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2. Kapitel

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Hanna Butt steht unschlüssig vor dem schmiedeeisernen Tor, den Arm zur Betätigung der Klingel ausgestreckt. In letzter Sekunde scheint sie es sich anders überlegt zu haben, lässt den Arm wieder sinken und dreht sich langsam zur Straße um. Nervös zupft sie am Ärmelaufschlag ihres Mantels, versucht, imaginäre Fussel zu entfernen, ohne ihre sinnlose Tätigkeit mit den Augen zu verfolgen. Hannas Blick schweift über die kurze Sackgasse und erfasst die wenigen Grundstücke. Die Anwohner haben die Eingrenzung ihrer Anwesen kreativ gestaltet. Dichte, hohe Hecken, kunstvoll arrangierte Holzverkleidungen, hässliche Plastikfolien befestigt an Drahtzäunen, aus unterschiedlichem Stein gemauerte Bollwerke reihen sich nahtlos aneinander. Eins haben alle Grenzen gemeinsam: Sie schützen die Bewohner in ihren Villen vor den unerwünschten Blicken Unbefugter.

Hanna Butt beendet das unsinnige Zupfen an ihrem Mantel und schlägt den Kragen hoch. Ihr braunes, glattes Haar, das ihr meistens locker über die Schultern fällt, hat sie heute zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, den sie mit einer schnellen, unwilligen Handbewegung aus dem Kragen hervorzieht. Fröstelnd schlägt sie ihre Arme um den schlanken, wohlgeformten Körper und hüpft mit geschlossenen Beinen mehrmals auf der Stelle. Die ausgeprägten, muskulösen Waden, die sich durch die enganliegende Hose abzeichnen, lassen erahnen, dass Hanna Butt regelmäßig Sport treibt. Es fällt ihr jedoch immer schwerer, sportliche Betätigungen in ihr enormes Arbeitspensum und die Erziehung ihrer kleinen Tochter einzubinden. Sie hat schnell erfahren, dass es unumgänglich ist, Abstriche bei den eigenen Bedürfnissen zu machen. Umso mehr genießt sie, die auf diese Weise gewonnene gemeinsame Zeit mit ihrer Tochter und ihrem Mann. Unschlüssig stampft sie mit beiden Füßen kraftvoll auf den Boden. Es ist zu kühl für einen Morgen im Juli. Noch einmal betrachtet sie den menschenleeren Straßenzug, bevor sie sich erneut dem Tor zuwendet, ohne jedoch Anstalten zu unternehmen, die Klingel zu betätigen. Ihr leicht gebräunter, makellos glatter Teint ist heute blass, scheint seine Vitalkraft verloren zu haben. Die vollen Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst, die Stirn verkrampft nach oben gezogen, sodass Zornesfalten wie kleine Rinnsale hervortreten, starrt sie auf ihre Schuhspitzen. Hanna Butt geht es nicht gut, scheint ihre Attraktivität, ihre professionelle Zielstrebigkeit in den letzten vierundzwanzig Stunden abgegeben zu haben. Sie fühlt sich matt, ausgelaugt, alt, obwohl sie erst vor wenigen Tagen ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert hat.

Plötzlich geht ein Ruck durch ihren Körper. Entschlossen drückt sie auf den Klingelknopf, wartet ungeduldig von einem Bein auf das andere tretend und betätigt den Knopf ein zweites Mal.

„Ja bitte?“ Die Stimme aus der Gegensprechanlage klingt leise, kraftlos und verzerrt.

„Herr Stolpe?“

„Ja.“ Nur ein Wort, unwillig, hörbar genervt, fast aggressiv.

„Guten Morgen, Herr Stolpe. Mein Name ist Butt, Hanna Butt. Ich bin Hauptkommissarin bei der Kriminalpolizei. Ich möchte mich gerne mit Ihnen unterhalten. Könnten Sie mir bitte das Tor öffnen?“ Sie trägt ihre Bitte verhalten, unsicher vor, möchte das Gespräch nicht führen, muss.

Nach nur wenigen Sekunden entriegelt sich das schwere, blickdichte Eisentor fast lautlos, gleitet in die Führung auf der gegenüberliegenden Seite und gibt die Sicht auf eine Villa frei. Sie ist nicht überladen pompös, eher elegant. Sie besticht mit klaren Linien, schnörkellos, stellt eine geschlossene, stilistisch überaus gelungene Einheit dar. Durch die großen Glaselemente, die das Gebäude beherrschen, lässt sich die luxuriöse Ausstattung erahnen.

