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4. Kapitel

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Die ersten Sonnenstrahlen haben sich einen Weg durch die dichte Wolkendecke gebahnt. Schnell hat sich die kalte Morgenluft erwärmt. Hanna Butt tritt aus dem Schatten eines großen Ginko Baumes. Sie reibt ihre klammen Handflächen aneinander, öffnet ihren Mantel und dreht ihr Gesicht flüchtig der Sonne entgegen. Mit einem tiefen Seufzer wendet sie sich wieder dem Geschehen auf dem kleinen Spielplatz zu.

Die Mitarbeiter der Spurensicherung haben bereits jeden Zentimeter der trostlosen, eingezäunten Fläche abgesucht, Fotos geschossen und Fundstücke in Asservatenbeuteln verschlossen. Die Kollegen sind ihr seit Jahren bekannt, ihre Arbeitsweise ist ihr vertraut. Sie weiß, dass sie sich stets auf die gelieferten Ergebnisse verlassen kann. Trotzdem schaut sie ihnen gebannt zu und richtet ihr Augenmerk auf einen Beamten, der soeben den Schaukelsitz und seine Aufhängung abmontiert, um beides in einen großen Plastikbehälter zu verpacken. Er spürt ihre Blicke, hebt kurz den Kopf, nickt unmerklich und wendet sich wieder seiner Arbeit zu. Sie entnimmt seiner Reaktion, dass er etwas gefunden hat, etwas, das nicht unbedingt zu der Ausstattung einer Schaukel gehört. Ihr Interesse ist jedoch nicht sonderlich geweckt. Sie weiß aus der eigenen Erfahrung als Mutter, dass an einer Schaukel, Anziehungspunkt für Kinder, Eltern, Freunde, so manches dran kleben bleibt. Der Kollege neben der Schaukel sucht erneut ihren Blickkontakt und wedelt mit der Hand, was Hanna Butt mit einem aufmunternden Lächeln quittiert. Mit seinem Zeigefinger deutet er auf die Sitzfläche der Schaukel. Hanna tritt an die Einzäunung und sieht den großen, schwarzen, scheinbar eingebrannten Fleck mitten auf der Sitzfläche, der für ihren Kollegen von besonderer Bedeutung scheint.

„Was ist das? Na, egal. Ihr nehmt ja sowieso das Brett samt Aufhängung mit. Das Labor wird es schon machen.“

Der Beamte zuckt die Schultern und schließt den Deckel der Kiste. Hanna zieht einen kleinen Notizblock aus der Manteltasche, notiert >Schaukelsitz< und weiß bereits während des Schreibens, dass sie sich eines Ablenkungsmanövers bedient. Für diesen Fleck benötigt sie keine Gedächtnisstütze. Die Analyse wird man ihr unaufgefordert schriftlich auf den Schreibtisch legen. Umständlich schiebt sie den Block wieder in ihre Tasche. Es war nur der Versuch, ein wenig Zeit zu schinden, ein kurzes Aufschieben des Unvermeidbaren. Es ist für sie unausweichlich, sich der großen, dunklen Lache auf den Steinplatten zuzuwenden, einem Fleck, der für sie das ganze Drama, das sich hier abgespielt haben muss, widerspiegelt. Sie schluckt hart und trocken, während sie die schockierenden Bilder verarbeitet, die vor ihrem geistigen Auge, hervorgerufen aus Fantasie und Berufserfahrung, unweigerlich ablaufen.

„Sollen die wirklich den ganzen Garten abgrasen? Reicht nicht nur diese unwirkliche Spielfläche?“

Hanna Butt fährt erschreckt herum und atmet erleichtert auf, als sie sich ihrem jungen Kollegen Ben gegenübersieht. Locker sportlich, vielleicht eine Spur zu lässig cool, mit rutschender, ausgebeulter Jeans und einem ausgeleierten Shirt steht er vor ihr, beäugt sie prüfend und bedenkt sie mit seinem unverwechselbaren, spitzbübischen, jungenhaften Grinsen.

„Komm runter, Hanna.“

Ben arbeitet noch nicht lange mit Hanna Butt zusammen. In der kurzen Zeit hat sie sein Feingespür für menschliche Regungen schätzen gelernt. Von großem Vorteil ist bei Ermittlungen die Diskrepanz seines Auftretens, das von ihm bewusst vorgeführte, mitunter schlampige Outfit und auf der anderen Seite seine Feinfühligkeit. Oft schon wurde er sträflich unterschätzt.

