Читать книгу Du bist böse - Mara Dissen - Страница 10

3. Kapitel

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Ich weiß nicht, wann Elli gestern Abend das Krankenhaus verlassen hat. Eigentlich kann ich mich an gar nichts erinnern. Nein, das stimmt nicht. Komm endlich zu dir, reiß dich zusammen. Schließlich weißt du doch, dass Elli hier war, siehst sie vor dir, wie sie hilflos an deinem Bett steht. Ja, ich sehe Ellis Hilflosigkeit, spüre sie förmlich. Es muss nach meinem Wutausbruch gewesen sein. War es Wut? Wohl eher mein Bewusstsein, das nicht mehr getäuscht werden wollte, dass das Unterdrückte ans Tageslicht beförderte. War es dann also grenzenlose Traurigkeit, die sich da in meinem Anfall den Weg nach außen, den Weg zur nackten Offenlegung gebahnt hatte? War es das, was Elli, die Sturmerprobte, so verunsicherte? Damit kann ich umgehen, empfinde sogar Anzeichen innerer Genugtuung. Es ist schließlich nicht einfach, Elli aus dem Gleichschritt zu bringen. Mir war es bisher noch nie gelungen. Da ist aber noch etwas anderes, und das nimmt mir die Luft zum Atmen. Nicht Ellis Verunsicherung, nein, es ist Ellis Verärgerung, ihr Unverständnis, was sich bei mir als Bild eingegraben hat. Sie konnte nicht akzeptieren, dass ich mich von Frank abwende. Sie stellt sich gegen mich. Lehnt sie sich gegen mich, ihre Freundin, auf? Tritt sie so vor Frank, meinen Mann? Die Fragen bereiten mir Unbehagen. Es kann mir aber vollkommen egal sein. Frank war nicht hier, gestern Abend nicht, die ganze Nacht und auch heute Morgen nicht. Das wüsste ich auch trotz der starken Beruhigungsmittel, die sie mir nach meinem Ausbruch verabreicht haben.

Nachdenklich lasse ich mich in meine Kissen fallen. Erleichtert reibe ich meinen Handrücken. Sie haben mir die Kanüle entfernt, hänge nicht mehr am Tropf. Seltsamerweise habe ich mit Heißhunger das Frühstück runtergeschlungen.

Habe ich wirklich seit dem Wecken noch nicht einmal an Leif gedacht? Der Schweißausbruch kommt unvorbereitet, das Herzrasen steigert sich ins Unerträgliche, löst Angstzustände aus. Meine zitternde Hand verfehlt das Wasserglas, fegt es vom Nachttisch. Mit einem gurgelnden Aufschrei falle ich wieder auf mein Kopfkissen. Mit letzter Kraft erinnere ich mich an meine Yogakurse und wende die erlernte Atemtechnik an. Ich muss hier raus, darf dem Personal keine Gründe liefern, mich noch länger hier behalten zu wollen.

Langsam normalisiert sich mein Puls wieder. Vorsichtig hebe ich die Bettdecke an. Ich stinke. Die Schwester wollte mir nach dem Wecken und der Medikamentenausgabe beim Waschen behilflich sein. Was haben sie mir eigentlich gegeben? Warum habe ich nicht gefragt? Und vor allem, warum habe ich das Zeug willenlos geschluckt? Ich habe mich nicht waschen lassen. Mein Widerstand hat mich viel Energie gekostet. Die Schwester reagierte beleidigt. Wenn ich es mir richtig überlege, eigentlich verärgert, und jetzt stinke ich.

Es fällt mir nicht schwer, das kleine Bad zu erreichen. Als mich leichter Schwindel überkommt, kann ich mich an der Wand festhalten. Einatmen, ausatmen, weiter. Mit durchgedrückten Armen stütze ich mich an dem Waschbecken ab und starre auf den Abfluss. So könnte ich ewig stehen, nur nicht den Kopf anheben. Ich weiß, was mich erwartet.

„Lass den Kopf unten. Tu dir das nicht an.“ Ich muss mir diese lauten Selbstgespräche dringend abgewöhnen. Es verrät so viel, über die Sache, über den Menschen, über den Zustand des Menschen. Zum Glück bin ich allein, hat mich niemand belauscht.

