Читать книгу Jenseits der Augenlider - Marc Dorpema - Страница 16
XIV
ОглавлениеLannus wandte sich unruhig im Schlaf, stöhnte leise. Alpträume plagten ihn in letzter Zeit stets häufiger, doch er konnte sich nicht vorstellen, woher seine Unruhe rührte. Urplötzlich fuhr er hoch, während ein Reflex ihn seinen Dolch zücken ließ. Nichts. Allmählich beruhigte sich sein Herzschlag.
In seiner nobel eingerichteten Kammer erkannte er keine Abnormitäten. Da er seinem Zeitgefühl nicht traute, lief der junge Dieb zum Fenster und zog die schweren, seidenen Vorhänge zurück. Es musste etwa Mittag sein, denn die Sonne stand so hoch am Firmament, dass sie kaum zu sehen war. Gähnend kleidete sich Lannus in sein ultramarinblaues Gewand. Die ganze Situation kam ihm unheimlich fremd vor. Er kannte keinen der Gegenstände im Raum, besaß keine emotionale Verbindung zu auch nur einem der Objekte. Bevor er sich hierher verlaufen hatte, trug er seine wichtigsten Gegenstände, welche er nach der Zeremonie der vier Augen hatte ablegen müssen, stets bei sich am Leib.
Sein Leben hatte demnach eine Wendung zum Besseren vollzogen. Es würde nicht lange dauern, bis er Erinnerungen mit dieser Kammer verband. Seit einer Woche lebte er nun in der Villa des Zirkels und war davon überzeugt, dass diese die sorgenfreiste seines relativ kurzen Lebens gewesen war.
Nachdem Lannus sich vollständig angekleidet hatte, begab er sich auf den Weg in den gemeinschaftlichen Speisesaal, in einer der prächtigen Hallen im Untergeschoss des Palastes. Es war bereits spät für ein Frühstück, weswegen der Saal – bis auf vier oder fünf seiner neuen Mitstreiter niedrigen Ranges – verlassen war.
Lannus nahm sich etwas Obst und setzte sich an einen einsamen Tisch in die Ecke. Er wurde von keinem besonderen Hunger geplagt und hatte seine Mahlzeit rasch verspeist. Nach seinem verspäteten Frühstück machte er sich auf den Weg in den Garten, um dort an den wichtigen Übungsstunden des Zirkels teilzunehmen, in welchen man essenzielles Wissen über die Kunst des Stehlens und Fechtens erlangte.
Er trat durch ein Tor in den Garten und schritt hypnotisiert, die Pracht der unterschiedlichen Pflanzen und Skulpturen genießend, auf die Arena zu.
„Lannus, der Unterricht hat bereits begonnen.“ rief Kandra und winkte dabei energisch. Lannus beschleunigte seine Schritte. Bald hatte er seinen Lehrer erreicht und umarmte ihn kräftig.
„Ich grüße dich, Kandra. Die Verspätung tut mir leid.“
„Lannus. Schön dich zu sehen. Mach dir keine Sorgen, du musst dich vorerst noch einleben, ich verstehe das.“
Obgleich Lannus dem Zirkel erst seit einer Woche angehörte, hatte er schon eine Vielzahl enger Freunde kennengelernt. Kandra war einer von ihnen. Vermutlich eine Masche dieses Zirkels, dachte Lannus etwas bitter bei sich. Doch was konnte es schon Schaden, sich zumindest oberflächliche Kameraden anzueignen.
Gemeinsam schritten sie durch das steinerne Tor in die Arena, in welcher sich bereits eine beachtliche Menge an Anfängern gegenseitig möglichst unauffällig bestahlen, oder Schwertkämpfe austrugen, und setzten sich auf eine Bank am Rand. Manche der Diebe schlossen sich zusammen und nutzten geschickte Ablenkmanöver, während der andere Teil sein Glück alleine versuchte. So trainierten die Zirkelmitglieder ihr prekäres Handwerk. Man konnte selbstverständlich auch anderen Aktivitäten, beispielsweise Schwimmen oder Kraftübungen nachgehen, doch Stehlen und Kämpfen dominierten die meisten Tage.
