Читать книгу Jenseits der Augenlider - Marc Dorpema - Страница 7

V

Оглавление

„Haltet ihn! Haltet den Dieb.“ schrie eine schrille Stimme hinter ihm. Die Beute entfernte sich in einem rasenden Tempo von ihrem früheren Besitzer. Grinsend blickte der Träger sich um. Dieser fette, alte Wirt würde sein Gold nie wieder in die Finger bekommen.

Nachdem Lannus in dem Gewirr aus Gassen untertauchte, erlaubte er sich eine flüchtige Pause, um wieder zu Atem zu kommen. Er erhaschte einen ersten Blick in den Beutel, den er soeben glanzvoll ergattert hatte. Solch eine Menge Gold. Er konnte sich Waffen der legendären, zwergischen Schmiede kaufen, oder in eines der Hurenhäuser Mentéls einziehen. Oder er konnte es sparen. Nein, Letzteres eher nicht, doch die ersten beiden Optionen klangen äußerst verlockend.

Nun sollte er sich allerdings schleunigst aus dem Staub machen, sonst könnten seine himmlischen Träume binnen Sekunden dem feuchten, eisigen Dreck einer Zelle weichen.

Raschen Schrittes huschte Lannus durch die schmalen Gassen. Nach einigen Wendungen, gelangte er auf den öffentlichen Marktplatz mit einer Vielzahl kleiner und großer Stände, welche allerlei bunte Waren ausstellten. In der Menge befand er sich vorerst in Sicherheit. Seine Augen erspähten unzählige, exotische Schätze, seine Nase sog sich mit dem Duft ferner Orte voll. Trotz all der fremden Köstlichkeiten entschied sich Lannus für einen saftigen, roten Apfel in welchen er genüsslich hineinbiss. Endlich hatte der Hunger ein Ende; endlich besaß er Gold. Über die sich dadurch ergebenden Möglichkeiten musste er sich später den Kopf zerbrechen, denn vorerst sollte er ein wahrlich sicheres Versteck finden. Noch war ihm sein liebstes Metall nicht vollkommen gewiss.

Als Lannus vor einem Gasthof mit dem wenig-sagenden Namen "Zum Hufschmied" anhielt, um das verfallene, heimelige Gebäude näher zu betrachten, schlich sich die Vermutung, dass dies nicht der richtige Weg war in seinen Geist. Er überdachte flüchtig, ob er fortsetzen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Schließlich wollte er sein Gold nicht an irgendeinen anderen Räuber verlieren.

Hastig wendete er auf den Fersen und flüchtete eilig aus der zwielichtigen Gasse. Erst als der Dieb erneut zu einem Teil der Menschenmenge des Marktes verschwamm, fühlte er sich halbwegs sicher. Seine Schritte beruhigten sich, sein Herzschlag zog nach. Er fühlte sich überaus glücklich. Seine Sorgen zertrat er unter den abgetragenen Sohlen. Sollten die restlichen Bewohner ihn doch zweifelnd, angewidert und missmutig anstarren. Es gab Nichts, das Lannus seiner Freude berauben konnte.

Die nächste Gasse in die er einbog, wirkte weitaus nobler. Die Häuser stützten sich nicht morsch und zerbröckelnd auf die Schultern ihrer Nachbarn, sondern machten den Eindruck, als seien sie neu erbaut worden. Erstaunt blickte Lannus sich um. Er hatte seine gesamten vierundzwanzig Winter in Mentél verbracht, doch in diesen Bezirk hatte er sich noch nie verlaufen. Er fragte sich, wer in einer solchen Gegend hauste.

Die Häuser wurden stets prächtiger. Bald ähnelten sie eher den prunkvollen Palästen eines Königs als Gasthöfen und Wirtshäusern. Hier gehörte er nicht hin, dieser Ort gehörte den wohlhabenden, respektierten Menschen der Stadt. Doch, fiel Lannus mit einem breiten Grinsen ein, er war reich. Dennoch kroch ein mulmiges Gefühl in seinen Magen, dessen Knurren der Apfel fürs Erste bändigte. Hier gehörte er nicht hin. Der Dieb gedachte umzudrehen, entschied sich schließlich doch dagegen. Zur Sicherheit zückte er dennoch seinen Kurzdolch und versteckte seine linke Hand unter dem weiten, braunen Mantel, zerfressen von Motten und Alter.

