Читать книгу Jenseits der Augenlider - Marc Dorpema - Страница 9
VII
ОглавлениеIhre weißen Gewänder, vom Schnitt denen eines Priesters ähnlich, verdeckten ihre gesamten Körper. Die pechschwarze, an der Hälfte in ein tiefes Rot übergehende Schlange prangte auf der Vorderseite einer jeden Robe und wies die Träger als Klanglose Klingen aus. Jedenfalls für jene, die mit ihrer Verschwörung vertraut waren.
Glücklicherweise gab es lediglich eine Handvoll Mitwisser. Der Großteil der Bevölkerung nahm sie bloß als unbedeutende Mönche wahr, die mit gefalteten Händen durch die Städte pilgerten. Die Klanglosen Klingen flossen in keiner geordneten Formation durch die Menge, doch achteten stets darauf, sich nicht zu verlieren. Das wäre überaus hinderlich für das Hauptziel.
Die weiße Truppe bewegte sich rasch auf den überragenden Turm der Festung Eisenturm zu, in dem sich ihre Opfer in diesem Augenblick bestens vergnügten. Morpheus verstand nicht, weshalb man nicht schlichtweg vor die Herrscher der Lande trat, um ihnen direkte Hilfe anzubieten. Stattdessen würden sie in die Burg des zwergischen Herrschers einbrechen und bei irgendeinem Wettbewerb alle bis auf einen umbringen. Vollkommen sinnfrei, in Morpheus‘ Augen. Das ist zu groß für dich, war jedoch alles, was er seinem Kommandanten entlocken konnte.
Morpheus war ein unerfahrenes Mitglied der Klanglosen Klingen. Mit seinen erst neunzehn Wintern gehörte er zu den Jüngsten. Doch nach den aufreibenden Zyklen, die er bereits als Mitglied hinter sich hatte, hatte er auch gelernt, dass man nicht morden soll, wenn es nicht der allerletzte Ausweg ist. Er hatte gelernt, sich in jeder Umgebung unsichtbar zu machen, aus Knie-erweichenden Höhen zu springen ohne sich zu verletzen, zu schleichen wie eine Katze; und auch zu töten.
Sie erreichten den hoffnungslos überfüllten Marktplatz, welcher für sein unvorstellbares Ausmaß bekannt war. Diverse Stände, welche alles Mögliche zum Kauf anboten, säumten die breite Straße. Sie schafften es lediglich sich unter gewaltigen Anstrengungen durch das dichte Gewimmel zu wringen. Morpheus hatte für den Moment beinahe jeden seiner Freunde aus den Augen verloren, was ihn jedoch nicht beunruhigte, da sie einen genauen Treffpunkt vereinbart hatten. Dort vollzog sich dann der wahre Akt der Anstrengung, der Kunst. Im Schatten des Eisenturms würden zwei Dutzend Klanglose Klingen den mächtigen Turm erklimmen.
Morpheus hatte das Meer aus bunten Ständen beinahe passiert. Nun erspähte er eine größere Zahl seiner Komplizen. Die meisten von ihnen kannte er seit einigen Wintern, doch es waren auch welche dabei, die erst vor kurzem zu ihnen gestoßen waren. Eine Hand berührte die Klanglose Klinge sachte an der Schulter. Er drehte sich ruckartig um und blickte in das Antlitz Claudius'.
„Wir schaffen das.“ munterte sein engster Freund ihn mit gedämpfter Stimme auf.
„Ich fühle mich unwohl bei der Sache. Es kann zu viel schiefgehen. So fürchte ich, die Zwerge in meiner Nervosität nicht auseinanderhalten zu können.“
„Sperre deine Gedanken aus. Alles wird in Ordnung gehen, Morpheus.“
Claudius klopfte ihm fest auf die Schulter.
Nachdem sie ein Gewirr aus Gassen durchquert hatten, erreichten sie den vereinbarten Treffpunkt und wechselten die letzten, flüchtigen Worte, bevor die Ersteigung des Turmes beginnen sollte.