Mein Kopf schmerzt. Ich habe ihn zu schnell, zu energisch in den Nacken gerissen, habe es also doch getan. Die Beleuchtung über dem Spiegel ist grell, offenbart erbarmungslos die Nacktheit meines Gesichts. Ich erkenne mich nicht oder will ich mich nicht wiederfinden? Die weichen, runden Gesichtszüge ausgetauscht gegen eingefallene, schlaffe Konturen, der rosige Teint binnen Stunden verwandelt in talgige, schrumpelige Haut, die einst strahlenden, dunklen Augen, tot, die welligen Haare, mein einziger Stolz, strähnig und kraftlos an der Kopfhaut klebend. Der unvorteilhaften Beleuchtung kann ich nicht die Schuld für mein Aussehen geben, so wie ich das immer gerne in fremden Bädern, manchmal nach durchwachter Nacht getan habe. Oder jeden Morgen im letzten Urlaub. Im Spiegel kann ich die Dusche sehen, die sich hinter mir in der Ecke befindet. Die Duschwand ist zugezogen. Alles kommt mir auf einmal bekannt vor, hat beängstigende Ähnlichkeit mit Bildern, die sich vor meinem Auge aufreihen, Bilder aus unserem Urlaub, dem letzten.

Dort war die Duschwand morgens immer zugezogen. Leif hatte sich die Kabine als Spielplatz ausgesucht. Nein, das ist falsch. Ich sollte mir nichts vormachen. Leif suchte sich keine Spielplätze, Leif hielt nach Tatorten Ausschau. Mit der Dusche hatte er damals einen idealen Ort gefunden.

Entsetzt fahre ich herum, zerre ein Handtuch vom Bügel, halte es mir vor den Körper, bin mit zwei Schritten an der Duschverkleidung, reiße sie auf und starre in das leere Becken. Schweißgebadet lasse ich mich auf den kleinen Hocker fallen. Was hatte ich denn erwartet? Leif kreischend in der Wanne? Blödsinn.

Irritiert betrachte ich das Handtuch in meiner Hand. So habe ich immer versucht, mich zu schützen, damals, im Urlaub.

Wenn ich das Bad betrat, saß er schon da. Ich konnte durch die leicht transparente Duschwand seine Umrisse sehen. Frank und ich haben nie mitbekommen, wann er sein Zimmer verlassen hatte. Unsere Hotelsuite war riesig, verwinkelt. Es war ein leichtes für Leif, sich unbemerkt aus seinem Zimmer zu schleichen. Leif beherrschte beides, laut und leise. Ich hatte mir einige Male nachts den Wecker gestellt, um zu sehen, ob mein Kind noch in seinem Bett lag. Natürlich lag er, aber irgendwann eben nicht mehr, da saß er in der Dusche und wartete auf mich. Frank schlug vor, die Badezimmertür abzuschließen oder Leif einfach einzuschließen. Ich lehnte strikt ab. Es war nicht erforderlich, eine Begründung anzuführen. Sie war uns beiden unausgesprochen bekannt. Es ging uns nicht um die Sachschäden, die Leif unweigerlich herbeigeführt hätte, sondern um die Peinlichkeit, die Entstehung zu erklären, ohne unseren Sohn bloßzustellen.

So vollzog sich jeden Morgen das gleiche Drama. Ich betrat das Bad, sah meinen Sohn, schnappte mir ein Handtuch und öffnete die Duschverkleidung. Der Wasserstrahl, den er auf mich richtete, war mal eisigkalt, mal glühend heiß. Nach einigen Tagen wusste ich, was mich erwartete, wenn die Dusche dunstig beschlagen war. Irgendwie hatte er es immer geschafft, sich selbst nicht zu verbrühen.

„Verdammt noch mal, hör auf, stell das aus. Das ist nicht lustig.“

So oder ähnlich habe ich damals stereotyp geschrien. Ja, damals, und warum schreie ich jetzt?

Mein Sohn, mein hübscher, kleiner Sohn, hörte nicht auf. Er lachte, er richtete den Strahl auf den Spiegel, die Wände, wieder auf mich. Jedes Mal packte ich ihn am Arm und versuchte, ihn aus der Dusche zu ziehen. Das erwies sich oft als schwierig. Mal hatte er sich mit Zahncreme, Sonnenöl oder sonstigen glitschigen Schweinereien eingeschmiert, und er entglitt mir. Wenn Frank dazukam, hatte er mehr Erfolg. Irgendwann, gegen Ende des Urlaubs, ließ ich meinen Sohn einfach in der Wanne sitzen. Es war mir egal. Ich wusch mich im Waschbecken und ging an den Strand, ohne Kind. Frank blieb bei ihm.

Vielleicht habe ich mich deshalb vorhin der Waschaktion der Krankenschwester verweigert.