Er stolperte stets tiefer den gepflasterten Weg entlang. Nach einigen hundert Schritten verbreiterte sich die Straße, um in einem enormen Tempel zu enden. Merkwürdig. Er schüttelte bereits seinen Kopf und kehrte um, als eine flüsternde Stimme ihn zurückhielt.

„Du bist hier nicht falsch, mein Freund. Glaub mir.“

Ein breites Grinsen schwebte gegenüber Lannus‘ Gesicht, nachdem er sich ruckartig zum Geräusch gedreht hatte.

„Ich – Ich habe mich wohl verlaufen. Ich wollte soeben wieder verschwinden.“ antwortete der Dieb zögernd.

„Mach dir keine Sorgen. Du siehst aus, als hättest du nichts Besseres vor. Folge mir.“ Der Unbekannte lächelte einladend.

Nach kurzem Zögern durchschritt Lannus das offene Tor, welches auf den immensen Hof des Palastes führte. Blumenbeete und sprießende, blühende Apfelbäume schmückten den Weg zu einer imposanten Tür aus Eichenholz. Springbrunnen in verschiedenen Formen und Größen prangten ohne erkennbarem Muster zwischen den Blumen. Wem auch immer dieser Palast gehörte, er musste ungeheuer wohlhabend sein.

Ohne weiter darüber nachzudenken, folgte Lannus dem Fremden durch ein beeindruckend verziertes Portal in eine gewaltige Eingangshalle. Hier verharrten sie kurz.

„Wer lebt hier?“

Die simple Eleganz des Raumes beeindruckte Lannus zutiefst. Die Wände waren bis auf zwei eigenartige Gemälde – jeweils eines an der Wand rechts und links von ihrem Eintrittspunkt – leer. Während das eine die gesamte Stadt aus der Vogelperspektive zeigte, schmückte ein schwarzer Seraph mit zusammengeklebten Flügeln, aus der Froschperspektive beobachtet, das zweite Gemälde.

„Das hier, mein Freund, ist das Hauptquartier des Zirkels der schwarzen Serafim. Wir sind die reichsten und mächtigsten Räuber Mentéls.“ Er vollführte eine ausholende Geste mit beiden Armen. „Hier treffen wir alle wichtige Entscheidungen über unsere weiteren Vorhaben. Hast du von dem Überfall auf die Villa des Stadtverwalters gehört?“ Der seltsame Fremde wartete nicht auf eine Antwort. „Das waren wir.“

Lannus hatte von dem Überfall gehört. Es war so viel Gold gestohlen worden, dass man damit eine neue Stadt hätte errichten können.

Er war er also an eine Räubertruppe geraten. Er spielte flüchtig mit dem Gedanken zu verschwinden, doch kam zu dem Entschluss, dass er hier reich werden könnte. Sah die Möglichkeiten vor seinen Augen. Ein Mann von seinen Fähigkeiten konnte es an einem Ort wie diesem unfassbar weit bringen, davon war Lannus vollkommen überzeugt. Des Weiteren würde man ihm hier mit Sicherheit Schutz gewähren, falls er in Schwierigkeiten geraten sollte; eine Möglichkeit, die man nicht ausschließen konnte.

Womöglich war er auch direkt in eine Falle getappt. Womöglich hatte der Flüsterer sein Gold erspäht und ihn nur deshalb in den Palast geführt. Um ihn zu töten und anschließend auszurauben. Lannus spürte wie sich salzige Perlen auf seiner Stirn bildeten.

„Ich habe davon gehört.“ nickte er bedächtig. Jedes Wort einzeln betonend.

„Gut, jeder hat davon gehört. Aber niemand weiß, dass wir etwas mit der Sache zu tun haben. Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir der mächtigste Zirkel im gesamten Osten der Insel Santúr sind.“ Lannus zuckte zusammen. Die Stimme des Mannes vibrierte fanatisch, seine Augen funkelten.

„Dein Name – „ begann Lannus.

„Der tut nichts zur Sache.“ Der Mann winkte ab. Lannus schüttelte den Kopf und folgte dem Namenlosen durch einen Torbogen gegenüber der Eingangspforte.

Der nächste Raum war ein wenig kleiner als die Eingangshalle, jedoch mit ähnlichem Dekor versehen. Er war rund und an seinem Ende führten zwei Wendeltreppen auf einen Balkon, welcher den gesamten Umfang des Saales abdeckte. Eine breite Glasfront gab am Ende des imposanten Raumes, dort wo die Wendeltreppe auf den Balkon führte, den Blick auf einen wunderschönen Garten mit friedvollen, grünen Teichen frei, in denen sich Fische tummelten; auf perfekt gemeißelte Statuen, farbenprächtige Blumen und magisch anmutende Springbrunnen. Dem Jetzt haftete ein unechter Hauch an. Lannus hatte noch keine andere Person erblickt, seit er sich auf dieses Areal verirrt hatte.