„In wenigen Momenten beginnt es, Männer. Wir werden von allen Seiten, an denen sich Fenster befinden, eindringen.“ Morpheus hoffte, dass er an Claudius' Seite hinaufsteigen durfte. Dieser würde ihm den Mut schenken, den er dringend benötigte.
„Hergehört! Ich gebe nun die Gruppen bekannt, welche sich die jeweiligen Seiten vornehmen werden.“
Der erfahrene Hauptmann mit der befehlsgewohnten Stimme und dem narbenübersäten, braungebrannten Gesicht wies auf drei ältere Offiziere, deren Erscheinungsbilder dem Seinen ähnelten. Die Veteranen nickten und murmelten leise untereinander, wobei mehrmals unterdrückte Lacher hervordrangen. Morpheus beneidete diese Altgedienten um ihre unerschütterliche Ruhe.
„Ihr werdet die Südseite übernehmen.“ fuhr Raspiron fort. Sein rechter Zeigefinger richtete sich auf Armenicus, Christophus und Julius. Sie gehörten zu den Neuankömmlingen ihres Bundes.
Morpheus verstand sich lediglich mit Armenicus. Die anderen beiden waren skrupellose Mörder. Er hatte sie einmal einen Verkäufer auf dem Markt niederstechen sehen, bloß weil er ein Angebot zurückgewiesen hatte. Nach dem Mord hatten sie ihre Fähigkeiten als Klanglose Klingen missbraucht, um zu flüchten. Armenicus hatte mit solchen Sachen Nichts zu schaffen. Er war ein normaler, junger Mann, der bei Gelegenheit gerne einmal reichlich trank und einer der unterhaltsamsten in Morpheus' Freundeskreis war. Des Weiteren besaß er bereits den Mut eines Veteranen.
Hauptmann Raspiron teilte ihre Einheit in weitere Dreigestirne ein, bevor er sich an Morpheus wandte.
„Morpheus, Claudius und Rendal, ihr werdet an der gefährlichsten Seite des Turmes emporklimmen. Sie ist zwar vom Marktplatz aus nicht zu beobachten, doch sie ist nicht windgeschützt. Die Erfahreneren klettern vermutlich schneller als ihr, weswegen ich sie auf der dem Marktplatz zugewandten Seite emporsteigen lasse. Ihr seid den Launen der Götter ausgesetzt. Mögen sie euch gnädig sein.“
Die Hauptsache war, dass Morpheus mit Claudius klettern durfte. Rendal gehörte nicht zu seinem Bekanntenkreis; er hatte ihn lediglich einige Male Fechten sehen. Dabei hatte dieser keine besonders beeindruckende Vorstellung hingelegt. Morpheus fragte sich, was Raspiron an ihm fand.
„Ihr wisst, was zu tun ist. Macht euch an die Arbeit, Männer. Auf meinen Pfiff beginnt unsere Mission.“ segelte die Stimme des Hauptmannes durch die kühle Luft.
Nun war der Augenblick gekommen. Morpheus' Magen krampfte sich zusammen. Alle Klanglosen Klingen brachten sich auf ihren jeweiligen Seiten in Position und warteten gespannt auf das Signal. Schweiß ran Morpheus in Strömen von der Stirn, obwohl die Temperaturen dies verbieten sollten. Hoffentlich bemerkte niemand seine Angst. Claudius blickte ihn jedoch bereits grinsend an und Morpheus spürte die Schamesröte in seine Wangen steigen. Immerhin war sein Kumpane höflich genug, ihn nicht direkt darauf anzusprechen.
Ein schmerzhafter, gellender Pfiff durchbrach die Stille. Keine Wolke verdeckte den Himmel, kein Wind zerzauste seine braunen Haare. Diese Aufgabe sollte zu bewältigen sein.