„Du schlägst dich außerordentlich gut, Lannus. Es ist durchaus selten, dass Neuankömmlinge über solch ausgeprägte Fähigkeiten verfügen. Ich bin mir sicher, dass du hier ein passendes zu Hause entdeckt hast.“ Kandra befand sich in einer lockeren Stimmung und sprach fröhlich und offen. Ein Attribut das Lannus behagte. Er konnte die Riege des hochnäsigen Scheinadels und Adels nicht ausstehen; mit ihren Verschleierungen und undeutlichen Äußerungen, mit ihren Fallen. In den Reihen des Zirkels herrschte trotz der freundschaftlichen Stimmung eine gewisse Disziplin, mit der sich jedes Mitglied zurechtfand. Zwar war diese nicht vergleichbar mit der des königlichen Heeres, dennoch befolgten ausnahmslos alle den Befehlen und Regeln ihrer Höheren. Die Freundlichkeit der Führung war ein beachtlicher psychologischer Kniff, welchen Lannus enorm respektierte und für beeindruckend weise hielt. Deswegen benahm er sich vorbildlich und bestätigte, teils bewusst, teils unbewusst, die Effektivität dieser Art der Führung. Wenn er genauer darüber nachdachte, war diese vermutlich auch der Grund dafür, dass sich eine so hohe Zahl an respektlosen Dieben mit dem System zurechtfand.
„Lannus.“ schreckte Kandra ihn aus seinen tiefsinnigen Gedanken. „Sieh nur Lannus, dort drüben. Gegen ihn kannst du dich beweisen.“ Sein Lehrer zeigte auf einen Hünen, der sich trotz seiner enormen Größe pfeilschnell bewegte.
Sein kahlgeschorener Skalp glänzte in der mittäglichen Sonne, während er ihm ebenfalls unheimliche, geisterhafte Züge verlieh. Sein Blick war leblos. Wulstige Lippen verunstalteten die verstörende Grimasse. Unglaublich breite Schultern und riesige Arme machten ihn zu einem wahren Monster. Lannus schüttelte ungläubig den Kopf.
„Mit so einem Hünen kann ich es nicht aufnehmen. Dafür bin ich noch nicht bereit.“ wehrte Lannus schwach ab.
„Nein, Lannus. Ich weiß, dass du ihn bezwingen kannst. Glaub an dich.“ antwortete Kandra scharf. Lannus zögerte, doch Kandra wusste bereits, dass er ihn überzeugt hatte. Nur noch einen Augenblick, dann würde er sagen:
„Du hast Recht, Kandra. Ich werde ihn besiegen.“ Lannus‘ Stimme festigte sich mit Überzeugung, während er sich mit seinen Händen von der Bank schob.
Kandra blickte Lannus, welcher bereits beinahe vor seinem Gegner stand, bedächtig hinterher.
All seinen Mut zusammennehmend, baute das junge Mitglied sich vor dem Hünen auf. Bellendes Gelächter, welches erstaunliche Ähnlichkeiten mit einem nahen Sommergewitter aufwies, erklang, als Lannus‘ Gegner sein Schwert zog. Kandra lächelte. Auch Lannus hatte seine Klinge gezogen und stellte sich mit leicht gespreizten Beinen vor seinen überragenden Widersacher in die Kampfposition. Bei diesem Anblick zweifelte Kandra daran, dass er das Richtige getan hatte. Der neue Mitstreiter des Zirkels war zwei Köpfe kürzer als sein Gegenüber.
Lannus setzte zum ersten Schlag an, welcher mit Leichtigkeit pariert wurde. Für einen flüchtigen Augenblick standen sie sich gegenüber und duellierten sich mit Blicken. Plötzlich, wie aus dem Nichts, ein pfeilschneller Hieb des Hünen. Doch Lannus musste diese Attacke vorhergesehen haben, denn auch er erlitt keinen Treffer, sondern wich elegant aus. Nun prasselte ein Hagel aus raschen, präzisen Hieben auf Lannus ein. Die meisten anderen Gegner hätten sich bereits ergeben, doch das neueste Mitglied des Zirkels hielt sich erstaunlich gut. Das musste Kandra sich aus der Nähe ansehen. Nun ging Lannus zum Angriff über. Seine Attacken waren pfeilschnell und schnellten aus solch unvorstellbaren Winkeln hervor, dass seinem Lehrer der Mund aufklappte. Kandra befand sich nun direkt an der Grenze des Rings. Der Riese verzog seine Grimasse in sichtlicher Frustration und stellte sich verzweifelt, mit den monströsen Armen vor seinem Körper, direkt an den Rand des Kreises, welcher ihre behelfsmäßige Arena abgrenzte.
Der Kampf war entschieden.
„Es reicht.“ rief der Offizier seinem Schützling zu. Lannus drehte seinen Kopf und starrte ihn regungslos an, bis seine Mundwinkel sich zu einem überheblichen, beinahe fanatischen Grinsen erhöhten. In diesem Augenblick wurde Kandra bewusst, dass er einen gravierenden Fehler begangen hatte.