Читать книгу Der Wald, der die Seele nahm. - Marcel Kraeft - Страница 11

Helen

Оглавление

So viele Stunden, Tage und Monate waren vergangen. Nichts hat sich geändert. Alles war geblieben, dieselben Gefühle. Es fühlte sich an, als hätten sie sich erst gestern das letzte Mal gesehen. Unsichtbares Feuer ließ den Raum glühen, das Feuer der Sehnsucht. Unaufhaltbare Tränen liefen die Wangen herunter, Fluten, die einfach hinunterstürzten und auf dem Boden zerschellten. Vibrieren. Das Zittern der Körper, die so nahe beieinanderstanden. Beide starrten sich an. Stille. Keiner sagte etwas. Sehnsucht lag im Raum wie dichter Nebel, das Verlangen, sich in den Armen zu halten. Unüberwindbare Sprachlosigkeit. Das kahle Schlafzimmer, in dem irgendwann einmal Tapeten an den Wänden waren, verbreitete Kälte. Es spielte keine Rolle, alles war vergessen, alles, was geschehen war. Das Herz, die Haut, die Haare, der Körper ... alles fühlte sich warm an, aus tiefster Seele. Es musste nichts gesagt werden, sie brauchten keine Worte. Alles andere wäre überflüssig gewesen.

Vorsichtig, immer noch ein wenig erschöpft, richtete Steve sich auf. Seine Augen verließen Helen dabei keinen Augenblick. Im gleichen Moment ging Helen, auch vorsichtig, und doch ohne Zögern, mit kleinen Schritten auf Steve zu. Ganz benommen hob sie seine Decke an und legte sich zu ihm ins Bett. Stück für Stück rutschte er die Bettlehne wieder runter und nahm sie in den Arm. Langsam drehte sie sich zu ihm, legte ihr Bein über ihn und hielt ihn fest. Steve war sehr berührt, und ihm wurde plötzlich klar, was er in der Vergangenheit falsch gemacht hatte und warum es so weit zwischen ihnen gekommen war. Sie klammerten sich aneinander, als hätten sie nur noch wenige Stunden zu leben. Die Bettdecke war bald von ihren traurigen und fröhlichen Tränen durchtränkt. Sie hielten sich immer fester, weinten immer stärker, bevor sie vor Erschöpfung einschliefen.

