Читать книгу Graue Pfote, Schwarze Feder - Marc Rybicki - Страница 7
Kapitel 4, in dem die Wölfe Rauchzeichen sehen, von Indianern hören und ihre Namen bekommen
ОглавлениеAn einem anderen Frühlingstag waren die Wölflinge mit Stopft-sich-voll im Wald unterwegs, als sie einen winzigen hellbraunen Kopf mit riesigen schwarzen Augen aus dem Boden schauen sahen. Ein Erdhörnchen, das die Behaglichkeit seiner unterirdischen Wohnung verlassen wollte, um Nüsse einkaufen zu gehen. Der Wolf-Junge fackelte nicht lange.
„Das ist Beute! Auf ihn!“, rief er.
„Ja, mit dem können wir Fangen spielen“, stimmte seine Schwester ein. Beide rannten los, ohne auf den Ruf von Stopft-sich-voll zu achten.
„Halt! Das ist der alte Herr Erdmann. Der spielt nicht mit euch! Den kann man auch nicht essen! So wartet doch!“, rief der dicke Wolf und lief keuchend hinter Neffe und Nichte her.
Das Erdhörnchen sah die beiden in vollem Galopp anpreschen und verzog sich mit einem gemurmelten „Ach, du lieber Himmel“ zurück in sein Loch.
„Er versucht abzuhauen! Den kriegen wir!“, sagte der Wolf-Junge. Er rannte schneller und schneller – viel zu schnell. Sein Schwung ließ ihn das Gleichgewicht verlieren. Also landete er – platsch – mal wieder auf der Schnauze. Seine Schwester erreichte das Erdloch und begann mit ihren Pfoten darin herumzuwühlen. Irgendwie musste sich dieser kleine Kerl, der sich unter dem Boden versteckt hielt, doch fangen lassen. Tatsächlich tauchte der Kopf des Erdhörnchens wieder auf. Jedoch aus einem anderen Loch, ein paar Meter weiter rechts. Er schnauzte Stopft-sich-voll an, der schwitzend angetrabt kam.
„Halten Sie Ihre Racker gefälligst davon ab, meine Wohnung zu demolieren! Was ist denn das für eine Erziehung, wenn die Jugend keine Achtung mehr hat vor fremdem Eigentum?!“
Stopft-sich-voll schubste seine immer noch buddelnde Nichte von dem Erdloch weg. „Herr Erdmann hat keine Lust mit euch zu toben. Los! Lauft! Geht woanders spielen“, sagte er.
„Ach, wie doof“, maulte das Mädchen. Sie lief ein paar Schritte weiter in den Wald, drehte sich dann noch einmal herum und kläffte das Erdhörnchen an, das erschrocken zusammenzuckte. Lachend über den gelungenen Streich trollten sich die Wolf-Kinder.
„Sie müssen entschuldigen, Herr Erdmann. Die Kinder … na ja, sie sind eben noch wild.“
Herr Erdmann winkte ab. „Erziehung muss sein! Das wird auch der Rabe noch einsehen.“
„Welcher Rabe?“, fragte Stopft-sich-voll misstrauisch.
„Wissen Sie es nicht? Die Raben haben einen Sohn zur Welt gebracht. Er heißt Thor. Sie haben ihm zu Ehren ein Fest gegeben.“
Der gutmütige Ausdruck auf dem Gesicht des Wolfs wurde schlagartig finster.
„Wir waren zu der Party nicht eingeladen. Und legen auch keinen Wert darauf. Was die Raben machen, interessiert uns nicht. Das ist Diebesgesindel. Überträgt Krankheiten. Schadet dem ganzen Tal. Ich hasse Raben.“
Die kleinen Wölfe bekamen vom Zorn des Onkels nichts mit. Das Mädchen versuchte, sich mit einem Mistkäfer anzufreunden und ihn zum Spielen zu überreden. Doch der schwarze Winzling reagierte nicht.
