Читать книгу Du bist böse - Mara Dissen - Страница 13
6. Kapitel
ОглавлениеFrau Butt lächelt mir aufmunternd zu und schweigt erwartungsvoll. Sie ist geschult genug, um zu wissen, dass sie jetzt nicht weiter in uns dringen darf. Sie ist geschickt vorgegangen. Statt uns mit bohrenden Fragen in die Enge zu treiben, übergibt sie uns den Erzählpart. Sie dürfte auch erfahren genug sein, sich aus den Erzählungen ein Bild zu machen, aber welches? Langsam führt sie ihre Kaffeetasse an den Mund, ohne mich aus den Augen zu lassen. Es fasziniert mich, wie es ihr gelingt, den heißen Kaffee zu trinken, und mich gleichzeitig mit ihren Augen einfühlsam anzulächeln. Plötzlich verspüre ich das unbändige Bedürfnis, über meinen Sohn zu sprechen, nicht mit irgendjemandem, aber mit dieser Frau. Mit Elli habe ich oft über Leif gesprochen, eigentlich ständig. Das war aber etwas vollkommen anderes, als das Gefühl, das mich jetzt überkommt.
„Leif war ein Wunschkind“, schießt es förmlich aus mir heraus. „Mein Mann und ich wollten unbedingt ein Kind. Das heißt, mein Mann wollte zwei und ich nur eins. Wir konnten uns da nie drüber einig werden. Eigentlich begann unsere Unstimmigkeit aber schon bei dem einen Kind. Wir konnten uns nicht auf einen Namen einigen. Mein Mann wollte, dass unser Sohn Leif getauft wird, und ich wollte, dass er Milan heißt. Wissen Sie was Milan bedeutet? Nein? Der Liebe, der Angenehme. Leif ist übersetzt der Nachkomme, der Erbe. Ist doch klar, wer sich durchgesetzt hat, wenn Sie sich hier umsehen, was mein Mann mit seinem Geld geschaffen hat. Schnell nachvollziehbar, dass diese Schätze vererbt werden müssen, an einen Jungen namens Leif natürlich.“ Es gelingt mir nicht, ein sarkastisches Lächeln zu unterdrücken. Ich weiß genau, wie ich bei diesem Grinsen jetzt aussehe, benötige keinen Spiegel. Frank hat es mir allzu oft mit bildhaften Adjektiven beschrieben. Ich möchte so nicht aussehen, nicht jetzt. Ich möchte über mein Kind reden und dabei sollen Sticheleien, bösartige, gemeine Anfeindungen außen vor bleiben. Es soll ein schönes, friedvolles Bild werden, das ich zeichne, das sich wohltuend wie ein dünner Schleier über all das Grauen legt, ein kunstvoll errichtetes Gerüst, an dem man sich hochhangeln kann, bevor der Absturz in die emotionale Tiefe droht. Schnell versuche ich, meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bekommen und bedecke meinen Mund zusätzlich mit meiner rechten Hand. Frank hat meine Entgleisung natürlich gehört und augenscheinlich auch gesehen. Angewidert schaut er mich an und schüttelt den Kopf.
„Mach nur ruhig weiter“, ist alles was er von sich gibt und das Wohnzimmer über die Terrasse verlässt.
„Bleib hier. Du kannst dich nicht immer der Verantwortung entziehen, wenn es um dein Kind geht, das du gezeugt hast, zeugen wolltest, falls du dich noch erinnerst. Du kannst ruhig hierbleiben. Leif stört dich nicht mehr. Er ist tot, kapierst du? Tot!“, schreie ich hinter ihm her. Mein Gott. Entsetzt beiße ich auf meine Unterlippe und schlage die Hände vors Gesicht. Der Weinkrampf kommt völlig unerwartet. Vor wenigen Minuten habe ich mich doch noch so stark gefühlt, wollte die Erinnerungen an Leif zulassen und jetzt dieses erbärmliche Verhalten. Wahrscheinlich verlieren die Medikamente, die man mir im Krankenhaus verabreicht hat, so langsam ihre Wirkung. Ich weiß nicht, wie lange ich schon vor mich hin weine, spüre aber plötzlich eine Hand auf meiner Schulter. Die Kommissarin steht neben mir und erreicht mit dieser kleinen, trostspendenden Geste, dass das Zittern meines Körpers nachlässt. Langsam hebe ich den Kopf und betrachte wie in Trance meine Umgebung. Frank ist einfach weitergegangen, steht jetzt bei den Polizisten im Garten und schaut ihnen bei der Arbeit zu. Welche Arbeit? Was suchen die eigentlich, schießt es mir durch den Kopf. Ich brauche endlich Klarheiten und wage nicht, verdammt noch mal, meine Fragen zu stellen.
