Читать книгу Graue Pfote, Schwarze Feder - Marc Rybicki - Страница 6

Kapitel 3, in dem die kleinen Wölfe ihre Höhle verlassen und erste Regeln lernen

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Acht Wochen nach ihrer Geburt durften die Wolfskinder zum ersten Mal den Schutz ihres Baus verlassen. Büffeltöter und Nachtschatten waren der Meinung, dass ihre Jungen nun reif genug seien, ein Stückchen der Welt zu erkunden. Wie richtige Wölfe sahen die Zwerge noch nicht aus. Eher wie dicke Teddybären mit spitzen Ohren und kurzen Beinen. Tapsig liefen sie durch das hohe Gras, das vor ihrer Höhle wuchs. Später, als erwachsene Wölfe, würden ihre Beine lang und ihr Herz und ihre Lunge groß und kräftig sein. Dann wären sie so gute Langstreckenläufer wie ihre Eltern, die an einem Tag 50 Kilometer weit traben konnten. An derart gewaltige Ausflüge war jetzt allerdings noch nicht zu denken.

Es genügte, wenn die Welpen rund um die Höhle stapften oder ein Stück in den Kiefernwald oder zum Fluss hinunter liefen.

Obwohl die beiden Zwillinge waren, unterschieden sie sich sehr voneinander. Das Fell des Jungen war völlig grau von der Schnauze bis zur Schwanzspitze. Wären da nicht seine schwarze Nase und die blauen Knopfaugen gewesen, hätte man ihn leicht mit einem Stein verwechseln können. Wenn er vor einem Felsen stand, erkannte man ihn kaum. Das Mädchen hingegen hatte weißes Haar, das von einem schwarzen Streifen verziert wurde. Er begann an einem Punkt zwischen ihren Ohren und lief über den Rücken wie eine Welle auf dem Meer. Ihre Augen schauten leuchtend braun und wissbegierig in die Welt. Überhaupt war das Mädchen sehr neugierig und als Erste zur Stelle, wenn es etwas Neues zu erforschen gab. Nie bewegte sie sich langsam, vielmehr schien sie es immer unglaublich eilig zu haben. Bald sprang und hüpfte sie wie ein Gummiball von einem Fleck zum anderen. Ihr Bruder war zaghafter, vorsichtiger, ja sogar ein bisschen ängstlich. Außerdem ziemlich ungeschickt, wie sich herausstellte. Eines Tages hatte er einen Fischreiher entdeckt, der ein Stück weit in der Wiese am Ufer stand und sich putzte. Ins Gras geduckt schlich der Wolf-Junge auf Zehenspitzen heran, um den Reiher mit einem gewaltigen Sprung zu erschrecken. Der Vogel aber hatte den Kleinen längst bemerkt und beobachtete jede seiner ungelenkigen Bewegungen aus dem Augenwinkel. Als der Wolf-Junge zum Sprung ansetzte, flog der Reiher graziös und mit einem krächzenden Lachen davon. Der Welpe schaute verdutzt in die Luft. Rasch wollte er dem Reiher hinterherlaufen. Aber seine kurzen Beine blieben an einer Wurzel hängen. Rumms – landete er platt auf dem Bauch. So erging es ihm häufig. Es gab keinen Tag, an dem er nicht über seine Pfoten stolperte und auf die schwarze Nase plumpste.

Wie alle Kinder, so mussten auch die jungen Wölfe sehr viel lernen. Ihre Lehrer waren die Eltern und die Brüder, die Tanten und der Onkel. Jeder gab sein spezielles Wissen weiter. So war Silberfell für den Unterricht in Schönheitspflege und melodischem Gebell zuständig. Heult-in-der-Nacht erzählte von den Geboten des großen Manitu, dem Schöpfer der Erde.

„Seid ehrlich und freundlich zueinander. Helft euch gegenseitig. Lügt nicht, stiehlt nicht, tut dem anderen nicht weh – wenn ihr euch an diese Regeln haltet, wird Manitu fröhlich sein und euch Glück und Freude schenken“, erklärte Heult-in-der-Nacht. Sie zeigte den Welpen auch, was die Sternbilder am Himmel bedeuten und wie man das Wetter am Stand der Wolken voraussagen kann.