„Vielleicht musst du ihn mit der Schnauze anstupsen“, schlug der Junge vor. Seine Schwester nickte und stupste. Der Mistkäfer fiel auf den Rücken und strampelte mit seinen Beinchen in der Luft. „Hihi – wie lustig das aussieht“, lachten die Welpen. Als Stopft-sich-voll dazu kam, schimpfte er: „Hört ihr nicht, dass der arme Kerl um Hilfe ruft? Mistkäfer bekommen Angst, wenn man sie auf den Rücken dreht!“
„Ich höre ihn nicht rufen“, sagte das Mädchen.
„Wahrscheinlich, weil ihr im Unterricht eurer Mutter vor euch hin geträumt habt, mhm? Bringt sie euch nicht die Sprachen der Tiere bei?“
„Doch“, antworteten die Kinder. „Wir sind aber erst beim Buchstaben D wie Dachs. Und Mistkäfer ist ein M-Tier.“
„Verstehe“, sagte Stopft-sich-voll schmunzelnd. „Nun ja, jedenfalls drehen wir den Mistkäfer nun wieder herum, damit er festen Boden unter seinen Füßen spürt. Danach lassen wir ihn in Ruhe und gehen weiter. Mistkäfer sind keine guten Spielkameraden für Wölfe. Viel zu zerbrechlich. Wir verletzen sie, wenn wir uns auf ihnen herumwälzen. Zum Essen sind sie auch nicht geeignet. Sie schmecken wie Schei … äh … ich meine, sie schmecken bescheiden. Kein Vergleich zu einem Wapiti-Hirsch. Mjam, mjam, mjam ... Wapiti-Hirsch!“ Bei dem Gedanken an das saftige Fleisch lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Sie wanderten weiter. Nach einer Weile blieb das Mädchen wie angewurzelt stehen. Es schnupperte in die Luft, nach links und rechts.
„Das riecht aber komisch hier.“ Am Horizont, wo der Wald endete und ein massiver Berg in den Himmel ragte, stiegen dunkelgraue Wolken auf. „Was ist das?“
„Lasst uns gehen, Kinder“, sagte Stopft-sich-voll leise.
„Warum? Ich will mir das ansehen. Ich will zu den Wölkchen gehen“, sagte das Mädchen. Bevor seine Nichte losrennen konnte, versperrte ihr Stopft-sich-voll den Weg.
„Du machst was ich sage und gehst brav mit uns nach Hause. Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder.“
Der Wolf-Junge hatte die Ohren angelegt und kauerte am Stamm einer Kiefer. Ihm waren diese Wolken nicht geheuer. „Was ist das, Onkel?“
„Man nennt es Rauch. Er entsteht, wenn ein Feuer brennt.“
„Feuer?“, fragte das Mädchen.
„Feuer ist heißer als die Sommersonne und tut sehr weh, wenn man es berührt. Die Indianer haben das Feuer angezündet. Sie leben am Fuß des blauen Berges.“
Die braunen Augen der Wölfin vergrößerten sich staunend. „Was sind denn Indianer?“
„Sie laufen auf zwei Beinen, schmücken sich mit Federn und tragen lange Stöcke mit spitzen Enden. Damit machen sie Jagd auf uns. Ja, meine Kleinen. Die Indianer sind unsere Feinde. Wenn sie uns erwischen, töten sie uns. Ein paar von unseren Freunden und Verwandten haben sie bereits erlegt.“
Der Wolf-Junge wurde kreidebleich. „Ich bin dafür, dass wir sofort nach Hause gehen!“, rief er.
Stopft-sich-voll nickte und trieb die Welpen vor sich her. „Mit Indianern ist nicht zu spaßen. Man darf nicht in ihre Nähe kommen und muss ihnen so weit wie möglich aus dem Weg gehen“, betonte er.
Das Mädchen blickte sich noch einmal verstohlen zu den Rauchzeichen um. Sie seufzte leise. Auch wenn ihr Onkel und ihr Bruder ängstlich waren – sie hätte doch zu gerne mal einen dieser Feuer machenden Indianer aus der Nähe betrachtet.
Die Wochen zogen ins Land und die Wölfchen lernten eine Menge. Aber etwas fehlte den Zweien noch. Und was? Genau: Ein Name!
„Warum haben wir keine Namen?“, fragte das Mädchen eines Morgens seine Mama.