Hanna betritt den gepflasterten Weg aus unebenen Natursteinen, verharrt erneut, wirft einen kurzen Blick zur Überwachungskamera, die auf einem Masten unmittelbar hinter dem Tor im Verborgenen angebracht ist und eilt auf das Haus zu.

Die schwere und doch schlicht gestaltete Eingangstür ist verschlossen. Vergeblich sucht Hanna Butt nach einer Klingel und dreht sich schulterzuckend zur parkähnlichen Gartenanlage um, die sie soeben, ohne bewusst wahrzunehmen, durchschritten hat. Blühende Rabatten, eingefasst mit Steinen, Sitzbänke aus Edelhölzern unter exotisch anmutenden Bäumen, ein filigraner Pavillon in der Nähe eines kleinen Fischteiches ziehen Hanna in ihren Bann. Eine Spielfläche für Kinder sucht sie vergeblich.

„Frau Butt? Möchten Sie reinkommen?“ Unbemerkt hat sich die Tür hinter ihr geöffnet. Hanna sieht sich einem Mann gegenüber, dessen Anblick das Unfassbare ihres Besuches erschreckend ins Bewusstsein zerrt. Hellblaue, tiefliegende Augen, als würden sie von einer unsichtbaren Kraft in die Augenhöhlen gezogen, umrandet von blauschwarzen Schatten, beherrschen das Gesicht, obwohl sie ausdruckslos an Hanna Butt vorbei zu irgendeinem Punkt außerhalb des Hauses schweifen. Steile Falten, die sich zu beiden Seiten der Mundwinkel eingegraben haben, verleihen dem blassen, kantigen, unrasierten Gesicht abweisende Härte. Frank Stolpe ist schlank, hält sich jedoch nach vorne gebeugt krampfhaft an der Türfüllung fest, sodass Hanna seine Körpergröße nur schlecht einschätzen kann. Nachdem sie den Mann taxiert hat, fällt sie die Entscheidung, dass es sich bei Herrn Stolpe unter normalen Umständen um einen gutaussehenden Mann handeln müsste. Nur flüchtig nimmt sie die ausgebeulte Jogginghose, das zerknautschte, leicht fleckige T-Shirt und die zwei unterschiedlichen, nicht zusammenpassenden Hausschuhe an seinen Füßen wahr. Die Kommissarin möchte ihn nicht weiter einer intensiveren Begutachtung aussetzen. Sie kann sich Herrn Stolpe jedoch zu anderen Gegebenheiten gepflegt, in exquisitem Dress vorstellen. Sofort verwirft sie diesen Gedanken wieder, befürchtet, durch ihr Wissen um seine gesellschaftliche Stellung, dem Menschen nicht vorurteilsfrei gegenüber zu stehen.

„Ja, was ist jetzt, kommen Sie rein, oder was?“ Seine Stimme klingt rau, abweisend. Bei seinen Worten hat er sich aufgerichtet, löst eine Hand von der Türfüllung, umfasst den Türgriff haltsuchend mit beiden Händen und gibt Hanna Butt den Blick in die Diele frei.

„Oh ja, natürlich, entschuldigen Sie bitte“, beeilt sich die Kommissarin, ihre Befangenheit herunterzuspielen und von der leichten Röte, die ihr Gesicht überzieht, abzulenken. Es ist ihr peinlich, den Mann so lange gemustert zu haben, obwohl sie sich nicht sicher ist, ob er in seinem Zustand ihre abschätzenden Blicke überhaupt wahrgenommen hat.

Hanna Butt bleibt abwartend auf dem breiten Flur stehen, der sich am Ende zu einem großflächigen Wohnbereich hin öffnet. Sie ist sich ihrer Unsicherheit durchaus bewusst. Sie führt sie auf das Unausweichliche des bevorstehenden Gesprächs zurück, eine Belastung, die sie in den letzten Stunden nahezu erdrückt hat. Hanna Butt fühlt sich ihrer Professionalität beraubt. Allmählich spürt sie jedoch, dass ihre zögerliche Vorgehensweise auch durch die gediegene Umgebung hervorgerufen wird. Hanna fühlt Verärgerung in sich aufsteigen, Verärgerung über ihr Empfinden, das eine Eigendynamik zu entwickeln scheint.