Die Armada machte sich an die Arbeit. Ihre Hände fanden an der groben Mauer einfachen Halt und Morpheus blinzelte in die Höhe, um festzustellen, dass er die Dimension des Turmes falsch eingeschätzt hatte. Er war größer als erwartet.
Stets höher kletterten sie und alles verlief nach Plan, bis der junge Krieger einen zarten, kühlen Tropfen auf seiner Nasenspitze spürte. Er tat gut. Und sendete einen scharfen Schauer entlang Morpheus' Rückgrat. Seinen Hals beinahe ausrenkend, bemerkte der Krieger, dass erdrückende, dunkelgraue Wolken über den brodelnden Himmel in ihre Richtung krochen. Der Regen stellte eine ungeheure Gefahr für sie dar. Er musste Acht geben, sonst würde er binnen weniger Herzschläge abrutschen und in seinen Tod stürzen.
Vorwärts, stets vorwärts. Morpheus hatte die Hälfte der Strecke passiert, als er einen erschrockenen Aufschrei vernahm. Er drehte seinen Kopf nach links und stellte in Panik fest, dass eine Hand allmählich ihren Halt verlor, um mitsamt Träger in den Abgrund zu stürzen. Die Lippen weiterhin zu einem nun lautlosen Schrei geformt, verschwand der Körper in der Ferne. Verstört blickte Morpheus seinem besten Freund nach, wie er dem Tod in die Arme fiel. Claudius schlug dumpf auf dem Boden auf und blieb leblos liegen. Morpheus blickte fassungslos in die Tiefe. Es dauerte eine Weile, bis die junge Klanglose Klinge aus ihrer Starre erwachte.
„Nein.“ zischte er unter salzigen Tränen.
Ein endloser Schrei brach aus seiner Kehle hervor. Morpheus wünschte sich, selber gefallen zu sein und nicht hilflos an dieser verdammten Steilwand zu hängen. Mittlerweile versammelte sich eine Menge Gaffer um die Leiche, während Finger gen Himmel zeigten. Hoffentlich alarmierten sie die Zwerge nicht rechtzeitig.
Am Turm festgenagelt, wusste Morpheus nicht, wie er handeln sollte. Er konnte herunterklettern und seinem Freund ein letztes Mal in die glasigen Augen blicken und den Auftrag gefährden, oder er konnte sich dem Schicksal stellen und später trauern. Er wusste nicht was er tun sollte. Seine Finger verwandelten sich in Glieder aus Eis, während eine Erinnerungsflut seinen Geist heimsuchte.
Er entschied sich für den Aufstieg; Claudius hätte es so gewollt. Mit Tränen auf den Wangen machte sich der junge Krieger daran, den Turm zu bezwingen. Nun war Geschwindigkeit das einzig wichtige.
Ein Großteil seiner Brüder hatte ihre Fenster bereits erreicht und wartete lediglich auf ein paar Nachzügler, zu denen Morpheus selbstverständlich gehörte. Einige, kräftige Klimmzüge später hatte der junge Krieger das Ziel ebenfalls erreicht.
Sein Kopf drehte sich so träge nach links, als bestünde sein Nacken aus Wachs, um das Zeichen Raspirons nicht zu verpassen. Er fühlte sich, als beobachte er seinen nassen, zitternden Körper durch die Augen eines Anderen. Morpheus selber konnte den Meister nicht sehen, doch Rendal hing sich an einer der acht Ecken des Turmes und spähte auf die andere Seite.
Morpheus' junger Freund starrte ihn plötzlich an. Er hatte keine Tränen im Gesicht und Morpheus hoffte innig, dass sie lediglich vom Regen weggespült worden waren, dass sie sich in seiner Nässe versteckten. Womöglich hatte sein Partner den Tod noch nicht verarbeitet. Schließlich lastete ein gewaltiger Druck auf ihren Schultern, welcher den Schock möglicherweise unterdrückte.
„Es geht los.“ flüsterte Rendal kalt.
Gebraucht hätte er es allerdings nicht, denn die Stimme des Meisters würde selbst an der Westküste widerhallen.