„Ach, hier sind Sie. Ich habe Sie sprechen hören und dachte, Sie hätten Besuch. Na, auf der Toilette wäre das ja schon ein bisschen seltsam. Kommen Sie alleine klar oder brauchen Sie Hilfe?“

„Nein, nein danke. Es geht schon.“

Schnell erhebe ich mich von dem Hocker und drücke energisch die Tür zu.

„Mein Gott, was ist denn hier passiert? Hier ist ja alles voller Glasscherben. Warum haben Sie denn nicht geklingelt? Wir hätten das doch gleich weggemacht“, dringt die leicht erregte Stimme der Krankenschwester durch die geschlossene Badezimmertür zu mir vor.

„Sind Sie verletzt? Haben Sie sich geschnitten?“, steht sie wieder in der Tür und betrachtet meinen nackten Körper.

„Nein.“

„Sie müssen sich doch nicht am Waschbecken waschen. Sie können doch duschen. Das Duschgel auf der Ablage hat Ihre Freundin gestern Abend mit ein paar anderen Sachen vorbeigebracht. Sie ist ganz spät noch einmal hier gewesen, aber Sie haben geschlafen. Wir mussten Ihnen ein Beruhigungsmittel geben. Erinnern Sie sich daran?“

Gleichgültig ergreife ich die Flasche, betrachte wissend das Firmenlogo und stelle sie wieder zurück.

„Weil Sie gestern Abend ja nicht mehr ansprechbar waren, hat Ihre Freundin uns gebeten, Ihnen etwas auszurichten. Ihr Mann kommt nicht. Nur den einen Satz: Ihr Mann kommt nicht. Sie wüssten dann schon Bescheid.“ Verunsichert lächelnd steht sie da vor mir. Ihr Wunsch um Aufklärung ist nicht zu übersehen.

Ich sollte mich über die Nachricht freuen, ist es doch genau das, was ich wollte. Hinzu kommt für mich die wichtige Erkenntnis, dass Elli doch zu mir hält und sich gegen Frank durchgesetzt hat. Erleichtert drehe ich den Wasserhahn auf und habe für einen kurzen Augenblick die Krankenschwester vergessen.

Was ist, wenn er gar nicht kommen wollte? Wenn sein Fernbleiben überhaupt nichts mit Ellis Bemühungen zu tun hat? Erschreckt schlage ich mit der Hand auf den Hebel der Wascharmatur und beende so das nervige Geplätscher. Angst macht sich in mir breit. Warum, warum, warum? Müsste ich bei dem Gedanken nicht Erleichterung oder zumindest Gleichgültigkeit empfinden? Meine Angst schlägt in Wut um. Er will also auch nichts mehr von mir wissen. Umso besser. Das erleichtert so einiges, rede ich mir trotzig ein. Elli würde jetzt sagen, <werd nicht wieder zickig.>

„Worauf warten Sie noch? Sie wollten doch die Scherben beseitigen. Dann tun Sie es auch und zwar jetzt“, brülle ich die Krankenschwester an, die noch immer auf Erklärung hoffend in der Tür steht. „Und schließen Sie gefälligst die Tür hinter sich, aber schnell, wenn ich bitten darf.“

„Auch wenn es Ihnen psychisch sehr schlecht geht, muss ich mir nicht gefallen lassen, dass Sie mich wie Ihre Putzfrau behandeln. Ich hoffe nur, dass die arme Frau von Ihnen nicht so arrogant runtergeputzt wird.“ Mit hochrotem Kopf wendet sich die Schwester zum Gehen, wirft mir noch einen verachtenden Blick zu und zieht die Tür hinter sich geräuschvoll ins Schloss.

Ich stehe immer noch nackt vor dem Waschbecken und schäme mich. Nicht wegen meiner Blöße, nein, für mein ungebührliches, aufgeblasenes, demütigendes Auftreten. Ich drehe erneut den Hahn auf, lasse das Wasser so lange fließen, bis es mir eiskalt über die Finger läuft. Statt mich zu beruhigen, steigert sich mein Schuldgefühl. Es ist aber nicht nur die eine Schuld, die ich soeben auf mich geladen habe. Ich werde von ganzen Wagenladungen davon erdrückt. Ich ergreife die Waschlotion und setze zögernd einen Fuß in die Dusche.