Erschrocken wachte Steve in seinem Bett auf. Ein lautes Pfeifen gellte durch das ganze Haus. Träume ich wieder? Dann wusste er es. Das Pfeifen kam aus der Küche, jemand hatte einen Kessel mit Wasser aufgesetzt. Frische Wäsche war auf dem Wäscheständer, den er schon lange nicht mehr gesehen hatte, aufgehängt. Er hing seine Wäsche immer über Stühle oder an Haken und Nägel, die in der Wand eingeschlagen waren und einst Bilder trugen. Langsam stand er auf, zog sich ein Hemd über und ging verdutzt und voller Erwartung die Treppe hinunter. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Da stand sie in voller Pracht: Helen. Steve war sprachlos. Sie war so schön, wie sie da in der Küche stand, Teller und Tassen einräumte, die endlich vom verkrusteten Dreck erlöst worden waren. Sie bemerkte, dass Steve in der Tür stand, und drehte sich schüchtern zu ihm um. Beide starrten sich an, als würden sie sich das erste Mal sehen und trotzdem hatte die Situation etwas Vertrautes. Ein leises, zögerndes und verschüchtertes „Hallo“, formte sich auf ihren Lippen. Steve konnte nicht länger still stehen, ging mit schnellen Schritten auf sie zu und nahm sie in seine Arme. Ihre Beine sackten unter ihnen weg und sie fielen auf die Knie auf den alten Holzboden. So blieben sie bis Helen etwas verweint und mit verschnupfter Nase sagte: „Ich hab‘ Dir Frühstück gemacht ...“ Wieder hielt sie ihn sehr fest, und Steve erwiderte den Druck gleichermaßen. Erst nach einer Weile lösten sie sich aus ihrer Umklammerung. Steve nahm ihre Hand und zog sie in die Wohnstube, wo das Essen bereits wartete. Helen setzte sich an seine Seite. Noch immer brauchten sie keine Worte, um dem anderen zu verstehen zu geben, was sie sich bedeuteten. Gemeinsam aßen sie und hielten sich dabei mit einer Hand fest. Wenn sie sich anschauten, liefen die Tränen immer wieder über ihre Gesichter. Zufriedenheit und Glückseligkeit durchdrangen beide und der Raum schien freundlicher. Sie legte das Brötchen aus der Hand, setzte sich vor ihm auf dem Boden und schaute ihn ernst an. „Egal, was mit uns beiden war oder ist, egal wie du bist oder ich, ich will nicht noch einmal das Gleiche durchmachen müssen. Diese Zeit der Trennung tat so weh ... ich hab‘ dich so sehr vermisst, Steve!“ Steve wollte etwas sagen, aber ihre Hand schnellte nach oben und legte sich sofort über seinen Mund. „Bitte lass mich ausreden. Du sollst wissen, dass ich diejenige war, die dich nach Hause gebracht hat.“ Erstaunt schaute Steve sie an und wusste nicht, was er hätte sagen können. Zum einen wollte er eigentlich nichts anderes hören, als dass sie wieder eins waren. Die Einsamkeit, das Gefühl des Alleinseins, das er über die Monate hinweg verdrängt hatte, wollte er nicht mehr. Trotzdem, er konnte es nicht fassen, dass sie es gewesen war, die ihn nach Hause geschleppt hatte. Seine Lippen klebten ein wenig von den getrockneten Tränen und er musste zweimal ansetzten, bevor er etwas sagen konnte. Helen war schneller und erfasste seine Gedanken sofort. „Ich weiß, was du sagen willst.“ Für sie stand das fest. Sie wusste, dass er nichts anderes wollte, als sie wieder an seiner Seite haben. Helen kannte ihn sehr gut, er war ein offenes Buch für sie, musste nur zwischen den Zeilen lesen. Es sollte ihr großes Glück sein. Sie nahm ihn an der Hand, so, wie er sie zuvor, und zog ihn hinter sich her ins Badezimmer. Helen hatte bereits Wasser in die Badewanne eingelassen, sodass es jetzt eine angenehme Temperatur hatte. Steve konnte es nicht glauben. Zu lange war es her, dass sich jemand um ihn gekümmert hatte. Ihm fiel auf, wie die alten Fliesen, die die Wanne umrahmten, wieder glänzten. Auf dem Weg von der Wohnstube durch die Küche und den Flur war ihm schon aufgefallen, dass Helen begonnen hatte, das Haus zu putzen und aufzuräumen.

Helen half ihm aus den Kleidern und versuchte, sich ihren Schrecken nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Steve sah mitgenommen aus. Rippen zeichneten sich deutlich unter seiner Haut ab. Sie hatte schon geahnt, dass er kaum von den Lebensmitteln, die immer noch im Haus verteilt waren, gegessen hatte. Vieles davon war schon verdorben oder auf dem besten Weg dahin. Helen wusste, dass sie ihn wieder irgendwie zu Kräften bekommen musste. Was ist nur mit ihm passiert? Langsam stieg er in die Wanne und noch langsamer setzte er sich hin. Noch immer fehlten ihm die Worte, war noch immer gefangen in seinen Träumen, dass Helen wieder da war und sich um ihn sorgte. Zärtlich streichelte sie ihm über den Kopf und küsste ihn sachte auf die Stirn. Leise flüsterte sie in sein Ohr: „Ruh‘ Dich aus, wie reden später, okay?“ Steve nickte und ließ sich mit einem wohligen Seufzer in die Wanne sinken. Immer wieder kam Helen besorgt herein, schaute nach ihm, brachte Tee und eine Kleinigkeit zu essen. Dann stand sie an den Türrahmen gelehnt und beobachtete Steve in der Wanne.