Der Hohn des Schicksals. Vor wenigen Augenblicken hatte er seinen Freund verloren und nun musste er unschuldigen Wesen dasselbe Leid zufügen. Es half alles nichts; er ergriff das Fensterbrett. Ein letzter, flüchtiger Blick in die Tiefe zeigte ihm, dass eine Gruppe Soldaten Claudius fort trug. Er zog sich explosionsartig hoch und sprang in den übervölkerten Raum.
Durch jedes einzelne Fenster kletterten seine Brüder, als der grauenhafteste Teil der Mission begann; für Morpheus' Verstand sinnloses Abschlachten. Nagender Zweifel keimte in ihm auf. Doch er konnte nichts dagegen unternehmen, es war zu spät. Er lenkte seine Konzentration auf das, was die Magister ihm beigebracht hatten. Den Tunnelblick. Seinen Kopf zu leeren, während er tötete. Nicht zu denken, sondern zu schlagen, zu stechen, zu parieren. Wieder und wieder. Glücklicherweise trug er eine Kapuze, denn sonst wäre der Tränenschleier auf seinem Gesicht für jedermann sichtbar.
Ein rascher Blick zeigte ihm, dass sich lediglich eine äußerst ausgedünnte Schar von etwa zwölf Zwergen verzweifelt gegen die Übermacht wehrte. Sie hatten sich Rücken an Rücken in einem Kreis aufgestellt und rotierten, ihre Waffen im Anschlag und furios knurrend in einem rasenden – doch nicht unüberlegt wirkenden – Tempo um ihre eigene Achse. Trotz der Unterzahl würden sie nicht aufgeben, das stand fest. Mit grimmiger Entschlossenheit würden sie bis zum Ende gefährliche Gegner bleiben.
Nach einigen weiteren Umdrehungen jedoch, während welcher die Mischung aus Schweiß und greifbarer Angst eine intensive Atmosphäre gebaren, begangen die Verteidiger einen groben Fehler. Im Glauben, die Konzentration ihrer teils jungen Angreifer lasse trotz der Adrenalinschübe nach, fächerten sie aus, stürmten auf die milde überraschten Klanglosen Klingen zu. Morpheus – der Hauptmann Raspiron, welcher einem jungen, verängstigt aussehendem Zwerg der geradewegs auf ihn zuraste, sein langes Rapier durch die ungeschützte Stelle an der Kehle stieß – als einen lebenden Schild verwendete, wandte seinen Blick ab. Der Zwerg ging sofort mit einem unbehaglichen Gurgeln zu Boden. Bestialische Schreie hallten vereinzelt durch die prachtvolle Halle, in der einige ihrer Erbauer nun den roten Boden säumten.
Erneut fragte Morpheus sich, warum er dieses Leid ertragen musste. Die Szenen nisteten sich in seinem Gedächtnis ein, um abstoßende Eier zu legen. Schon jetzt konnte er in einigen Nächten keinen Schlaf finden, weil die erschlaffenden Grimassen seiner Opfer sich wie eine Wand vor ihm aufbauten. Gewiss besaßen die meisten eine Familie. Doch er musste es tun, sein Vater zwang ihn dazu, dies war sein Weg. Er war selbst einmal ein bedeutender Kommandant gewesen und nun erwartete Eteís dasselbe von seinem Nachkommen.
Schlagartig fiel ihm ein, wozu sie diese Last auf sich genommen hatten. Er blickte sich um und hielt nach dem Zwerg von den Zeichnungen Ausschau. In diesem Moment traf ihn ein mächtiger Schlag am Hinterkopf. Morpheus wurde von den Beinen gerissen und krachte in den gepanzerten Rücken Raspirons. Benommen blieb er liegen, während schemenhafte Schatten vor seinen Augen vorbeihuschten. Er verstand nicht mehr. Alles wurde schwarz, er fühlte nicht mehr, er schwebte.