„Geht es schnell? Sie können mir sicher gleich hier auf dem Flur sagen, weshalb Sie hier sind. Ich bin zu längeren Gesprächen heute nicht in der Lage. Also, bitte.“ Frank Stolpe lehnt sich an die Wand, verschränkt die Arme vor der Brust und sieht Hanna zum ersten Mal direkt an. Sie stellt fest, dass er groß ist, mindestens einen Meter neunzig und jünger, als es an der Tür den Anschein hatte, Mitte vierzig vielleicht.

Sie lässt sich Zeit mit ihrer Antwort, versucht ihre Gefühlswelt zu ordnen. Sie will ihr Selbstvertrauen zurück, das sie für zielgerichtetes Arbeiten so dringend benötigt.

„Herr Stolpe, es wäre schon besser, wenn wir uns irgendwo hinsetzen könnten. Ich muss Ihnen etwas mitteilen und habe auch ein paar Fragen an Sie. Das ist hier nicht der geeignete Ort, glauben Sie mir.“ Mit diesen und ähnlichen Sätzen hat die Kommissarin schon öfter ein Gespräch eröffnen müssen, sodass sie sich kurzfristig auf sicherem, eingefahrenem Terrain befindet. Umso erstaunlicher sind ihre fahrigen Hände, die nervös und unablässig an den Haarspitzen ihres Pferdeschwanzes zupfen.

Die Sätze haben Frank Stolpes Interesse geweckt. Aufmerksam versucht er, im Gesicht der Polizistin zu lesen.

„Tja, dann kommen Sie. Wir können uns ins Wohnzimmer setzen. Sie haben hoffentlich Verständnis dafür, dass ich Sie bitte, sich kurz zu fassen.“ Ohne eine Reaktion abzuwarten, dreht er sich um und schlurft schwerfällig Richtung Wohnbereich. Hanna setzt ihre ersten Schritte zu schnell und muss abrupt abbremsen, um nicht auf den Mann aufzulaufen. Schmerzend langsam, Schritt für Schritt erreichen sie den Wohnbereich. Gerade noch das aufgezwungene lethargische Verhalten innerlich verfluchend, verharrt Hanna augenblicklich in der Mitte des Raumes. Nur wenige Möbelstücke, jedes für sich exquisit, einmalig, ziehen automatisch ihre Blicke an. Hanna fühlt sich von der Wucht der Ausstrahlung überwältigt. Nahezu andächtig betrachtet sie die wenigen ausgewählten Dekorationsstücke, erlesene Unikate, die die minimalistische Ausstattung des riesigen Wohnbereichs unterstreichen.

Frank Stolpe hat eine ausladende, cremefarbene Sitzlandschaft erreicht. Das Sofa und die bequem anmutenden Sessel stehen mitten im Raum, sollen magisch anziehen und gleichzeitig einen Ruhepol in dem großen Zimmer bilden. Beherrscht wird das gediegene Ambiente jedoch von einem schwarzen Hochglanzflügel, der, einem Ausstellungsstück vergleichbar, in der Sichtachse von Eingangstür und Terrassentür positioniert wurde. Die freischwingende Treppe, die in dem oberen Wohnbereich auf eine rundum verlaufende Galerie führt, scheint sich anmutig den Formen des exquisiten Instruments unterzuordnen. Der schwere, rechteckige Esstisch aus verschiedenen Edelhölzern steht losgelöst an der gegenüberliegenden Frontseite und scheint nicht oft zum Einsatz zu kommen.

„Bitte“, weist er Hanna Butt einen Platz in einem der Sessel zu, lässt ihr jedoch keine Zeit, sich zu setzen. Zu schnell stellt er die Frage, die unausgesprochen im Raum steht.

„Ich habe erst gar nicht richtig geschaltet, als Sie sich vorgestellt haben. Jetzt frage ich mich aber schon, weshalb Sie zu mir kommen, Sie, von der Kriminalpolizei.“ Müde lässt er sich in eine Sofaecke fallen und schaut aus geröteten Augen zu Hanna Butt auf. Wie unter einer schweren Last, streckt er seinen rechten Arm aus und zeigt erneut auf den Sessel.