„Lassen Sie ihn“, höre ich die Kommissarin wie durch Watte. „Leif ist ein sehr schöner Name. Er ist auch sehr selten. Man hört ihn nicht an jeder Straßenecke, und somit ist er doch auch etwas Ausgefallenes, etwas Besonderes, wie Ihr Kind. Ich stelle mir bei dem Namen einen blonden Jungen vor. War Ihr Kind blond?“ Prüfend schaue ich der Beamtin ins Gesicht, versuche, darin zu lesen. Kann es sein, dass ich wirklich Empathie bei ihr entdecke?
„Ja, mein Sohn war blond“, nehme ich dankbar ihre Hilfe an und bewundere gleichzeitig ihr geschicktes Vorgehen. „Er war blond, schlank und groß für sein Alter. Ich bin ja nur klein und knubbelig, aber er geht da wohl nach seinem Vater. Und gelenkig und schnell ist er, wieselflink. Mit seinen stahlblauen Augen in seinem weichen, runden Gesichtchen nimmt er die Menschen sofort für sich ein.“ Entsetzt starre ich auf mein zerknülltes Taschentuch, das ich krampfhaft in der Hand halte. Zu spät bemerke ich, dass die letzten Sätze in der Gegenwart gesprochen waren. Erneut wollen mir Tränen die Kehle zuschnüren.
„Ich vermute mal, Ihr Kind war sehr lebhaft, oder vielleicht passt neugierig besser?“ Misstrauisch taxiere ich die Frau. Was soll diese Frage? Was bezweckt sie damit? Ich entdecke erneut einfühlsame Zuwendung oder täusche ich mich? Sie ist hoch konzentriert, das fällt schon auf, aber ihre Fragen erscheinen mir nicht hintergründig. Sie muss fragen. Schließlich ist sie Ermittlerin in einem..., ja, was denn eigentlich? Auf jeden Fall ist es ihr gelungen, meinen erneuten Tränenschwall zu unterbinden. Ich will Klarheit.
„Wieso glauben Sie, dass mein Kind sehr lebhaft war?“ Sie antwortet mir nicht gleich, neigt den Kopf schräg zur Seite und betrachtet mich ausgiebig. Irgendetwas in ihrem Blick hat sich verändert. Ich kann es aber nicht deuten.
„Sie haben gerade zu Ihrem Mann gesagt, dass er ruhig hierbleiben kann, da ihn sein Sohn Leif nicht mehr stört. Daraus habe ich entnommen, dass Leif ein Kind war, das seine Rechte durchsetzungsfähig eingefordert hat.“
<Vorsichtig, Bianca, warnt mich meine innere Stimme. Überleg jetzt sehr genau, was du sagst.>
„Frau Stolpe, Sie müssen darauf nicht antworten. Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass es für Ihren Mann anstrengend ist, nach einem stressigen Arbeitstag nach Hause zu kommen und dann noch die Bedürfnisse eines aufgeweckten Kindes erfüllen zu müssen. Ihr Mann hat schließlich einen sehr anspruchsvollen und mitunter bestimmt auch aufreibenden Beruf.“ Bei diesen Sätzen packt mich die blanke Wut, kann nicht mehr an mich halten.
„Was glauben Sie, was ich hier jeden Tag durchlebe? Ich habe seit Leifs Geburt nur einen Teilzeitjob als freie Journalistin. Ich musste meine Festanstellung aufgeben, weil ich ausschließlich nur zu Hause arbeiten konnte. Anders ging das mit Leif gar nicht. Er war ein Schreikind und dann später lebhaft. Ja, Sie haben Recht. Er war nur schwer zu beaufsichtigen. Ich musste meine Tätigkeit und dieses nicht zu bändigende Kind unter eine Haube bringen. Das war schwer. Mein Mann hat sich jeden Tag aus dem Staub gemacht, aber ich musste zusehen, wie ich hier klarkam. Hören Sie auf, meinen Mann zu bedauern. Ich hätte mein Leben auch schrecklich gerne anders gestaltet und will auch kein Mitleid. Vielleicht hätte ich mich bei der Namensgebung für unseren Sohn doch durchsetzen sollen. Milan, der Liebe, Angenehme. Mein Gott, das ist jetzt schrecklich, was ich da von mir gebe. Lieb war Leif auch, aber nicht immer angenehm. Das ist kein Geheimnis.“ Trotzig starre ich auf meine Hände, wage nicht aufzusehen, nach diesen aussageträchtigen Worten. Plötzlich sehe ich die Bilder wieder vor mir, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt haben und gerade im Krankenhaus wie ein Film für mich abgelaufen sind. Leif in der Duschwanne, der blanke Horror. Nein, lieb war er auch nicht immer, gestehe ich mir ein.
