Читать книгу Graue Pfote, Schwarze Feder - Marc Rybicki - Страница 4
Kapitel 1, in dem zwei besondere Wölfe geboren werden
ОглавлениеEs war einmal in einem grünen Tal ...
Eine Drossel flatterte freudig mit den Flügeln, während die Morgensonne über den Bergen aufging. Der tiefe Schnee war endlich geschmolzen. Der Frühling zog ins Land. In einem Tal in Amerika, das man heute den Yellowstone Nationalpark nennt, erwachte die Natur aus dem Winterschlaf. Überall in den Wäldern und auf den Wiesen begannen junge Bäume und Gräser aus dem Boden zu wachsen. Die Knospen öffneten sich. Die Blumen blühten. Auch die Tiere, die zahlreich im Tal lebten, bekamen um diese Jahreszeit Nachwuchs. Die Eichhörnchen, die Biber, die Bären und die Murmeltiere, die Adler, ja sogar die Ameisen – alle freuten sich über ihre Babys.
Nur aus der Höhle der Wölfe hatte man noch keinen Freudenschrei gehört. Seit Stunden schon wartete Büffeltöter auf die Geburt seiner Welpen.
„Warum dauert das so lange?“, grummelte er und trabte unruhig hin und her. Büffeltöter war der Anführer des Rudels. Kräftig und groß, mit weißgrau gemustertem Fell und tiefblauen Augen. Obwohl er ein hervorragender Jäger war und über reichlich Ausdauer verfügte, fiel ihm das Warten unheimlich schwer. Er wollte endlich als stolzer Vater in die Knopfaugen seiner kleinen Kinder sehen.
Doch es kam nicht der geringste Laut aus dem Wolfsbau, der auf einer felsigen Anhöhe lag. In die Erde unter den Steinen hatten die Wölfe vor geraumer Zeit einen Tunnel gegraben. Er diente nun als Eingang zu ihrer Höhle, die gut versteckt im Berg lag, geschützt vor den Blicken neugieriger Besucher. Dort lebte Familie Wolf zusammen. Normalerweise. Jetzt hatte sich Mutter Wolf allein in den Bau zurück gezogen und wollte niemanden sehen. Bei der Geburt ihrer Kinder brauchte sie keine Zuschauer. Ihr Name war Nachtschatten. Warum sie so hieß, konnte jeder leicht erraten, der die Wölfin einmal mit eigenen Augen gesehen hatte. Ihr Fell schimmerte nämlich so schwarz wie eine Nacht, in der kein Mond scheint. Büffeltöter war stolz auf seine schöne Frau, die ihm bereits im vergangenen Frühjahr zwei Kinder geschenkt hatte. Zwei Söhne, um genau zu sein.
Sie saßen mit gespitzten Ohren am Höhlenrand, neugierig lauschend, ob sich die neuen Geschwister schon meldeten. Die beiden wurden Falkenauge und Brautschauer genannt. Neben ihnen hockten die näheren Verwandten. Heult-in-der-Nacht und Silberfell, ihre beiden Tanten. Dazu ein Onkel, der Bruder ihrer Mutter, mit Namen Stopft-sich-voll, weil er gerne aß und sein Bauch dick war wie eine Trommel.
„Kommen die Babys heute noch?“, fragte Brautschauer und steckte seinen grau-braunen Kopf ein Stück weit in den Eingang zur Höhle.
„Nimm die Nase da raus!“, raunte Falkenauge und funkelte seinen Bruder aus stechend gelben Augen an.
„Entschuldigung“, stammelte sein Bruder kleinlaut. „Ich wollte nur … ich meine … ich freue mich eben so sehr auf das Spiel mit den Kleinen.“
„Das Leben ist nicht nur Spiel und Spaß. Merk dir das“, erwiderte Falkenauge. „Dir werden die Schreihälse
noch früh genug auf die Nerven gehen.“ Der junge Wolf war alles andere als begeistert, dass sich das Rudel vergrößern würde. Auf noch mehr Geschwister konnte er getrost verzichten. Denn Falkenauge befürchtete insgeheim, dass ihm die Babys den Rang ablaufen könnten. Als Erstgeborener wollte er im Mittelpunkt stehen und eines Tages die Nachfolge seines Vaters Büffeltöter als Chef der Familie antreten.