„Nun setzen Sie sich doch schon endlich. Sie sehen doch, dass ich keine Kraft mehr habe, mich länger auf den Beinen zu halten. Es ist für mich unerträglich, wie Sie da stehen und auf mich herabschauen, mich förmlich taxieren.“ Schwer atmend schlägt er beide Hände vors Gesicht. Beklommen nimmt die Kommissarin das leise, unterdrückte Schluchzen wahr, registriert die Tränen, die sich durch seine Finger den Weg bahnen. Schnell, nahezu hastig setzt sie sich in den zugewiesenen Sessel und umklammert haltsuchend ihre Knie. Sie weiß, dass sie sich ruhigstellen muss, Frank Stolpe Zeit benötigt, sich wieder konzentrieren zu können. Es ist für sie schwer einzuschätzen, wie der zusammengesunkene Mann das unausweichliche Gespräch aufnehmen wird. Er erscheint ihr unberechenbar.

Den Blick auf Stolpe gerichtet, nimmt sie aus den Augenwinkeln durch das riesige Panoramafenster Teile des Gartens wahr. Interessiert wendet sie sich von Stolpe ab und versucht, die Einzelheiten der Anlage in sich aufzunehmen. An eine Terrasse, die an einer Seite von einem mächtigen, gemauerten Kamin begrenzt wird, schließt sich eine große Rasenfläche an. Das gesamte Grundstück ist von blühenden und immergrünen Zierbüschen umrahmt. An zwei Seiten wird das Areal von Ackerflächen, die nur spärlich an wenigen Stellen durch die dichte Bepflanzung sichtbar werden, eingegrenzt. An der Seite zum bebauten Nachbargrundstück ist die nahezu blickdichte Bepflanzung an einer schmalen Stelle unterbrochen und gibt die Sicht auf einen trennenden Maschendrahtzaun und eine dahinterliegende Villa aus der Gründerzeit frei. In dem Zaun befindet sich eine Tür, woraus Hanna schließt, dass nachbarschaftliche Kontakte erwünscht sind. Nachdenklich wendet sich die Kommissarin wieder dem vor ihr liegenden Grundstück zu und entdeckt am Ende der riesigen Rasenfläche, was sie im Garten vor dem Haus vermisst hatte.

Die Spielfläche ist nicht groß, eine Sandkiste, eine Rutsche und eine Schaukel. <Ziemlich lieb-, und einfallslos, bedenkt man die aufwendig angelegte Umgebung und die Ausstattung des Hauses>, schießt es Hanna durch den Kopf. Ihre Aufmerksamkeit wird jedoch von einem anderen Objekt angezogen. Ein mannshoher Maschendrahtzaun umrandet die komplette Spielfläche, grenzt sie wie ein Gefängnis ein, durchsichtig, aber nicht durchlässig. Nachdenklich starrt Hanna Butt auf die weit geöffnete Tür aus Drahtgeflecht und kann den leichten Schauer, der ihr den Rücken hinunterkriecht, nicht verhindern.

„Entschuldigen Sie, aber ich... was wollten Sie mir sagen?“, wird die Kommissarin aus ihren Gedanken gerissen. Umständlich zieht Frank Stolpe ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und putzt sich laut und ausgiebig die Nase. Mit verquollenem Gesicht sucht er die Augen der Kommissarin und ist deutlich um Haltung bemüht. Hanna spürt, dass sie ihn nun erreichen kann.

„Herr Stolpe, ich weiß, was Sie im Moment durchmachen. Ich muss Ihnen trotzdem ein paar Fragen stellen. Es geht nicht anders, und es fällt mir schwer, sehr schwer, Sie hier mit meiner Anwesenheit zu quälen.“ Bevor sie fortfährt, beobachtet sie Frank Stolpe kritisch und trifft für sich die Entscheidung, dass er für die nächsten Angaben, die wesentlichen Angaben, bereit ist. „Ihr Sohn Leif ist bei uns in der Rechtsmedizin untersucht worden. Aus dieser Untersuchung haben sich Fragen ergeben, die zu klären, Aufgabe der Kriminalpolizei ist. Deshalb bin ich heute bei Ihnen.“ Hanna Butt hält ihre Knie noch fester umklammert und bemüht sich um gleichmäßiges, ruhiges Ein- und Ausatmen. Gebannt beobachtet sie die Reaktion ihres Gegenübers. Frank Stolpe starrt sie verständnislos an und schüttelt unentwegt entgeistert seinen Kopf.