„Frau Stolpe ist da drinnen im Bad.“

„Geht es ihr den Umständen entsprechend besser?“

„So wie sie sich aufführt, müsste es ihr wieder blendend gehen. Na ja, wahrscheinlich täuscht das nur.“

„Können Sie sie rausbitten? Ich betrete als Mann ungern die Nasszellen der weiblichen Patienten.“

„Nein. Dann müssen Sie da heute schon eine Ausnahme machen. Ich gehe da nicht wieder rein und lasse mich anmachen. Außerdem wünscht Frau Stolpe nicht, dass ich das Bad betrete. Sie kommt alleine klar.“

„Was ist denn passiert? O.K. lassen Sie, ich hole sie da raus.“

„Ach, gehen Sie zur Seite. Ich mach das doch. Werde ja schließlich auch fürs Hinternabputzen bezahlt. Dann ist das hier doch Zuckerschlecken. Frau Stolpe? Kommen Sie bitte raus. Hier ist jemand, der Sie unbedingt sprechen muss.“

Die Schläge sind hart, laut, rücksichtslos. Ich nehme an, dass die Schwester mit ihrer Faust gegen die Tür bollert. Die Stimme des Mannes ist mir unbekannt. Jetzt bin ich schon endlos lange in diesem idiotischen Bad und habe es immer noch nicht geschafft, den Gestank von mir zu waschen. Es hilft nichts, ich muss hier raus. Mit fliegenden Händen durchwühle ich meinen Kulturbeutel, den mir Elli scheinbar am Vorabend gebracht hat und finde, was ich suche. Ohne den Finger vom Sprühknopf zu lösen, spraye ich meinen Körper von Kopf bis Fuß mit Deo ein. Schnell ziehe ich das Krankenhausnachthemd über. Mir ist schlecht und leicht schwindelig, aber ich schaffe es bis zur Tür.

„Frau Stolpe?“, ruft die Schwester erneut meinen Namen, dieses Mal jedoch deutlich beunruhigt.

Ich werfe einen letzten Blick in den Spiegel. Noch vor wenigen Minuten hat mir das Gesicht einer zutiefst verstörten und verzweifelten Frau entgegengeblickt. Nun sehe ich in weit aufgerissene, dunkel lodernde Augen, erblicke die harten Konturen zusammengepresster Lippen, erkenne in der Kopfhaltung einen Menschen, der zum Handeln bereit ist, erkenne mich. Als ich die Tür öffne, springt die Schwester erschreckt zurück und fährt schützend eine Hand vor ihrem Körper aus. So langsam erhöht sich die Zahl der Menschen, die sich vor mir ängstigen.

Der Mann, der mit ernstem Lächeln auf mich zukommt und mir die Hand entgegenstreckt, ist mir unbekannt. Er hat ein nichtssagendes Allerweltgesicht. Ich würde ihn auf der Straße nicht wiedererkennen. Vielleicht bin ich ihm ja schon irgendwo begegnet und kann mit ihm heute, hier in meinem Krankenzimmer, wegen seiner Austauschbarkeit nichts anfangen. Ich erwidere den Händedruck, ohne an dem Menschen interessiert zu sein.

„Guten Morgen, Frau Stolpe. Ich habe gehört, dass es Ihnen heute etwas besser geht. Ich bin Torsten Wetzig und komme vom sozial-psychiatrischen Dienst. Sie haben einen schweren Schicksalsschlag erlitten. Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten. Ich kann Ihnen vielleicht aufzeigen, wo Sie Hilfe erhalten können. Ich weiß...“

„Stopp! Sie wissen gar nichts. Ist Ihnen aufgefallen, dass die meisten Ihrer Sätze mit Ich begonnen wurden? Soll das heißen, dass Sie sich in den Mittelpunkt stellen, und ich mich für Sie interessieren soll? Wird nicht passieren. Hören Sie sich meine Satzanfänge an. Ich will mit Ihnen nicht sprechen. Ich brauche keine Hilfe. Ich möchte, dass Sie das Zimmer verlassen.“ Aus den Augenwinkeln sehe ich die Schwester, die mit Kehrblech und Besen zurückgekehrt ist und entgeistert zwischen diesem Wetzig und mir hin und her blickt. „Ich werde mich jetzt anziehen und das Krankenhaus verlassen“, fahre ich wie von Sinnen fort. Das wird es sein. Ich bin verrückt geworden. Der Ausdruck auf den Gesichtern der beiden Menschen in dem Raum bestätigt mir das.