„Brautschauer, es dauert bestimmt nicht mehr lang. Bald kannst du mit ihnen raufen“, meinte Onkel Stopft-sich-voll mit einem gutmütigen Lächeln. „Und die Geburt feiern wir mit einem leckeren Festessen, mjam!“, rief er und leckte sich die rundliche Schnauze.
Büffeltöter wollte ihn gerade ermahnen, wie er denn jetzt bloß ans Essen denken könne, als ein Geräusch aus der Höhle kam. Ein lautes Hecheln.
„Das ist Nachtschatten! Sie hat Schmerzen! Aus dem Weg! Macht Platz!“, schrie Büffeltöter und machte sich bereit, mit einem mächtigen Satz in die Höhle zu springen. Seine Schwester Heult-in-der-Nacht hielt ihn zurück.
„Ruhig Blut! Du weißt doch wie eine Geburt abläuft, und dass Nachtschatten nicht gestört werden darf. Erinnere dich an das vergangene Jahr als deine Söhne zur Welt kamen!“
„Diesmal ist es anders“, sagte Büffeltöter. „Das kann ich wittern.“ Er zog die Nase kraus und schnüffelte aufgeregt in den sanften Frühlingswind.
Heult-in-der-Nacht sprach ihm gut zu. „Vertraue auf den Schöpfer, die Kraft von Manitu. Er ist der Herr unseres Schicksals. Der Lenker jedes Augenblicks. Was immer auf der Welt geschieht, es passiert nach seinem Plan.“
Während die alte Wölfin sprach, glänzten ihre Augen weiß wie die Sterne. Büffeltöter schaute sie gebannt an.
Er bewunderte wieder einmal die Gelassenheit und Weisheit, die er im Gesicht seiner Schwester entdeckte. Auf ihrer Stirn schlängelten sich die silbergrauen Haare zu einem Muster, das wie die Sichel eines Halbmonds aussah. Ein Zeichen, dass sie mit den Mächten des Himmels im Bunde war.
„Schwester, ich weiß, du verstehst dich auf das Wirken unseres großen Gottes Manitu. Du kannst in die Zukunft sehen. Warum dauert es diesmal so lange? Was geschieht mit Nachtschatten?“, fragte Büffeltöter.
Bevor Heult-in-der-Nacht antworten konnte, kam Freddy, der Fuchs, aus einem Busch gewetzt. Er fragte freundlich: „Na, habt ihr eure Jungen schon?“
Büffeltöter knurrte: „Was geht`s dich an, du elender Hühnerdieb? Hau ab und verschwinde, wenn dir dein Leben lieb ist!“
Der entsetzte Freddy rannte schleunigst weg.
„Der ist genauso feige und faul wie diese widerlichen Raben“, sagte Falkenauge.
„Mein Sohn, da hast du Recht“, stimmte der Leitwolf zu. „Wenn ich an dieses Diebsgesindel nur denke, wird mir übel.“
Mit ihrer heiseren Stimme mahnte Heult-in-der-Nacht den werdenden Vater: „Anstatt auf die Raben einzuhauen, solltest du hoch zum Himmel sehen. Du wolltest doch wissen, warum du so lang auf deine Welpen warten musst.“
Büffeltöter nickte schweigend und sah hinauf.
Seine Schwester sagte: „Achte auf den Lauf der Sonne!“
Goldene Strahlen tanzten über das klare Wasser des nahen Flusses, brachen durch die Baumkronen am Waldrand und landeten direkt vor Büffeltöters grauen Pfoten.
„Das, mein Lieber, ist ein Zeichen Manitus! Ein Ereignis von Besonderheit steht bevor“, verkündete Heult-in-der-Nacht. „Und auf Besonderes muss man immer ein wenig länger warten“, fügte sie schmunzelnd hinzu. Ihre Nase wies auf einen Schmetterling, der durch das Sonnenlicht flatterte. „Siehe den Falter! Er ist ein Symbol für Veränderung, die uns Wölfen bevorsteht.“
Alle Mitglieder des Rudels stellten ihre spitzen Ohren auf. Was sollte sich denn bei ihnen verändern? Die Dinge waren doch gut, so wie sie waren.