Stopft-sich-voll kannte sich natürlich am besten mit dem Essen aus und wusste, welche Tiere und Früchte genießbar und besonders schmackhaft waren. Von ihrer Mutter Nachtschatten lernten die Wölfchen die Sprache der Wildnis. Denn wer genau hinhörte, bemerkte, dass alle Lebewesen reden konnten. Die Bäume sangen ihre Lieder, wenn der Wind durch ihre Zweige pfiff. Die Vögel trällerten, die Hirsche röhrten und die Fische blubberten. Alle Tiere wussten etwas in ihrer ganz eigenen Sprache zu berichten. Wölfe mussten diese Dialekte lernen, denn sie waren nicht nur als Jäger bekannt, sondern galten ebenso als Herrscher und Hüter des Yellowstone Tales. Ein König aber, der die Sprache seiner Untertanen nicht versteht und sich ihre Sorgen nicht anhören kann, ist ein furchtbar schlechter König. Die hohe Kunst des Jagens und Beutemachens sollten die Kleinen von Büffeltöter und Falkenauge lernen. Später einmal. Noch waren sie für diese Lektion viel zu jung und hatten vor allem eines im Sinn: Spielen, spielen, spielen und noch mal spielen! Das konnten sie den ganzen Tag. Morgens, mittags und am Abend, bevor ihnen übermüdet die Augen zu fielen. Ihr lustiger und zu Streichen aufgelegter Bruder Brautschauer erwies sich als feiner Spielkamerad. Falls er nicht gerade auf Wanderschaft war, um einer Wölfin aus dem Nachbarrudel eines seiner Liebeslieder vorzusingen. Das Spiel „Stöckchen ziehen“ fanden sie am schönsten. Brautschauer hielt mit seinen Zähnen ein Ende des Stocks fest und am anderen Ende zogen der Wolf-Junge und das Wolf-Mädchen. Mal abwechselnd und mal beide gleichzeitig. Es war ein Wettstreit der Kraft und der Ausdauer. Ganz nebenbei lernten die Jungen wichtige Fertigkeiten, die sie als ausgewachsene Wölfe für die Jagd beherrschen mussten: zubeißen und Beute festhalten. In der Regel ließ Brautschauer seine Geschwister gewinnen. Nach einer Weile des Hin- und Herzerrens nahm er den Stock einfach aus dem Maul und gönnte den kleinen Rackern ihren Triumph. Manchmal aber verteidigte er auch den Stock und gab ihn nicht her. Die Wölfchen sollten dadurch lernen, mit Niederlagen und Enttäuschungen umzugehen und die Rangordnung im Rudel zu respektieren. Was einem älteren Mitglied der Familie gehörte, durfte ihm kein Junger wegnehmen.

Während ihre Babys mit Brautschauer auf der Wiese fangen spielten, lagen Büffeltöter und Nachtschatten im Eingang des Baus und sahen dem munteren Treiben amüsiert zu. Die Verwandten lagen um sie herum im Halbkreis. Auch Falkenauge war darunter. Plötzlich sprang das Wolf-Mädchen auf ihn zu und forderte ihn piepsend zum Mitspielen auf.

„Komm, Bruder! Lass uns toben! Ich zieh dich an den Ohren und dann versuchst du, mich zu fangen, okay?“

„Verschwinde“, murrte Falkenauge, ohne seine Schwester anzusehen.

„Ach, bitte! Das ist doch ein lustiges Spiel. Auf! Fang mich! Fang mich!“, rief das Mädchen.

Falkenauge knurrte: „Geh weg!“

Er schob seine Lefzen nach oben, so dass ein Teil seines imposanten Gebisses sichtbar wurde.

Die kleine Wölfin kümmerte es nicht. Wieder rief sie: „Auf! Spielen! Spielen!“ Sie stupste herausfordernd mit der Nase gegen Falkenauges grauen Kopf.

„Schluss jetzt!“, brüllte er und stürzte sich auf seine Schwester. Er schleuderte sie mit seinen Tatzen zu Boden, drückte ihren zarten Körper in den Staub und stand mit gefletschten Zähnen über ihr. Das Mädchen sah in seine gelben, vor Zorn glühenden Augen und bekam große Angst.

„Tu mir nicht weh, bitte, bitte!“

„Lass dir das eine Warnung sein. Von mir hältst du dich besser fern“, sagte Falkenauge und schnappte drohend in die Luft, dicht vor der Nase des Mädchens.

Büffeltöter nickte ihm anerkennend zu. „So ist`s richtig. Erzieh die Freche!“ Zu Nachtschatten sagte er: „Falkenauge entwickelt sich zu einer Autorität. Der Junge kommt ganz nach mir.“

„Da bin ich mir nicht sicher, mein lieber Mann“, antworte die Wölfin. „Zu einem wahren Chef gehören nicht bloß Strenge und Härte. Ebenso muss er gütig und verständnisvoll sein – so wie du es bist. Bei Falkenauge sehe ich davon nichts. Ob er es noch lernt?“

Graue Pfote, Schwarze Feder

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