„Alles okay.“ Mit fahrigen Händen wischt sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn und bemüht sich um ein ungezwungenes Lächeln.

„Versuch es erst gar nicht. Kauft dir sowieso keiner ab. Was macht der Staatsanwalt eigentlich hier?“, raunt er ihr mit leicht sarkastischem Unterton zu. „Der kommt doch sonst meist erst, wenn wir schon fertig sind“, unternimmt er keinen Versuch, seine abfällig nach unten verzogenen Mundwinkel zu verbergen.

Hanna schiebt die Unterlippe vor, schubst ihren jungen Kollegen mit dem Ellenbogen in die Seite und schüttelt leicht den Kopf. Sie möchte Ben vor seinem gezielt eingesetzten, respektlosen Verhalten bewahren, wozu er in Gegenwart von Vorgesetzten nur allzu leicht neigt. Sie führt es auf jugendlichen Leichtsinn zurück, dem Streben nach selbständigem, selbstbestimmtem Arbeiten. Weiß aber auch, dass ihm bisher die Erfahrung in der Zusammenarbeit mit vorgesetzten Stellen fehlt. Sie ist sich sicher, dass er nach erfolgten Berührungspunkten, seine Sichtweise zukünftig unweigerlich verändern wird.

„Ben, verrenn dich da nicht in eine Haltung, die dir über kurz oder lang nicht gut bekommt. Du tust ihm auch ein bisschen Unrecht. Staatsanwälte tauchen fast immer auf. Das muss ich dir ja wohl nicht sagen. So neu bist du auch wieder nicht. Also stell dich nicht bewusst so blöd. Jörges ist allerdings extrem früh vor Ort. Er hat mich schon begrüßt, kam bereits unmittelbar nach der SPUSI hier an.“

„Nichts anderes sag ich doch“, grinst Ben die Kommissarin entwaffnend an.

„Stolpe und Jörges kennen sich, gut sogar. Sie duzen sich, habe ich vorhin mitbekommen.“

„Na klar, vom Golfen oder aus dem Reitclub.“

„Mensch Ben, nun lass doch mal deine Vorurteile beiseite“, fährt Hanna ihn leicht genervt an, um sich sofort beschämt an ihre eigene Einstellung bei der ersten Begegnung am Morgen zu erinnern. „Stolpe ist ein angesehener Architekt. Weißt du eigentlich welche Bauwerke hier in der Stadt alle von seinem Büro entworfen wurden? Unzählige, und ich möchte nicht wissen, was außerhalb dieser Stadt noch seine Handschrift trägt. Ich habe die Nacht mal gegoogelt. Stolpe ist im Vorstand eines Wohltätigkeitsverbandes und engagiert sich für die sportliche Jugendförderung in unserer Stadt. Da kennt man sich eben. Vielleicht golfen die beiden auch zusammen. Mein Gott sind das abgedroschene Klischees. Er war so früh hier, weil ihn der Tod des Kindes genauso betroffen macht wie uns. Jörges kennt die Familie, und da können wir mit unserem Empfinden gar nicht mithalten.“

„Du hast in der Nacht gegoogelt? Konntest also nicht schlafen. Zieh dir das mit dem Kind hier bloß nicht so rein. Deine Tochter ist zwar genauso alt, aber sie lebt, hörst du? Das ist hier nur Arbeit, sonst nichts.“

„Die sollen hier den ganzen Garten absuchen“, geht Hanna Butt auf Bens Bemerkungen nicht ein, dreht sich ruckartig weg. „Ach ja, sorg mal dafür, dass der Film aus der Überwachungskamera vorne am Eingang sichergestellt wird und überprüf mal, ob es noch weitere Kameras gibt. Hier nach hinten raus wäre doch ideal. Ich werde die Befragung von Stolpe fortsetzen. Bin vorhin nicht weit gekommen, hab gleich abgebrochen, als Jörges, ich meine Staatsanwalt Jörges kam“, verbessert sie sich grinsend.