„Veränderung? Zum Guten oder zum Schlechten?“, fragte Büffeltöter misstrauisch.
Heult-in-der-Nacht schloss für einen Moment ihre weißen Augen, als würde sie tief in sich schauen, um die Antwort zu finden. Dann meinte sie: „Deine Welpen, die soeben den ersten Duft der Erde riechen, werden uns Wölfe auf einen neuen Kurs führen.“
„Neuer Kurs?“, sagte Büffeltöter irritiert. „Habe ich das Rudel bisher etwa falsch geführt?“
Stopft-sich-voll jubelte: „Vielleicht zeigen sie uns ein Schlaraffenland, in dem jeden Tag der Mittagstisch reichgedeckt ist mit Fleisch und Fisch.“
Silberfell schüttelte ihre leuchtend helle Mähne, die genauso sauber gepflegt war wie ihre blankgeputzten Zähne. „Denkst du immer nur mit deinem Magen?“, fragte sie. „Also ich brauche keine Veränderung. Schon gar keine Luftveränderung. Ein Umzug würde mir überhaupt nicht passen. Ich find`s schön in unsrem Wald. Für meine Haut ist das Klima ideal. Dazu gibt es genug Pflanzen, Gräser und Beeren für eine gesunde und biologisch einwandfreie Ernährung.“
„Gras? Pah!“, schnaubte Stopft-sich-voll. „Da verputze ich doch lieber einen Wapiti-Hirsch!“
Silberfell streckte sich und hob stolz ihren zierlichen Kopf.
„Man sieht`s dir an, wie viel Fleisch du frisst. Ich dagegen habe eine tadellose Figur dank meiner Salat-Diät.“
„Ein vegetarischer Wolf. Hat man sowas schon gehört? Du spinnst ja, Schwesterchen“, entgegnete Stopft-sich-voll.
Die beiden hätten ihre übliche Zankerei sicher fortgesetzt, wenn nicht ein lieblicher Gesang erklungen wäre. Brautschauer erkannte ihn sofort. „Es ist Mamas Stimme! Ich glaub, die Kleinen … sie sind da!“
Nachtschatten sang ihren Dank zum Himmel für die gesunden Babys, die ihr geschenkt worden waren.
„Komm und schau dir das Wunder an!“, rief sie Büffeltöter zu.
Der große Wolf war sofort zur Stelle und spurtete schleunigst in die Höhle, um nach seiner Frau zu sehen. Sie sah müde aus,doch auch dankbar und zufrieden. Zwischen ihren Pfoten lagen zwei kleine Wölfchen. Noch blind und taub und mit kurzen flauschigen Haaren bedeckt. Ihr Fell bekamen sie erst später, wenn sie älter wurden. Auch Augen und Ohren öffnen sich bei den Wölfen erst nach ein paar Wochen.
„Wir haben einen Sohn und eine Tochter – ist das nicht schön?“, fragte Nachtschatten. Liebevoll leckte Büffeltöter über die Wange seiner Gefährtin und sah fröhlich grinsend auf seine beiden Kinder.
Brautschauer, der seinen Hals in die Höhle reckte, meinte: „Oh weh, die sehn ja aus wie Schweinchen mit ihren kurzen Beinen und dem rosa Stummelschwanz! Hattest du nicht gesagt, aus denen soll etwas Besonderes werden?“
Heult-in-der-Nacht nickte bedächtig. „Mancher hat klein und unscheinbar angefangen, der nachher großen Ruhm erwarb.“
Büffeltöter stieß ein Jubelgeheul aus, das er sonst nur nach einer erfolgreichen Jagd erklingen ließ. Das Rudel stimmte ein und selbst die zarten Welpen begannen, vor sich hin zu kläffen.
Die ganze Familie Wolf hatte ein Lächeln im Gesicht. Nur Falkenauge blinzelte verstört. Würden ihm seine Geschwister die Nachfolge von Büffeltöter streitig machen wollen? Dann bekämen sie nichts zu lachen, schwor er still bei sich...