„Das hört sich etwas verbittert an, Frau Stolpe.“
Was weiß diese Polizistin schon über Enttäuschung, Verzicht, Missachtung? Bei ihren Ermittlungen, ja, da wird sie mit den unterschiedlichsten Varianten psychischer Probleme konfrontiert worden sein. Persönlich hat sie das aber nie erfahren, sonst wäre sie nicht hier, unter Menschen, zumindest während ihrer Arbeitszeit entfesselt von familiären Schranken. Plötzlich verspüre ich kein Bedürfnis mehr, mit der Kommissarin über mein Kind zu sprechen. Ich möchte jetzt selber Fragen stellen, will endlich wissen, wie es weitergeht.
„Frau Butt, wenn Sie davon ausgehen, dass mein Sohn bei den Verletzungen, die er aufwies, sich nicht selber anschwingen konnte, soll das dann heißen, dass Sie meinen Mann oder mich oder irgendeine Person verdächtigen, Leif ..., mein Gott“, presse ich hervor, unfähig den Gedanken auszusprechen.
„Wie Sie vorhin auf dem Treppenabsatz mit anhören konnten, sind wir ganz am Anfang unserer Ermittlungen. Wir nennen es Anfangsverdacht. So etwas kann sich sehr häufig als falsch, als Irrtum erweisen. In Ihrem besonderen Fall ist so ein Anfangsverdacht menschlich nur schwer zu verkraften. Dessen bin ich mir sehr wohl bewusst, Frau Stolpe. Auch wenn es Ihnen schwerfällt, aber lassen Sie uns ruhig noch etwas über Ihren Sohn sprechen. Es fällt mir dann leichter, die ganze Situation einzuschätzen. Ich habe das Gefühl, Sie schaffen das. Geben Sie mir bitte Bescheid, wenn Sie sich zurückziehen möchten. In Ordnung?“ Ich nicke nur leicht mit dem Kopf, starre noch immer auf meine Hände.
„Ist Leif oft weggelaufen?“
„Nein, warum fragen Sie?“
„Ich wundere mich über den eingezäunten kleinen Spielplatz in Ihrem Garten. So etwas findet man selten in Privatgärten. Es muss ja einen Grund gegeben haben.“
„Er ist nicht wirklich weggelaufen. Also auf die Straße oder so. Na ja, das wäre bei der Grundstückseingrenzung auch gar nicht gegangen. Er blieb nur nicht lange an einer Stelle. Er war immer in Bewegung, neugierig eben, wie Sie gesagt haben.“
„Wenn er hier nicht von dem Grundstück konnte, hätte er doch aber nicht auf seinem Spielplatz eingesperrt werden müssen.“
„Er wurde nicht eingesperrt. Wir haben ihn vor sich selber in Sicherheit gebracht. Ach, was rede ich da. Also gut. Er war ständig dabei, irgendeinen Blödsinn zu machen. Er hat viel zerstört, sich und andere in Gefahr gebracht. Es war ihm einfach nicht möglich, auf uns und unsere Anweisungen zu hören.“ Langsam hebe ich den Kopf und blicke verzweifelt zu Frau Butt auf.
„Zum Beispiel?“
„Er hat eines Tages…, nein, ich möchte nicht darüber sprechen, schlecht über mein Kind reden.“ Schwer atmend erhebe ich mich von meinem Stuhl. „Ich glaube, dass mich langsam meine Kraft verlässt und möchte mich gerne für eine Weile auf mein Bett legen, einfach nur etwas ausruhen“, trete ich die Flucht vor mir selbst an. Die Kommissarin wird Verständnis für mich aufbringen und meinen Wunsch nicht als mangelnden Kooperationswillen auslegen. Kooperation bei was? Bei der Ermittlung eines scheinbar ungeklärten Todesfalles? Bei der Überführung der Eltern als Mörder? Oder vielleicht richtet sich alles nur gegen mich? Nein, ich werde mich nicht verdrücken, sondern dem ganzen Spuk jetzt ein Ende setzen, solange ich noch dazu in der Lage bin.