„Was soll das? Was hat mein Sohn in der Rechtsmedizin zu suchen? Was haben die da mit ihm gemacht? Warum bin ich nicht gefragt worden? Das erlaube ich nicht. Hören Sie? Das erlaube ich einfach nicht!“ Stolpes Stimme steigert sich mit jedem Satz, schreit den letzten förmlich heraus. Unerwartet schnell und kraftvoll springt er auf und steht mit wenigen Schritten breitbeinig vor der Kommissarin. Hanna Butt streckt reaktionsschnell die Arme abwehrend vor ihrem Körper aus.

„Herr Stolpe, bitte beruhigen Sie sich. Ich bin ja hier, um Ihnen alles zu erklären. Das geht aber nur, wenn Sie versuchen, mir zuzuhören, sich auf meine Ausführungen einzulassen. Ich weiß, dass das schwierig ist, aber versuchen Sie es, bitte.“

Frank Stolpe läuft zur Terrassentür, schlägt mit den Fäusten an die Scheibe und legt erschöpft die Stirn dagegen. Hanna erhebt sich vorsichtig aus dem Sessel und nähert sich dem Mann. Behutsam legt sie eine Hand auf seine Schulter, die Stolpe sofort wegschlägt, sich ansonsten jedoch nicht von der Stelle bewegt.

„Kommen Sie, setzen Sie sich wieder.“ Erneut sucht sie Körperkontakt, fasst ihn am Oberarm und zieht ihn sachte zum Sofa, was Stolpe ohne Widerstand geschehen lässt. Abwartend bleibt Hanna vor ihm stehen. Sie bereut, den Weg hierher allein, ohne die Begleitung des Psychologen, angetreten zu haben. Es wird ihr bewusst, dass sie sich den Vorwürfen ihres Vorgesetzten stellen muss, sollte Stolpe endgültig zusammenbrechen oder total ausrasten. Die Vorstellung, bei Ihrem Chef Rede und Antwort stehen zu müssen, bereitet ihr Unbehagen. Erleichtert atmet sie auf, als der Mann sich erneut aufs Sofa fallen lässt. Er starrt vor sich hin, regungslos, nahezu apathisch, scheinbar in einer anderen Welt verhaftet, was bei Hanna erneut Hilflosigkeit auslöst.

„Gibt es denn Verwandte oder Freunde, die sich um Sie kümmern? Ich kann Ihnen unseren Polizeipsychologen schicken, nur wenn Ihnen das Recht ist, natürlich“, versucht Hanna ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. „Warten Sie, ich bringe Ihnen ein Glas Wasser“, fährt sie eifrig fort, als sie auf einem Beistelltisch eine Wasserkaraffe entdeckt. „Es macht mir nicht den Eindruck, als wäre hier jemand, der Ihnen Beistand leistet, Herr Stolpe. Sie sind ganz alleine, wenn ich das richtig sehe. Das ist nicht gut. Soll ich nicht doch...?“

„Lassen Sie das. Und setzen Sie sich gefälligst wieder. Sie sind mir Erklärungen schuldig, statt hier aufgescheucht rumzulaufen und den Samariter zu spielen. Sie gehen mir auf die Nerven. Also beantworten Sie meine Frage, und dann verlassen Sie mein Haus und zwar so schnell wie möglich.“ Die Worte fallen klar und deutlich, jedes einzelne wohl akzentuiert. Sein Kopf ist hoch aufgerichtet, hat sich förmlich aus den Schultern geschraubt. Die Augen liegen nicht mehr glanzlos in den Augenhöhlen, sondern versprühen Hass. Seine Körperhaltung spiegelt Abwehr und Angriff zugleich wider.

Hanna ist erschreckt aber auch gleichzeitig fasziniert, in welch kurzer Zeit, der Mann sich unter Kontrolle bringen konnte. <Da zeigt er sich also, der harte, unerschütterliche Geschäftsmann, gewohnt, Befehle zu erteilen aber auch einzustecken. Hab doch geahnt, dass du den Machtmenschen noch raushängen lässt>. Beschämt über ihre eigenen Gedanken, ruft sie sich sofort wieder ins Bewusstsein, dass sie es mit einem tief trauernden Menschen zu tun hat, dem die Rechte aller Trauernden zu irrationalem Handeln zustehen. Ohne weiter auf seine Worte und seine Haltung einzugehen, setzt sie sich in den Sessel, beugt sich vor und stützt die Ellenbogen auf den Knien ab.

