Читать книгу Graue Pfote, Schwarze Feder - Marc Rybicki - Страница 9
Kapitel 6, in dem Wild-wie-der-Wind von zu Hause wegläuft
ОглавлениеLachend ging die Sonne über den Bergen auf, als hätte ihr der Mond in der Nacht einen köstlichen Witz erzählt. Das Yellowstone Tal erwachte strahlend in einem grünen Sommerkleid, das es um diese Jahreszeit zu tragen pflegte. Wild-wie-der-Wind lief eilig aus dem Bau, rupfte ein wenig Gras aus der Wiese und kaute es wie Kaugummi. Sie war aufgeregt, weil ihr Vater gleich das Rudel zusammentrommeln würde, um zur Jagd aufzubrechen. Diesmal wollte sie mit dabei sein. Dazu war Wild-wie-der-Wind fest entschlossen. Wartend scharrte die junge Wölfin mit den Vorderpfoten in der Erde. Als Büffeltöters großer, grauer Kopf aus dem Eingang der Höhle lugte, stellten sich ihre Ohren in freudiger Erwartung auf.
„Es ist an der Zeit, Familie! Fertig machen zum Abrücken!“, rief er. Nacheinander trabten Nachtschatten, Falkenauge, Silberfell, Stopft-sich-voll und der verschlafene Brautschauer heran. „Immer diese Jagdausflüge am frühen Morgen. Muss das sein?“
Büffeltöter sah seinen Sohn streng an. „Möchtest du lieber verhungern? Wer essen will, der muss auch dafür arbeiten. Auf geht`s!“
Heult-in-der-Nacht blieb im Schatten des Wolfsheimes stehen. An ihren Beinen lehnte Stolpert-über-seine-Pfoten und gähnte laut. „Du bleibst bei den Kindern, Schwester. Pass gut auf, bis wir zurück sind“, sagte Büffeltöter.
Wild-wie-der-Wind preschte vor und sprang ihrem Vater vor die Nase. „Ich komm` mit, Papa!“
Büffeltöter schob sie zur Seite. „Nein. Das wirst du nicht.“
„Ich will aber auch jagen!“
„Das ist keine Aufgabe für kleine Welpen. Geh zu deiner Tante!“, befahl der Leitwolf. Wild-wie-der-Wind tat so, als habe sie ihn nicht gehört. Mit hoch erhobenem Kopf stolzierte sie an ihm vorbei in Richtung des weiten Graslands, wo die Jagdgründe lagen. Bei dem Anblick musste Stopft-sich-voll lachen. “Schaut mal, der Winzling läuft schon wie eine echte Chefin!“
Büffeltöter fand den Ungehorsam seiner Tochter gar nicht lustig. Drohend stellte er sich der Kleinen in den Weg. „Ab nach Hause mit dir! Sofort!“
Wild-wie-der-Wind ging weiter. Falkenauge trat an Büffeltöters Seite. Sein Blick schien das Wolfsmädchen wie ein Pfeil zu durchbohren. „Hast du nicht gehört, was Vater gesagt hat? Jagen ist nichts für dumme Kinder!“
Das konnte Wild-wie-der-Wind nicht auf sich sitzen lassen. „Ich bin kein dummes Kind! Wetten, ich bin viel schneller und geschickter als du?!“ Sie machte sich bereit, um loszurennen. Da packte Büffeltöter zu. Seine Zähne griffen ein Stück ihres Fells, hinten im Nacken, wo es besonders dicht war und nicht so wehtat. Dann schleuderte er Wild-wie-der-Wind durch die Luft, so dass sie vor dem Eingang der Höhle landete.
„Wer nicht hören will, muss fühlen“, knurrte er.
Wild-wie-der-Wind rappelte sich auf. Eine Zornesfalte tauchte über ihren braunen Augen auf. „Ich wollte euch doch nur helfen! Du bist gemein!“
„Widersprich deinem Vater nicht dauernd“, mahnte Nachtschatten. „Er meint es gut mit dir. Die Jagd kann sehr gefährlich werden. Später, wenn du älter bist, darfst du uns begleiten.“
“Später, später, später“, maulte das Mädchen. „Dauernd heißt es: das darfst du erst später. Ich will aber jetzt jagen. Und das mach` ich auch. Allein! Euch brauch ich doch gar nicht!“
Bevor einer der anderen Wölfe reagieren konnte, war Wild-wie-der-Wind schon davon gerannt und im Kiefernwald verschwunden.
„Auf Nimmerwiedersehen“, rief Falkenauge fröhlich grinsend hinterher.
„Sollten wir ihr nicht nachlaufen und sicher gehen, dass ihr nichts passiert?“, fragte Nachtschatten.
„Dazu haben wir keine Zeit“, antwortete Büffeltöter. „Und Lust dazu habe ich auch nicht. Wenn sie glaubt, alles besser zu wissen und nicht auf mich hören zu müssen, soll sie sehen, wie sie ohne uns zurechtkommt. Sie wird feststellen, wie schwer es da draußen ist. Allein. Ohne die Familie. Dann kommt sie heulend zu uns zurück. Wart`s nur ab. Das wird ihr eine gute Lehre sein.“
„Aber was ist, wenn sie im Wald einem bösen Tier begegnet? Oder einem dieser … Indianer?“, fragte Stolpert-über-seine Pfoten. Er hatte große Angst um seine Schwester.
Nun kamen auch Brautschauer Zweifel. „Meinst du nicht, es ist besser, wenn ich sie hole, Vater? Ich beeile mich. So weit kann sie noch nicht sein. Es dauert nicht lange.“
Büffeltöters Antwort war unmissverständlich und bestand nur aus einem einzigen Wort: „Nein.“
Er gebot der Truppe, ihm zu folgen. Sonst wären die Wapiti-Hirsche weiter gezogen, ehe sie das Grasland erreichten.
„Ich fürchte mich, Tante. Kannst du sie nicht suchen gehen?“, fragte Stolpert-über-seine-Pfoten leise.
Heult-in-der-Nacht schaute ins Sonnenlicht. Sie war überhaupt nicht besorgt, wie der kleine Wolf bemerkte. Im Gegenteil. Sie wirkte sogar fröhlich. „Es ist gut, dass sie allein gegangen ist. Manitu wird sie führen. Auf ihrem Weg zu einem neuen Morgen“, sagte die Alte geheimnisvoll.