„Warum stellen Sie nicht gezielt Ihre Fragen? Sie wollen doch wissen, ob mein Sohn von der Schaukel geschubst wurde. Dann natürlich auch von wem. Was bringt es Ihnen, wenn ich mich hier lang und breit über meinen Sohn auslasse?“, fahre ich die Frau gereizt und kampfeslustig an.
„Frau Stolpe, wir müssen doch erst einmal die Ergebnisse abwarten, die meine Kollegen in Zusammenhang mit Fallhöhe und Verletzungen erhalten. Machen Sie doch ruhig eine Pause. Ich unterhalte mich solange mit Ihrem Mann. Bitte.“ Sie schaut mich so verständnisvoll an. Sie wird verstehen, was ich ihr jetzt doch gleich erzähle, nachempfinden, dass wir meinen Sohn mit einem Zaun schützen mussten.
„Auf dem kleinen Spielplatz in unserem Garten sollte eine neue Schaukel aufgebaut werden. Es war schon später Nachmittag als ein Handwerker, den mein Mann durch seinen Beruf kennt, die Einzelteile für die Schaukel lieferte. Ich hatte den Gartengrill auf unserer Terrasse befeuert. Der Handwerker hat die Leistung kostenlos für meinen Mann erbracht, und ich wollte als Dank ein kleines Barbecue beisteuern. In einem unbeobachteten Moment schnappte sich Leif die Sitzfläche der Schaukel, die auf dem Rasen lag und schmiss sie in die lodernden Flammen des Grills. Es war nicht so, dass er sich über die Folgen nicht im Klaren war. Nein, er freute sich über die Flammen, die an dem Brett züngelten. Er tanzte vor dem Grill herum und warf Kohle nach, die er aus der Tüte auf der Terrasse nahm. Mit der Grillzange gelang es dem Handwerker und mir, den Sitz aus den Flammen zu ziehen. Leif schrie und tobte. Er wollte das Brett einfach brennen sehen. Er schreckte nicht davor zurück, den Sitz von der Rasenfläche, wo ich ihn hingeworfen hatte, aufzuheben, und erneut ins Feuer zu werfen. Seine Brandblasen waren einfach schrecklich.“ Mit einem Schluchzen lasse ich mich wieder auf den Stuhl fallen. Frau Butt sagt nichts, gibt mir die Zeit, die ich brauche, um ihr wieder in die Augen schauen zu können. „Verstehen Sie jetzt den Zaun?“, bitte ich nahezu flehend um Verständnis.
„Bei welchem Arzt waren Sie mit Ihrem Sohn wegen der Verbrennungen?“ Ihre Frage löst bei mir Verwunderung aus.
„Wieso fragen Sie?“
„Sie wollten, dass ich Ihnen Fragen stelle, Frau Stolpe. Nun habe ich eine gestellt. Also?“
„Das weiß ich nicht mehr. Ich glaube, wir haben das selbst verarztet.“ Sie verunsichert mich. Ihre Art, das Gespräch zu führen, hat sich verändert, ist gezielter, irgendwie lauernd geworden.
„Haben Sie die anderen Verletzungen Ihres Sohnes auch selber verarztet, wie Sie es ausgedrückt haben?“
„Was meinen Sie? Ich verstehe Sie nicht.“
„Die Ärzte haben bei Ihrem Sohn alte Narben und schlecht verheilte Knochenbrüche festgestellt. Erzählen Sie mir, wie es dazu gekommen ist. Wir sollten jedoch Ihren Mann dazu holen. Er war es, der Ihren Sohn gestern gefunden hat, anscheinend allein mit ihm war, wahrscheinlich zwischen Aufsichtspflicht und Arbeit am häuslichen Schreibtisch hin und her gerissen. Vielleicht kann er ja auch Angaben zu dem Entstehen der alten Verletzungen beisteuern.“
Der Schwindel befällt mich unvorbereitet. Mit zittrigen Knien wanke ich in unseren Eingangsbereich, erreiche eine der zahlreichen Türen, die richtige und übergebe mich ins Toilettenbecken.