Um in den nächsten Raum zu gelangen, mussten sie eine der beiden Treppen hinaufsteigen und durch das Tor, welches sich direkt oberhalb der Eingangstür zu diesem Teil des Palastes befand, spazieren. Schweigend, die Pracht des Gartens genießend, folgte Lannus dem blassen, dürren Mann mit den Segelohren und den langgliedrigen Händen. Die Proportionen stimmten nicht überein, weswegen sein Aufzug – keine Maßanfertigungen, dachte Lannus bei sich – misslich und plump wirkte. Die weiße Bluse war zu knapp, während seine schmalen, kastanienbraunen Strumpfhosen unelegant an seinen krummen Beinen hingen und sich mehrere Male am Schienbein falteten. Lannus folgte seinem schweigsamen Führer durch den steinernen Bogen in den nächsten Saal.

Auch dieser war beinahe leer. Lediglich ein weicher, roter Teppich füllte den blanken Boden aus. An den Seiten des Raumes befanden sich jeweils sechs Türen und Lannus versuchte angestrengt eine Erklärung für ihre Existenz zu finden. Diesem Fanatiker traute er allenfalls zu, einen feuerspeienden Drachen hinter einer der Türen zu verstecken, um Eindringlinge abzuschrecken.

Lannus vernahm gedämpfte Stimmen. Sie drangen aus dem Saal, auf welchen sie geradewegs zu spazierten. Nun sah er auch, was er enthielt. Ein langer Tisch aus Granit, geschmückt mit einem aus Gold eingravierten Namen vor jedem Stuhl. An den Wänden standen dutzende Kerzen, eingeschlossen von kunstvoll verzierten Kästchen aus Kristallglas. Die Tür, durch die sie gekommen waren, schien der einzige Ein- und Ausgang zu sein.

Auf der gegenüberliegenden Wand des Zimmers paradierte ein kolossaler, schwarzer Seraph aus einem Lannus unbekanntem Gestein. Goldene Kugeln füllten die Augenhöhlen. Er maß sechs Schritte in der Höhe und drei in der Breite. Seine enormen Flügel ragten dem durch eine gläserne Kuppel ausgesperrtem Himmel entgegen. Lannus stockte der Atem, als er sich fragte, wo im Namen Eldanas‘ er gelandet war.

An dem imposanten Tisch standen zwölf Stühle. Jeder von ihnen eine einmalige Anfertigung, was mühelos an den merkwürdigen Mustern und den verschiedenen Intarsien auf den Lehnen zu erkennen war. An neun der zwölf Stühle hatten Personen Platz genommen, von welchen zwei an den beiden Tischenden ruhten, während auf der linken Seite vier saßen, ihnen entgegenblickend drei. Auf den ersten Blick erkannte Lannus zwei Frauen unter den Sitzenden. Der Dieb nahm an, dass die Gestalten an den Tischenden diese Sitzung, oder was auch immer dies sein mochte, führten.

Der Mann, der direkt im Schatten des Seraphen tagte, wirkte wie der Anführer und musste furchtbar alt sein. Tiefe Falten gruben Krater um seine Augen und seinen Mund; ein langer, grauer Bart hing von seinem Kinn herab. Bei Lannus‘ Anblick breiteten sich die Furchen bis zur Stirn des blassen Greises aus. Beinahe ein Dutzend Augenpaare richteten sich auf Lannus, als sei er ein fremdes Geschöpf, emporgestiegen aus dem Meer. Lannus‘ Wangen röteten sich. Mit Ausnahme einer der Frauen vermutete der Dieb, dass er die wenigsten Zyklen erlebt hatte.

Lannus zwang sich zur Ruhe.

„Ich möchte keine Bewegung sehen.“ Sein Begleiter wanderte zum Anführer und begann, ihm etwas ins Ohr zu flüstern, doch er sprach zu leise, als dass Lannus die Botschaft hätte mitbekommen können. Nach einigen Augenblicken entfernte sich der Flüsterer vom Ohr. Der graue Mann schien kurz zu grübeln, bevor seine Worte Lannus entgegenbrausten.

„Erzähl mir ein wenig von dir.“ Seine Stimme war kräftiger als Lannus vermutet hatte und verdeutlichte, dass man sich vor diesen Menschen in Acht nehmen sollte.