„Frau Stolpe, bitte. Selbstverständlich müssen Sie mit mir kein Gespräch führen, wenn Sie das nicht möchten. Sie entscheiden das ganz alleine. Aber vielleicht glauben Sie mir, dass es Menschen, die einen schweren Verlust zu verarbeiten haben, schwerfällt, in den ersten Stunden und Tagen, klare Entscheidungen zu treffen. Diese Broschüre lasse ich Ihnen hier. Darin finden Sie auch Telefonnummern von Ansprechpartnern. Haben Sie bemerkt, dass kein einziger Satz von mir mit Ich begonnen hat?“, fügt er seinen Ausführungen mit leicht ironischem Unterton hinzu.

Ich halte die Broschüre in meiner Hand. Hochglanz, kalt, rutschig, unpersönlich. Wahrscheinlich habe ich sie nur entgegengenommen, weil mir mein Auftritt peinlich ist. Jetzt stehe ich hier rum und weiß nicht, wie ich aus der Nummer wieder rauskomme.

„Könnten Sie uns bitte alleine lassen, Schwester Elisabeth?“ Er ist nicht schlecht, versteht sein Fach, hat in meinem kurzen, zögerlichen Verhalten sofort seine Chance erkannt. Die Schwester hat in der Zwischenzeit die Scherben aufgefegt, richtet sich mit einem leisen Stöhnen auf und will das Zimmer verlassen.

„Sie können hier nicht einfach rausmarschieren. Warten Sie wenigstens die Visite ab, die ist bald“, dreht sie sich an der Tür noch einmal um und bedenkt mich mit einem Blick, den ich nur schwer deuten kann. Ablehnung könnte ich verstehen, aber daneben glaube ich, auch etwas wie Mitleid entdeckt zu haben.

Dieser Mann wartet auf keine Einladung, Platz zu nehmen. Er setzt sich einfach auf den Stuhl neben dem kleinen Tischchen und schweigt. Er lässt mich nicht aus den Augen, reglos, stumm. Unendlich langsam lasse ich mich auf den Stuhl neben ihm sinken. Er hat gewonnen. Sein Räuspern unterbricht die Stille und lässt mich zusammenfahren.

„Sie wollen heute unbedingt nach Hause?“

„Ja.“

„Holt Ihr Mann Sie ab?“

„Nein.“

„Weiß Ihr Mann denn, dass Sie sich scheinbar quasi selbst entlassen? So, wie ich das eben mitbekommen habe.“

„Nein. Er weiß gar nichts. Er war nicht hier. Ich wollte das nicht.“

„Hm, Sie möchten das nicht. Warum möchten Sie denn nach Hause?“

„Ich möchte sehen, wo mein Sohn gelegen hat, muss fühlen, dass er nicht mehr da ist. Sein Zimmer leer, kein Lachen, kein Weinen, alles so still. Für immer. Ich muss begreifen. Als ich gestern nach Hause kam, bin ich zusammengebrochen, sofort kollabiert, war in diesen schweren Minuten, Stunden einfach weg, ohne irgendetwas fassen, greifen zu können. Verstehen Sie doch.“

Mein ganzer Körper wird von dem Weinkrampf erfasst, bebt, zittert, ist außer Kontrolle geraten. Der Mann spricht nicht, nähert sich nicht, sitzt nur da und sieht mir und meinen Qualen zu. Es wäre schön, jetzt jemanden zu spüren, aber wahrscheinlich würde ich ihn wegstoßen. Langsam gelingt es mir, unter großer Konzentration, wieder halbwegs gleichmäßig zu atmen. Der Mann Wetzig lässt mir Zeit.

„Vielleicht ist das jetzt noch keine gute Idee.“

„Doch, das muss sein. Ich habe doch überhaupt nichts mitbekommen, liege hier nur rum.“

Ich bin mir nicht sicher, ob er meine letzten Worte, die ich in mein Taschentuch gesprochen habe, verstanden hat.

„Sie möchten Ihren Mann nicht sehen, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Aber wenn Sie jetzt nach Hause gehen, werden Sie ihn sehen. Oder ist er nicht da?“

Er hat mich also genau verstanden.

„Doch, mein Mann ist da. Aber unser Haus ist groß, und wir können uns aus dem Weg gehen. Außerdem gibt es da etwas, was ich von ihm wissen will, nicht irgendwann, sondern heute.“

„Hm. Ich gehe mal davon aus, dass Sie mit mir nicht darüber sprechen wollen.“

„Richtig.“ Ich befürchte, dass sich jetzt wieder eine dieser qualvollen Pausen einstellen wird, aber ich habe mich getäuscht.

