Читать книгу Graue Pfote, Schwarze Feder - Marc Rybicki - Страница 8
Kapitel 5, in dem Thor das Fliegen lernt
ОглавлениеEs waren einige Wochen vergangen, in denen Thor fast stündlich von seinen Eltern mit Würmern und frischen Beeren gefüttert worden war. Tag und Nacht hatte er gefiepst, gepiepst und nach mehr Futter gerufen. „Essen! Essen! Essen!“
Odin und Freya fanden kaum Zeit zum Schlafen und waren sehr erschöpft. Dann hörten sie eines Tages ein leises, aber sehr klares „Ra Ra Ra“ aus Thors Schnabel. Sein erstes Liedchen! Die Eltern sahen voller Stolz auf ihren Sohn. Alle Mühen hatten sich gelohnt. Er würde ein gesunder und kräftiger Rabe werden.
Ein paar Tage später wackelte Thor unruhig im Nest hin und her. Er wollte unbedingt das Fliegen ausprobieren.
Freya war nicht begeistert von dieser Idee. „Du bist noch zu klein, um zu fliegen“, meinte sie. Die Rabenmutter hatte Angst, weil die Jungen der Wölfe bereits im Wald herumstreunten. Sie wollte sich nicht vorstellen, was passieren könnte, wenn ihr einziges Kind in die Nähe dieser Bestien geraten würde. Doch Thor hörte nicht auf, zu jammern und zu piepsen und bald darauf wusste der gesamte Clan, dass er seinen ersten Flugversuch wagen wollte. Der missmutige Cousin stänkerte: „Thor wird nie ein guter Flieger werden. Das liegt an seiner grauen Feder!“
Auch die anderen Verwandten hegten ihre Zweifel. „Bestimmt plumpst er direkt aus seinem Nest auf den Boden herunter!“ „Wahrscheinlich wird er glatt auf seinem Schnabel landen!“
„Es reicht!“, rief Odin. „Mein Sohn wird euch schon zeigen, was er kann. Ihr werdet es sehen!“
Daraufhin versammelte sich der gesamte Rabentross am Fuß des Ahornbaums unter Thors Nest und wartete gespannt auf seinen ersten Flugversuch. Odin flüsterte: „Keine Sorge, mein Sohn, ich habe gesehen, wie du in den vergangenen Wochen groß und stark geworden bist. Ich weiß, dass du das schaffst. Zeige allen, was du kannst, und beweise ihnen, dass du mutig bist!“
Opa Jakob setzte sich neben Thor, um ihm etwas Sicherheit zu geben. Thor stellte sich dicht an den Rand des Nestes und schaute auf seine nach oben blickenden Verwandten herunter.
„Ui, wie klein alle auf einmal sind. Der Baum scheint höher zu sein, als ich dachte. Ob ich wirklich bereit bin für den ersten Flug?“ Er taumelte ein bisschen, als er nach unten sah, und machte zögerlich einen Schritt zurück in Richtung des Nestes. Doch Opa Jakob, der die hämischen Blicke der anderen nicht ertragen wollte, gab Thor einen kleinen Schubs nach vorne und der kleine Rabe gab einen leisen Pieps von sich. Ganz automatisch, als hätte er in seinem Leben bisher nichts anderes gemacht, breitete Thor seine Flügel aus und schwebte wie ein König der Lüfte um den Ahornbaum herum. Alle applaudierten und brachen in jubelndes Gekrächze aus.
„Er hat es tatsächlich geschafft“, sagte Oma Hedwig. „Was für ein prächtiger Bursche er doch ist!“
Die Landung war allerdings nicht ganz so elegant wie der Start. Mit einem „Rums“ purzelte Thor in das Nest. Freya war sofort bei ihm. „Hast du dich auch nicht verletzt, mein Piepmatz?“
„Alles in Ordnung, Mama“, sagte er grinsend.
Sein erster Flug war geglückt – und die Landung würde er mit ein bisschen Übung auch hinbekommen. Opa Jakob flüsterte ihm mit seiner poetischen Stimme zu: „Niemals nimmer aufzugeben, das muss sein dein immerwährendes Bestreben. Denn damit kannst du viel erreichen, keine Möglichkeit wird dir entweichen.“
Thor verstand nicht ganz, was sein Opa damit meinte, aber er merkte sich die Worte gut. Eines Tages, wenn er diese Verse verstehen konnte, würden sie ihm bestimmt nützlich sein.