„Ich dachte, die wollen hier auch Versuche zur Fallhöhe, Geschwindigkeit und anderen physikalischen Daten durchführen.“

„Ja, aber nicht heute Morgen. Jörges hat mir vorhin mitgeteilt, dass er einen Prof von der Uni mit hinzuziehen möchte. Das geht dann erst heute Nachmittag.“

„Bernd hat doch schon die Schaukel abgebaut. Bringen sie eine vergleichbare an?“

„Keine Ahnung. Vielleicht muss das ja auch gar nicht hier vor Ort geschehen. Wäre auf jeden Fall für den Vater besser. Ich stelle es mir schrecklich vor, hier die Simulation des Todes des eigenen Kindes zu verfolgen. Wenigstens bekommt die Mutter im Krankenhaus davon nichts mit. Ich fahre nachher zu ihr, und du kommst mit. Vorher schnapp dir aber die Filme aus der Kamera und schau sie dir im Büro schon mal an. Muss mich gleich noch mal bei Jörges schlaumachen.“

Hanna Butt dreht sich noch einmal zu den Beamten der SPUSI um und hebt zum Abschied grüßend die Hand, während Kollege Bernd schnaufend mit der Kiste vor seinem Bauch auf sie zukommt.

„Hanna, du siehst scheiße aus. Verschwinde hier aus dem Garten, starr nicht ständig diese gottverdammte Schaukel an. Geh da rein und sprich mit dem Vater. Lass uns das hier draußen machen. Du weißt, wie dich das runterzieht, wenn es um Kinder geht.“

„Und was ist mit dir?“, ruft Hanna ihm hinterher, erntet jedoch nur ein kurzes Achselzucken.

Als sie sich der Terrasse zuwendet, nimmt sie aus den Augenwinkeln an der Begrenzung zum Nachbargrundstück eine Bewegung wahr. Interessiert taxiert sie die dichte Hecke, bis sie zu der Auslassung für die eingebaute Gartentür kommt, die ihr vorher schon aufgefallen war. Das Tor ist gerade so hoch, dass der Kopf einer älteren Frau zu sehen ist. Mit beiden Händen scheint sie sich an der Tür in die Höhe gezogen zu haben, um neugierig das Geschehen auf dem Nachbargrundstück verfolgen zu können. Die vollen, stahlgrauen Haare umrahmen ihr Gesicht in einer Art Bubikopf-Frisur, was ihr eine jugendliche Note verleiht. Das Gesicht ist dezent geschminkt und lässt keine konkreten Angaben über das Alter der Frau zu. Als sie bemerkt, dass die Kommissarin sie entdeckt hat, löst sie blitzschnell die Hände von dem Tor und zieht ihren Kopf zurück. Die schnellen, klackenden Schritte und das Schlagen einer Haustür verraten ihren Rückzug, der einer Flucht gleichkommt.

Hanna zieht erneut ihr Notizbuch aus der Tasche und notiert <Nachbarin>. Sie ahnt, dass diese Notiz für sie noch wichtig werden wird.

Die Hände tief in den Taschen seiner Jogginghose vergraben, steht Frank Stolpe in der weit geöffneten Terrassentür. Die nicht zusammengehörenden Hausschuhe hat er durch ein Paar schwarze Halbschuhe ausgewechselt, das verdreckte Shirt durch ein sauberes Hemd getauscht. Staatsanwalt Jörges spricht leise und für Hanna unverständlich auf ihn ein, legt seine Hand auf Stolpes Schulter, zieht sie sofort zurück, als die Kommissarin sich der Terrasse nähert. Entschlossen befreit Stolpe seine Hände aus den Hosentaschen und macht mit baumelnden Armen einige Schritte in den Wohnbereich.

„Frau Butt, Sie wollten vorhin mit Herrn Stolpe ein Gespräch führen. Ich habe Sie mit meiner Ankunft unterbrochen. Fahren Sie doch bitte fort. Ist es erforderlich, dass ich dabei bin? Wenn nicht, dann würde ich mich jetzt gerne verabschieden.“

„Ich denke, Ihre Anwesenheit ist nicht unbedingt erforderlich. Vielleicht ist es Herrn Stolpe auch ganz recht, mit mir alleine ein erstes Gespräch zu führen. Sie scheinen sich privat sehr gut zu kennen und manchmal hemmt Nähe die Beteiligten.“

Jörges hebt die Augenbrauen, scheint etwas erwidern zu wollen, schwankt zwischen Verärgerung und Verunsicherung.

„Ja, dann bis später Frank. Ich melde mich bei dir“, wendet er sich ohne Verabschiedung von Hanna Butt zum Gehen.

„Wo können wir uns in Ruhe unterhalten, Herr Stolpe. Lassen Sie uns in einen anderen, dem Garten abgewandten Raum gehen, bitte.“ Zu spät fällt ihr ein, den Staatsanwalt nicht nach Ort und Ablauf der Versuche gefragt zu haben.

Du bist böse

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