„Mein Angebot für den psychologischen Dienst steht und bleibt auch bestehen. Bitte vergessen Sie das nicht, Herr Stolpe. Also“, setzt sie nach einem kurzen Räuspern zu ihrem Bericht an. „Leider konnten die Ärzte im Stadtkrankenhaus das Leben Ihres Sohnes Leif nicht mehr retten. Das ist entsetzlich, einfach gnadenlos schmerzhaft.“ Die letzten Worte sind so leise gesprochen, dass sie sich in dem großen Raum verlieren, nahezu untergehen und doch das Grauen nicht ungeschehen machen können. Wieder und wieder räuspert sich Hanna, bemüht, ihr eigenes Entsetzen zu beherrschen. „Mir wurde berichtet, dass Sie Ihren Sohn gestern bis zu seinem Tod begleitet haben“, setzt sie erneut, nun etwas lauter, an. „Ich möchte deshalb nicht näher auf die Bemühungen der Ärzte im Krankenhaus eingehen, Sie nicht damit quälen. Ich muss Ihnen aber mitteilen, dass die Ärzte Verletzungen bei Ihrem Sohn festgestellt haben, die für sie nicht so eindeutig zu erklären waren. Die Ärzte haben sich daraufhin mit meiner Dienststelle in Verbindung gesetzt, und ich habe anordnen lassen, Ihren Sohn gestern Abend zu uns in die Pathologie zu überführen. Herr Stolpe, haben Sie mitbekommen, was ich Ihnen eben gesagt habe?“ Wachsam beobachtet sie die Reaktion des Mannes. Er starrt sie an, ausdruckslos, scheinbar gefühlskalt. Hanna kann sein Verhalten nicht einschätzen, ist auf alles gefasst und wünscht sich an einen anderen Ort, mit anderen Nachrichten.

„Also, Herr Stolpe...“.

„Hören Sie auf! Ich erwarte von Ihnen keine Anteilnahme und schon gar keine Rücksichtnahme. Was heißt keine eindeutig erklärbaren Verletzungen? Mein Sohn ist von der Schaukel gefallen. Da draußen, da, schauen Sie hin, von dieser Schaukel da. Er ist auf die Steinplatten gefallen. Es dürfte ja wohl nachvollziehbar sein, dass ein Kind von vier Jahren, sich Verletzungen zuzieht, wenn es von einer Schaukel fällt und auf Steinplatten stürzt. Wer sind die Ärzte, denen hierfür das nötige Vorstellungsvermögen fehlt. Und deswegen verfrachten Sie meinen Sohn in die Pathologie? Unfassbar, verantwortungslos, Frau Kommissarin. Geben Sie mir die Namen der Ärzte. Ich möchte sofort mit ihnen sprechen.“ Schwer atmend stützt er sich seitlich auf dem Sofa ab, will sich erheben, beendet sein Vorhaben jedoch und starrt die Kommissarin herausfordernd an.

„Es ist natürlich nachvollziehbar, dass ein Sturz von der Schaukel Verletzungen nach sich zieht. Ich habe dem Protokoll der Rettungssanitäter, die zum Unfallort gerufen worden waren, entnommen, dass niemand in der Nähe war, als Ihr Sohn von der Schaukel fiel. Ihr Sohn hat also alleine geschaukelt, hat sich selber Schwung gegeben. Sie haben eben das Alter Ihres Sohnes erwähnt, Herr Stolpe. Die Art und Schwere der Verletzungen sind auf einen Sturz aus großer Höhe zurückzuführen. Es sind berechtigte Zweifel aufgekommen, dass ein vierjähriges Kind es selbständig schafft, sich in extreme Höhen auf einer Schaukel, na sagen wir mal, zu schrauben.“

Die einsetzende Stille hat etwas Gefährliches, Lauerndes, eine Stille, in der man sich unweigerlich vor dem Bevorstehenden schützen möchte. Stolpe sitzt wie versteinert, nur sein Unterkiefer macht eine Schnappbewegung. Hanna Butt lässt den Mann nicht aus den Augen und versucht, seine nächste Reaktion zu erahnen. Sie kann ihn immer noch nicht einschätzen und rechnet mit einer Bandbreite an Gefühlsausbrüchen, was ihr Unbehagen noch verstärkt. Sie weiß, dass sie nun fortfahren müsste, um die Oberhand über den weiteren Verlauf des Gesprächs zu behalten und die Situation nicht eskalieren zu lassen. Der Blick in das Gesicht des Mannes hält sie jedoch wie unter Zwang davon ab, weitere Erklärungen abzugeben. Es sind seine hellblauen, wachsamen Augen, die die Stumpfheit der Trauer verloren haben, die sie förmlich zu durchbohren scheinen und ihr den Atem stocken lassen. Nach scheinbar endlosen Minuten steht Stolpe schwerfällig auf, geht erneut zur Fensterfront und stützt sich mit beiden Händen ab. Hanna betrachtet seinen verkrampften Rücken und vermutet, dass Stolpes Blick auf der Schaukel ruht.