„Weil es bei uns Wölfen üblich ist, dass wir unsere Namen nicht von Geburt an haben, sondern sie uns erwerben müssen. Durch ein besonderes Merkmal. Das kann unser Aussehen sein, unser Benehmen oder eine Fähigkeit“, erläuterte Nachtschatten. „Bei mir war es die Farbe meines Fells, das schwarz ist wie ein Schatten in der Nacht. Euer Vater hat als junger Wolf allein mit einem Büffel gerungen und ihn erlegt. Fortan nannte man ihn Büffeltöter. Onkel Stopft-sich-voll heißt natürlich so, weil kein Leckerbissen vor ihm sicher ist. Euer Bruder Brautschauer war kaum vier Monate alt, da ist er schon ausgebüxt auf die gegenüberliegende Seite des Flusses. Dort leben andere Wölfe, die entfernt mit uns verwandt sind. Brautschauer ist ihren Töchtern hinterher gelaufen. Als ob er schon eine Braut zum Heiraten suchen würde.“
„Verstehe“, meinte das Mädchen. „Dann habt ihr Falkenauge so getauft, weil er dauernd grimmig guckt wie der alte Herr Bussard, der auf der knorrigen Kiefer wohnt.“
Nachtschatten lachte. „Nein, mein Schatz. Falkenauge bekam diesen Namen wegen der Schärfe seines Blicks. Er kann selbst im Dunkeln viel besser sehen als jeder andere von uns. Es gibt kein Tier, das Falkenauge nicht über Meilen ausfindig macht.“
Das Mädchen fand das sehr interessant. Doch anstatt weitere Familiengeschichten zu hören, wollte es jetzt auch endlich einen Namen bekommen. Ihrem Bruder ging es genauso.
„Also schön. Wir berufen den Rudel-Rat ein und stimmen darüber ab“, sagte die Wolf-Mama.
Alle kamen vor der Höhle zusammen und setzten sich im Kreis um die Welpen. „Welchen Namen soll der Kleine haben?“, fragte Büffeltöter. Die Entscheidung fiel nicht schwer. Da der Junge tollpatschig und schon oft über seine Pfoten gestolpert war, tauften sie ihn auf den Namen Stolpert-über-seine-Pfoten.
„Oh weh, das klingt nicht gerade toll“, seufzte er.
„Es ist der passende Name für einen Idioten“, raunte Falkenauge. Stopft-sich-voll boxte ihn in die Seite. „Sei ruhig, du Griesgram. Und du mein Junge, hör nicht auf deinen ollen Bruder. Mir gefällt dein Name. Er ist lustig. Wie meiner. Wenn man über seine kleinen Schwächen lachen kann, ist das viel wert und zeigt, wie klug man ist.“
„Ehrlich?“, fragte Stolpert-über-seine-Pfoten fröhlich. „Na, wenn das so ist, gefällt er mir auch.“
„Und ich und ich und ich?!“, schrie das Mädchen und hüpfte wie ein Floh in die Luft. „Wie heiße ich?“
„Wie wär`s mit: Die-uns-auf-die-Nerven geht?“, schlug Falkenauge hämisch grinsend vor.
„So wird meine Tochter sicherlich nicht gerufen“, grollte Büffeltöter. Er wandte sich an Heult-in-der-Nacht. „Schwester, du hast mir einst meinen Namen gegeben. So gib ihn auch meinem Kind.“
Die greise Wölfin hob den Kopf. Ein Windhauch kräuselte das weiße, sichelförmige Haar zwischen ihren Augen, während sie zu dem Mädchen sprach: „Du hast viel Temperament und fegst durch das Tal wie eines der jungen Pferde im Grasland. Deine Wildheit ist keine schlechte Eigenart. Es ist ein Zeichen deines Wunsches nach Freiheit. Du willst ungebunden sein wie der Wind in den Weiden. Dich über Grenzen hinwegsetzen. Gegebenes in Frage stellen. Das ist nicht verkehrt. Wenn du älter wirst und begreifst, deine Energie zu nutzen, kannst du viel Gutes damit bewirken.“ Dann verkündete Heult-in-der Nacht feierlich: „Wild-wie-der-Wind. Von heute an ist das dein Name. Wild-wie-der-Wind.“