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UNSER LEBEN – EIN BEZIEHUNGSLAUF

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Es ist ein schwülheißer Dezembernachmittag in Kenia. Meine Frau und ich sind als Referenten bei einem dreitägigen Leadership-Training einer lokalen Kirche im Einsatz. Jetzt, nach getaner Arbeit, lassen wir uns gerne vom Bischof die Gegend zeigen. Wir kaufen einer Frau die letzten Mangos des Tages ab, sie kosten umgerechnet 20 Cent pro Stück. Im Preis inbegriffen ist das Aufschneiden, sodass man die süßen Früchte direkt an Ort und Stelle genießen kann. An ihrem präzisen Umgang mit dem Messer lässt sich erahnen, dass sie in ihrem Leben schon viele Tausende Mangos verkauft und geschnitten haben muss. Reich wird sie damit nicht, aber sie kann ihre Familie über Wasser halten. Als wir mit ihr sprechen, erscheint ihr Sohn Carlos. Ein schlanker Junge, etwas scheu, aber mit einem verschmitzten Lächeln auf dem Gesicht.

Carlos Kiprop ist dreizehn Jahre alt und hat einen Lebenstraum, dem er vieles unterordnet: Er möchte Profiläufer werden. Wie viele hier in Iten, einem Dorf am Rande des Rift Valley, etwa acht Stunden holprige Busfahrt nordwestlich von Nairobi und auf 2 400 Meter über dem Meer. Wie die meisten Dorfbewohner gehören auch Carlos und seine Familie zum Stamm der Kalendjin. Und die Kalendjin sind Läufer. »Die einzig wahren Läufer«, so ihr Selbstverständnis. Tatsächlich kommen viele der weltbesten Stars aus diesem Dorf, an dessen Eingang ein großer Bogen mit der Aufschrift »Home of Champions« steht. Auf dem Gelände der St. Patricks High School etwas außerhalb des Ortskerns dürfen nur die ehemaligen Schülerinnen und Schüler einen Baum pflanzen, die Weltmeister, Olympiasieger oder Weltrekordhalter sind. Es sind unzählige Bäume. Als wir durch die Anlage geführt werden und die Namen der Ausnahmeathleten auf den Schildern vor den Bäumen lesen, verstummen wir ehrfürchtig. Und fragen uns gleichzeitig: Wie kann ein so verschlafenes Kaff irgendwo im Hinterland von Kenia so viel Exzellenz hervorbringen?

Im Gespräch mit Carlos und seiner Mutter erfahren wir, dass der Junge mehrere Onkel hat, die den Durchbruch geschafft haben. Die unvorstellbar viel Geld verdienen und sich in der nahe gelegenen Stadt Eldoret ein Haus gebaut haben. Die mit dem Flugzeug in ferne Länder fliegen und ihre Verwandtschaft finanziell unterstützen. Das Laufen hat ihr Leben und den Alltag ihrer Familien grundlegend verändert. Es hat ihnen eine Lebensgrundlage und einen Weg aus der Perspektivlosigkeit gegeben. Ob es sich bei diesen Onkeln wirklich um Verwandte von Carlos oder eher ganz allgemein um junge Männer aus dem Dorf handelt, bleibt unklar und ist letztlich auch nicht relevant.

Klar, nicht alle können mit dem plötzlichen Erfolg und Reichtum umgehen. Immer wieder machen Geschichten von Alkoholexzessen, Korruption- und Dopingskandalen die Runde. Doch gleichzeitig gibt es unzählige Helden, die es geschafft haben und trotzdem bescheiden geblieben sind, an ihrem Glauben an Gott festgehalten haben und der Gemeinschaft etwas zurückgeben. Groß ist jeweils die Aufregung, wenn einer von ihnen, zum Beispiel der Weltrekordhalter über 800 Meter, David Rudisha, mit seinem eigenen Auto ins Dorf fährt, um dort zu trainieren. Solche Athletinnen und Athleten sind die Helden der Dorfgemeinschaft und die Vorbilder einer ganzen Generation.

Carlos ist überzeugt, dass diese Erfolge auch für ihn erreichbar sind. Dass er einmal einer der ganz Großen sein wird. Der schnellste Mensch über 5 000 Meter vielleicht, warum nicht? Der unerschütterliche Glaube an den Erfolg wirkt für uns wie eine Mischung aus Naivität, verlorenem Realitätssinn und schlechter Wahrscheinlichkeitsrechnung. In Iten ist er aber tief in der Kultur verankert.

Carlos investiert einiges, damit sein Traum in Erfüllung gehen wird. Um 6 Uhr früh macht er das, was einem dreizehnjährigen Teenager in Europa so ziemlich zuletzt einfallen würde: Er läuft ganz allein 5 Kilometer den Berg hoch und dann wieder runter. Das macht er jeden Tag, selbstverständlich auch am Wochenende. Nach dem morgendlichen Berglauf geht er zur Schule, diese lästige Pflicht muss sein. Außerdem legt seine Mutter Wert darauf, schließlich muss sie unzählige Mangos verkaufen, um das Schulgeld aufzubringen und ihrem Sohn so eine Schulbildung und die Aussicht auf eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Doch Carlos freut sich vor allem auf die Nachmittage, denn dann absolviert er mit seinem Schulteam das zweite Training des Tages. Er ist stolz darauf, dass er seine Schule im 3 000-Meter-Hindernislauf repräsentieren darf. Was nach professioneller Hingabe, etwas verbissen und ganz bestimmt nicht altersgerecht klingt, wirkt im Gespräch mit Carlos unbeschwert. Obwohl er jeden Tag Stunden in seine Leidenschaft investiert, ist ihm die Leichtigkeit nicht abhandengekommen.

Beziehungsstark

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