mythos von Athamas, denn seine Erzählung ist verpflichtender Lesestoff, wenn nicht sogar die einzige vorhandene Quelle, für die nach ihm kommenden Schriftsteller. Man kann kategorisch behaupten, dass die Mythologie allgemein und Athamas Legende insbesondere aus Ovids Perspektive im Laufe der Jahrhunderte gelesen und verstanden wurden. Interessant ist diesbezüglich ein typisches Beispiel von literarischem Weiterleben im Feld der Mythologie, nämlich ein Fortbestand der berühmten Beschreibung der in diesem Buch I-L-M genannten Version in Ovids Metamorphosen: Es handelt sich um Dantes Göttliche Komödie281.
Im 30. Gesang der Hölle beginnt Dante seine Geschichte, indem er den Leser in eine entfernte, irreale und mythologische Zeit transponiert: „Nel tempo che“282. Dante schlägt zwei Beispiele von WahnsinnWahnsinn vor; das erste gehört zum thebanischen Zyklus: Die von Ovid berichtete I-L-M-Version283. Dante bezieht sich offensichtlich auf Ovids Erzählung, wie man aus den im Gedicht verwandten Bildern schließen kann. Athamas ruft seine Gefährten für die Jagd zusammen; der Aiolide sieht eine Löwin mit ihren Jungen; er tötet Learchos, indem er ihn am harten Gestein zeschmettert. Das Auffälligste in Dantes Text ist die Charakterisierung von Athamas als tierisch284, die den Leser verwirrt, so wie der Aiolide selbst die Wirklichkeit verwechselt285.