Wieder starrten sie sich wortlos an. Er genoss es, sie anzuschauen. Sie war so wunderschön, wie sie in ihrem schwarzen Kleid dort stand. Darüber trug sie einen graubraunen Umhang, der mit einem breiten, braunen, geflochtenen Gürtel zusammengebunden war. Helen war nicht sehr groß. Wenn sie durch das Haus ging, wirkte sie etwas arrogant. Durch ihre schnellen Schritte und den hoch erhobenen Kopf flatterten ihre dunkelblonden Haare wie eine Flagge in einem Sturm hinter ihr her. Ihre Blicke änderten sich gleichzeitig und schlagartig. Beide spürten es sofort. Unwiderstehliche, unabänderliche, magische Anziehungskraft. Wie hypnotisiert ging sie auf Steve zu und legte sich samt Kleider und Schuhen zu ihm in die Badewanne. Sie legte sich in seine Arme und sie küssten sich leidenschaftlich. Langsam wurde das Wasser kalt, und Helens Kleider klamm. Sie gingen nach oben in sein dunkles Schlafzimmer und Helen schälte sich aus den nassen Kleidern. Sie legten sich nackt ins Bett und ließen sich in eine andere Welt treiben, in ihre Welt, voller Zärtlichkeit, Emotionen und Leidenschaft. Wieder loderte das unsichtbare Feuer im Raum und erfüllte ihn mit Liebe. Die Welt schien sich nur noch um sie beide zu drehen ... bis sie irgendwann voller Glück und Harmonie aneinander gekuschelt einschliefen. Sie schworen sich, dass eine Trennung nie wieder vorkommen würde.