„Sie werden Hilfe brauchen, glauben Sie mir. Das schafft man nicht alleine. Ich habe jedenfalls noch niemanden kennengelernt. Gibt es da jemanden aus Ihrer Familie oder Bekannte, die Ihnen beistehen. Ich habe entnommen, dass Sie nicht davon ausgehen, dass Ihr Mann Ihnen eine Hilfe ist. Außerdem ist Ihr Mann ebenfalls traumatisiert. Vergessen Sie das nicht.“

„Ich habe eine sehr gute Freundin, Elli. Sie war auch gestern hier, zweimal sogar, wie ich gerade erfahren habe. Sie wird mir helfen.“

„Das ist gut. Aber, Frau Stolpe, ich habe auch von professioneller Hilfe gesprochen und da...“

„Ich habe Sie verstanden. Ich habe hier Ihre Broschüre, kann da ja irgendwann eine Nummer anrufen.“

„Es wäre gut, wenn Sie das nicht irgendwann, sondern heute tun könnten. Soll ich das für Sie übernehmen? Und überlegen Sie sich das mit der Entlassung.“

„Bitte gehen Sie jetzt. Danke, und entschuldigen Sie meinen Auftritt von vorhin. Ich bin sonst nicht so.“

Er steht auf, sagt nichts, nickt wiederholt mit dem Kopf und wendet sich zum Gehen.

„Meine Telefonnummer steht auch in der Broschüre.“

Das ist alles, mehr sagt er nicht. Die Tür fällt ins Schloss. Es ist nur noch mein Schluchzen zu hören.

Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem Stuhl gesessen habe. Jetzt stehe ich vor dem Spind und lege als Letztes meine Socken in die kleine Reisetasche. Die gute Elli hat mir scheinbar gestern Abend Sachen zum Wechseln gebracht. Mit wenigen Schritten bin ich im Bad und greife nach meinem Kulturbeutel.

„Frau Stolpe, seien Sie doch nicht so unvernünftig. Das ist doch alles noch viel zu viel für Sie.“

Die Stimme dieser Schwester wird für mich so langsam unerträglich. Was will sie jetzt schon wieder in meinem Zimmer. Ich denke, es gibt in Krankenhäusern einen Pflegenotstand. Das scheint für dieses Haus nicht zuzutreffen. Schon wieder bin ich ungerecht. Sie macht sich Sorgen und ist für mich verantwortlich, bekommt Ärger, wenn ich einfach so entschwinde. Schnell verlasse ich das Bad, schiebe mich kommentarlos an ihr vorbei zu meiner Reisetasche, lege den Beutel hinein und schaue mich noch einmal prüfend um.

„Warten Sie bitte. Der Chefarzt ist unterwegs zu Ihnen.“

„Das ist nicht nötig. Ich bin fertig und habe mir schon eine Taxe bestellt. Bestimmt wartet der Fahrer schon vor der Klinik.“

„Wenn Sie unbedingt ohne Okay der Ärzte gehen möchten, müssen Sie mir dieses Formular unterschreiben. Ich brauche Ihre Unterschrift, dass Sie sich auf eigene Verantwortung entlassen. Was ist das denn hier? Eine Bluse.“ Mit spitzen Fingern zieht sie zu meinem Entsetzen mein Kleidungsstück aus dem Mülleimer. „Warum haben Sie die in den Müll geschmissen? Die ist doch sehr schön und...“, bricht sie irritiert ihren Satz ab und starrt auf die riesigen, eingetrockneten Blutflecke auf der Brustseite und an den Ärmeln.

Blitzschnell reiße ich ihr die Bluse aus der Hand, stopfe sie in meine Reisetasche und stürme zur Tür. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich meine Jacke nicht geschlossen habe, und die Schwester fassungslos auf meinen nackten Oberkörper starrt.

„Halt, die Unterschrift.“

Mit zitternden Händen bewege ich den ausgehändigten Stift über das Papier und bringe einen unleserlichen Krakel zustande. Keuchend stehe ich auf dem Flur und halte krampfhaft meine Jacke vor meinem Körper zusammen. Elli, Elli, wie dringend hätte ich auch ein frisches Oberteil gebraucht.

„Frau Stolpe, wie kam das ganze Blut an Ihre Bluse? Wurden Sie gestern schon so eingeliefert? Sie waren doch gar nicht verletzt. Wieso haben Sie…“

Die letzten Worte rauschen an mir vorbei, weg, nur weg. Mein Gott, wie konnte ich nur so unüberlegt, so leichtsinnig, …die Bluse, …das Blut, …einfach in den Müll?

Du bist böse

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