„Das ist nicht von Belang.“ antwortete Lannus, urplötzlich gereizt, entsetzt von seiner eigenen, respektlosen Antwort. „Ich weiß nicht einmal, wer ihr seid, oder wo ich bin.“ fuhr in einer ängstlichen, ruhigen Stimme fort.

„Wir, Lannus, sind die Streiter des Zirkels der schwarzen Serafim. Mein Name ist Teranon. Ich bin der Anführer dieses Zirkels. Wir wissen, dass unser Handeln nicht ruhmreich scheint. Wir sind Diebe, Räuber. Man könnte behaupten, wir seien gierig und unser Handeln sei schändlich, doch wir nehmen uns bloß zurück, was die reichen Adeligen dieser Stadt unseren Vorfahren nahmen. Unsere Familien wurden ausgebeutet und nun rächen wir uns.“ Das Gewicht des Schmerzes schien sich an der Stimme festzuklammern.

„Ich begreife euer Leid, doch bin ich kein Teil von euch.“ Lannus verstand nicht, wie ihm geschah. Er hatte sich verlaufen und nun unterhielt er sich mit einem Fremden, der seinen Namen kannte.

„Du musst dem Zirkel nicht beitreten, wenn du nicht möchtest. Allerdings bietet er dir äußerst verlockende Vorteile wie Schutz, Reichtum oder Kontakte. Treffe deine Wahl mit Bedacht. Du kannst es hier zu größerem Ruhm bringen als auf der Straße. Ich weiß, dass du ein Räuber bist, Lannus. Ich kenne alle Diebe dieser Stadt.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, stand der Greis auf und eilte schnellen Schrittes zu der Statue des mit Ruß überzogenen Seraphen und stellte sich direkt vor sie, bevor er beschwörend die Hände erhob. Teranons Lippen spielten kaum merklich mit undeutbaren Worten, während seine Augenlider sich schlossen. Auf einmal bewegte die Statue ihren linken Arm, dann den Rechten. Sie packte sich mit beiden Flügeln an den Bauch und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Der Kopf des Seraphen senkte sich, als blicke er auf eine Wunde an seinem Magen. Die Hände öffneten eine verborgene Klappe, welche die scheinbaren Innereien der Statue offenlegte.

Entsetzt wohnte Lannus dem Schauspiel bei. Ein plötzlicher Lichtstrahl stach gleich tausend Dolchen nach seinem Antlitz. Seine Hand fuhr ruckartig vor die geblendeten Augen, um sie vor der Erblindung zu bewahren. Der entsetzliche, gleißende Schein ließ nach wenigen Momenten wieder nach und der Schmerz verging.

Behutsam entfernte Lannus die Arme von seinem Gesicht. Im Inneren des Seraphen war ein Hebel zum Vorschein gekommen. Teranon betätigte ihn mit Macht. Schwerfällig bewegte er sich in Richtung des Oberhauptes. Mit einem leisen Klicken rastete er schließlich ein.

Der alte Zirkelmeister trat einen Schritt zurück und wartete spannungsvoll. Nur einen Augenblick später tat der Seraph einen Schritt nach links und stand unverzüglich wieder still. Teranon musste ein bewanderter Zauberer sein, denn die Tür auf welche er nun zuschritt, besaß kein Schloss. Stattdessen zierten fremde Symbole und Zeichen ihre Oberfläche.

Der gesamte Saal bebte, als Teranon unverständliche Worte rief. Lannus fürchtete, dass die gläserne Kuppel ihn unter einem Hagel aus Splittern begraben würde, doch als er sah, wie gelassen die Anderen blieben, entspannten seine Muskeln sich ein wenig.

Mit einem grausamen Rattern fügte das Tor sich Teranons Willen und gab den Blick auf einen pechschwarzen Gang frei, in welchem er seine Hand nicht vor den Augen sehen konnte. Der Zirkelmeister schien gedämpft zu fluchen, doch plötzlich erhellte sich der Gang, obgleich Lannus keine Fackel entdecken konnte.

„Wenn du mir nun folgst, Lannus, wirst du in die Geheimnisse unseres Zirkels eingeweiht. Wenn du sie kennst, musst du uns beitreten. Überlege es dir gut.“ Seinen letzten Worten verlieh der bejahrte Mann mit der bodenlangen, nachtschwarzen Robe besonderen Nachdruck.

Jenseits der Augenlider

Подняться наверх