„Was wollen Sie mir damit sagen?“, vernimmt Hanna schwach seine ruhige und gefasste Stimme. Erneut hat sich sein Verhalten zum vorherigen Auftreten verändert, zeigt extreme Gemütsschwankungen, mit denen Menschen nach unfassbaren, grauenvollen Ereignissen zu kämpfen haben.

„Meine Kollegen und ich haben die Aufgabe, zu klären, wie der Unfall Ihres Sohnes zustande gekommen ist. Dafür müssen wir Ermittlungen anstellen, um auszuschließen, dass bei dem Unfall Fremdverschulden vorliegt. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass Sie das überrascht, verärgert, ja möglicherweise auch verunsichert, aber nach den Untersuchungsergebnissen und Bedenken mehrere Ärzte, sind Sie vielleicht auch daran interessiert, die aufgetretenen Fragen beantwortet zu bekommen.“

„Nein, das bin ich nicht. Ich habe zu dem Unfall keine Fragen.“

„Die ergeben sich aber aus den Untersuchungen, und wir können sie nicht einfach vom Tisch wischen, Herr Stolpe.“

„Welcher Art und Schwere sind die Verletzungen?“

„Ich werde Ihnen die Berichte der Ärzte zukommen lassen. Dann können Sie in Ruhe alles nachlesen, und sollten Sie dann Fragen haben, so kann Ihnen unser Pathologe diese beantworten.“

„Wurde mein Sohn in der Rechtsmedizin aufgeschnitten, obduziert, meine ich?“

„Ja“, bringt Hanna nur das eine Wort, das so viele Emotionen freilegt, über die Lippen.

Der qualvolle Laut, den Frank Stolpe ausstößt, lässt Hanna zusammenzucken. Sie zögert mit ihrem nächsten Vorstoß, sieht sich aber unter Zeitdruck.

„Herr Stolpe, für unsere Ermittlungen ist es unerlässlich, dass wir den Unfallort und die umliegende Umgebung näher untersuchen. Das macht im Zuge von Aufklärungsarbeiten immer unsere Spurensicherung. Es ist ja nun schon mehr als vierundzwanzig Stunden her, seit Ihr Sohn verunglückt ist, aber wir haben die Informationen über die Art der Verletzungen erst heute in den frühen Morgenstunden erhalten. Somit kommen die Kollegen der Spurensicherung erst jetzt zu Ihnen auf das Grundstück. Sie sind unterwegs und müssten eigentlich jeden Moment hier sein. Regen Sie sich nicht auf, Herr Stolpe, und lassen Sie die Kollegen einfach ihre Arbeit machen. Ich könnte mir vorstellen, dass es Sie belastet, dabei zuzuschauen. Wir beide könnten uns hier von der Fensterfläche etwas zurückziehen und in einem Gespräch meine Fragen klären. Wäre das möglich? Die Kollegen werden da draußen auch einige Tests durchführen, um zum Beispiel Aufschluss über vermeintliche Sturzhöhen zu erlangen. Ich hielte es für keine gute Idee, wenn Sie dabei zugegen wären. Sie verstehen?“

„Ja“, leise, rau, gequält.

Der Dreitonklang einer Türglocke zerreißt die Stille.

„Das müssten die Kollegen der Spurensicherung sein. Können Sie ihnen bitte das Tor öffnen?“

Stolpe drückt sich energisch von der Scheibe ab und schlurft mit hängenden Schultern Richtung Flur an Hanna Butt vorbei, ohne sie weiter zu beachten.

Ihre Frage kommt unvorbereitet, wie aus dem Nichts, erreicht ihn fast in Abwesenheit.

„Wer war bei dem Unfall eigentlich dabei, hier im Haus oder Garten? Ich meine, wer hat Ihren Sohn gefunden?“

„Ich.“

Du bist böse

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