Читать книгу Sternengeflüster - Mara Janisch - Страница 11
Musentempel
ОглавлениеEs ist kurz nach Mitternacht. Ich husche ins Haustor meines ehemaligen Wohnhauses in der Helftorgasse in die Dunkelheit hinein und ich schleiche Stufe um Stufe das Stiegenhaus hinauf. Zum Glück muss ich nur das Hochparterre erreichen. Was sagst du, wenn du jemanden triffst?
„Ah, so ein Zufall, guten Morgen!“, scherze ich mit mir selbst. Dann beruhige ich mich schnell.
„Dich erkennt niemand, heute hast du dich ja verkleidet mit einer blonden Perücke mit schulterlangen Haaren und für den Notfall hast du eine große dunkle Sonnenbrille mitgenommen. Außerdem, das Haus hat vier Stockwerke mit einem Lift, der in den Keller zum Garagenausgang führt, den von innen jeder öffnen kann. Wenn du jemanden triffst, gehst du unauffällig bis zum Lift und fährst in den Keller und verschwindest durch den Garagenausgang. So einfach ist es!“, sage ich mir immer wieder.
Mit dieser Beruhigung erreiche ich die Wohnungstüre, ich sperre vorsichtig auf und schon bin ich in Sicherheit. Kaum fällt die Türe ins Schloss, so höre ich – es ist kaum zu glauben – Singen in der Wohnung. Das gibt es doch nicht! Vielleicht kommt es von nebenan? Ich lege mein Ohr an die Wand – nein, es kommt aus meiner Wohnung. Umso näher ich mich zum Musikzimmer taste, umso stärker wird der Klang. Jetzt ist es eindeutig! - Das Singen kommt aus dem Musikzimmer. Es ist eigenartig, wenn man nichts sieht und nur hört; das sind ja mindestens zehn Stimmen, die ich höre!
„Bitte, hört auf zu singen, man hört das doch im ganzen Haus, ihr verratet mich, dass ich hier bin!“, empöre ich mich.
„Wer seid ihr eigentlich, was macht ihr hier?“, bringe ich hervor.
„Ich kann euch nicht einmal sehen.“
„Das ist nicht wichtig, dass du uns siehst, hören sollst du uns. Du brauchst keine Angst zu haben, nur du kannst uns hören!“, beschwichtigen die Stimmen und stimmen einen mantrischen Gesang an. Er kommt mir bekannt vor, ein wunderschöner Gesang ist es. Jetzt erinnere ich mich, ich habe das Lied mit meinen Schülern im Singkreis oft gesungen.
„Lied für die Erde“ heißt es. Der Text des Liedes stammt aus Afrika, eine Übersetzung konnte ich nicht finden.
„Aye kerunene keranio keruna. Keranio weya heya heya ye aye keruna“, fällt mir der Text ein, schade, dass ich die Worte nicht verstehe.
„Hören sollst du uns, den Text musst du nicht verstehen“, tönt es wieder.
„Wieso wisst ihr, was ich denke?“, frage ich.
Es kommt keine Antwort. Sie beginnen die zweite Strophe mit demselben Text zu singen. Ich höre Frauenstimmen in verschiedenen Stimmlagen. Das Ganze klingt wie in Samt gehüllt.
Hingegeben an den Gesang lausche ich. Lange habe ich das schon nicht gemacht: nur Hören, was an mein Ohr dringt. Mit uneingeschränkter Hingabe, ohne festzustellen, ist das noch eine Quart oder Quint. Unschuldiges Hören, Horchen. Der Klang ist einheitlich, klar und rein. Er führt in eine Welt, die mir vertraut und doch nicht bekannt ist. Seligkeit könnte ich es nennen.
Seeligkeit, ein seelenvoller, gemütsvoller Gesang, eine Nahrung besonderer Art. Wohin führen und tragen mich diese Töne – sind es noch menschliche Stimmen? Ich kann den Eindruck nicht benennen. Jetzt haben sie aufgehört zu singen, der Klang schwingt nach und zaubert eine besondere Stille hervor. Ich höre und ruhe in mir, Frieden erfüllt mich.
Nach einiger Zeit frage ich:
„Wodurch ist es möglich, so schön zu singen, was war das, wie geht das?“ Ich warte.
Unvermittelt höre ich
„Wir müssen keine Leistung erbringen, wir werden nicht bezahlt für unser Singen. Nicht aus Ehrgeiz singen wir, wir wollen auch nicht berühmt werden, noch wollen wir gefallen. Wir singen aus reiner Freude und Absichtslosigkeit – aus Hingabe, aus Liebe singen wir. Wir dürfen auch falsch singen und deshalb singen wir nicht falsch.“
Plötzlich erinnere ich mich an „Fehler machen ist eine Schande“. In diesem Moment durchzuckt etwas den Raum wie ein Blitz. Es geht so schnell, dass ich gleich wieder im Dunkeln sitze. Was war das? Habe ich geträumt? Ich habe in diesen paar Sekunden Frauen im Kreis stehen gesehen, alle in weiß gekleidet, alle hatten sehr langes braunes Haar. Gesichter konnte ich keine erkennen. Am Boden leuchtete etwas Goldenes, wie eine große Schale, in der sie standen. In der Nähe des Halses leuchtete ein weißes Licht. Wieder und wieder versuche ich mir das Bild in Erinnerung zu rufen, damit ich es ja nicht vergesse. Dieses Erlebnis schüchtert mich ein. Einmal finde ich zerstörerische Stimmen hier vor „Fehler machen ist eine Schande“ und dann wieder genau das Gegenteil! Ich bin verwirrt.
Schüchtern frage ich
„Würdet ihr noch etwas singen?“
Stille umfängt mich. Ich warte wieder, keine Antwort höre ich. Sind sie vielleicht schon weg?
Ich bin doch hierher gekommen, um meiner Empörung über „Fehler machen ist eine Schande“ Ausdruck zu verleihen und diese Frauen geben mir die Antwort auf ihre Weise.
„Wir dürfen auch falsch singen und deshalb singen wir nicht falsch, wir singen aus Liebe“, haben sie gesagt. „Wir singen aus Liebe!“
Noch nie in meinem Leben habe ich so einen berührenden Gesang gehört. Ist das das Geheimnis des Singens – des vollendeten Klanges – das Geheimnis der menschlichen Stimme überhaupt, was ich heute erlebt habe?