Am nächsten Tag plagte Steve Unsicherheit und das schlechte Gewissen. Er wusste, dass er ihr alles erzählen musste. Traum? Realität? Auserwählter? Was ist wahr ... Helen ist wahr ... Ich werde bald abgeholt ... oder? Und dann war da noch die Frage, wie sie ihn eigentlich nach Hause gebracht hatte. Wann und wie? Nur einmal oder beide Male? Es knisterte. Die Flammen, die im Kamin ihren hitzigen Tanz vollführten, verbreiteten wohliges Licht in der ganzen Wohnstube. Es roch nach verbranntem Kiefernholz und die Luft war trocken und angenehm warm. Er saß in seinem Sessel und starrte in die Flammen hinein und grübelte, wie er am besten mit ihr darüber reden konnte. Wenn ich ihr von den Träumen - oder sind es Visionen? - erzähle, wird sie mich für verrückt halten. Würde sie mich dann wieder verlassen? Er hatte einfach Angst darüber zu reden, tief im Herzen wusste er, dass er bald abgeholt werden würde, auch wenn er es sich nicht immer eingestehen wollte. Gut gelaunt kam sie mit zwei Tassen Tee aus der Küche, setzte sich aufs lange Sofa, sodass sie einander ansehen konnten. „Es wird Zeit, dass wir reden.“ Ihre Worte wurden von Stirnrunzeln begleitet. Steve war für einen Moment erleichtert, dass sie das Gespräch begonnen hatte, seine Angst gewann aber schnell wieder die Oberhand. Verlegen lächelte er ihr zu und warf aus Nervosität ein Holzscheit auf die Glut, obwohl noch genug davon im Kamin war. „Steve, bitte, ich will dir helfen, ich will für dich da sein, hab‘ bitte Vertrauen!“ Steve lief nervös in der Wohnstube umher und kratzte sich immer wieder am Kopf. Unvermittelt stand Helen auf, warf ihre Arme hysterisch in die Luft und Tränen schossen in ihre Augen. „Steve, was ich im Wald gesehen habe, war nicht normal, so etwas habe ich noch nie erlebt!“ Sie zog ihr Kleid hoch, dass er ihren Oberschenkel sehen konnte. „Sieh dir das an!“ Ihr Schenkel war grün und blau, viele kleinere Blutergüsse formten einen sehr großen, der sich über ihren ganzen Oberschenkel erstreckte. Ihre Kleidung und die Bettdecke hatten verhindert, dass er die Blutergüsse früher gesehen hatte. „Das warst DU! Jetzt erzähl mir, BITTE, was mit dir los ist! Ich will doch nur helfen!“ Völlig erschrocken und voller Schmerz nahm er ihre Hand. „Das war doch nicht wirklich ich, oder .... So etwas mache ich doch nicht!“ Aber er wusste ja nicht einmal, wie er nach Hause gekommen war, wie Helen es geschafft hatte, ihn nach Hause zu bringen, oder was er getan hatte, während er geträumt hatte. Fassungslosigkeit, Verwirrung, Scham, Angst ... Steve Nerven lagen endgültig blank. Ich habe Helen geschlagen? Er konnte es nicht begreifen, geschweige denn verstehen. Und doch stand sie da, umarmte ihn, wollte ihm Vertrauen geben, sprach ihm gut zu. Er selbst fand keine Worte und hatte nun noch mehr Angst darüber zu reden. Der Gedanke, sie jetzt zu verlieren, lähmte ihn. Gewissheit machte sich breit, dass er es ihr um jeden Preis erzählen musste, er hatte keine Wahl, egal, wie es ausgehen würde. Beide starrten sich mit verweinten Augen an und Helen putzte sich ihre Nase. Sie wischte die Tränen weg, sofort liefen neue über die Wangen. „Okay ... vielleicht hilft es dir, darüber zu reden, wenn ich anfange zu erzählen.“ Sie atmete tief durch, schloss kurz die Augen. „Es war so FURCHTBAR......!“ Ein heftiger Weinkrampf unterbrach ihre Rede. „Ich kenne dich, ich wusste, dass bei dir etwas nicht in Ordnung ist. Steve, ich bin dir immer gefolgt, wenn du zum Steinbruch gegangen bist. Ich habe gesehen, wie du auf einmal zusammengebrochen bist ... Ich bin sofort zu dir gelaufen ... versuchte dich wach zu kriegen. Aber du hast einfach nur regungslos dagelegen! Ich hatte Angst um dich ... plötzlich hast du angefangen, wild zu zittern ... Ich habe versucht, dich nach Hause zu ziehen, aber du warst so schwer ... ich musste dich liegen lassen ... ich war völlig erschöpft. Niemand war da, als ich Hilfe holen wollte, niemand WOLLTE mir helfen ... weil es schon so dunkel war ... Ich bin mit einer Schubkarre zurückgekommen, aber du warst nicht mehr da. Weit weg hab‘ ich dich schreien gehört, so, als ob du furchtbare Schmerzen hättest ... so konnte ich dich finden. Irgendwie bist du wieder zum Steinbruch gekommen.“ Helen hörte kurz auf zu erzählen, legte ihre Hände übers Gesicht, rieb sich die Augen und dann das ganze Gesicht. Steve wollte sie in seine Arme schließen, aber sie stieß ihn weg. „Warte!“ Sie wischte sich eine verlorene Träne, die eine nasse Spur über die Wange zog, weg. „Steve, .... Du bist über dem Boden, über der Steinplatte GESCHWEBT! So wie du geschrien hast, musstest du die schlimmsten Schmerzen gehabt haben! Dein ganzer Körper verkrampfte sich so sehr ... ich hab‘ versucht, dich da irgendwie runter zu ziehen ... ich dachte, du würdest sterben ... Für einen Moment dachte ich mir, wie dumm wir doch waren, dass wir uns getrennt haben. Da wurde mir erst klar, wie sehr ich dich noch liebe. ... Als ich dich endlich packen konnte und versucht habe, dich aus der Luft herunter zu bekommen, hast du angefangen, wild um dich zu schlagen. Deine Faust, du hast sie wohl vor Schmerz zusammengeballt, hat mich mit voller Wucht am Bein getroffen. Ich hatte Panik ... war vor Angst um dich halb wahnsinnig. Ich hab‘ die Schmerzen deshalb erst gar nicht wahrgenommen. Nachdem ich dich endlich in die Schubkarre legen konnte, hab‘ ich versucht, dich nach Hause zu bekommen. Du hast von komischen Dingen gesprochen, ich hab‘ nichts davon verstanden. Dann bist du heiß geworden, hast geglüht, ich konnte dich nicht einmal richtig anfassen. Was ich mir noch immer nicht erklären kann ist, wieso du keine Verbrennungen davongetragen hast. Ich musste dich an die Schubkarre binden, zum Glück hatte ich ein Seil dabei. Du ... Du hast immer wieder angefangen zu ... schweben, fast so, als ob du versucht hättest zu fliegen. Kurz vor dem Dorf bist du langsam wieder normal geworden und einfach in dich zusammengesackt. Deine Temperatur war auch wieder normal. Bitte, Steve, ... sag‘ mir die Wahrheit. Was WAR dort oben? Ich kann es mir einfach nicht erklären!“ Steve war vollkommen erschüttert. Es hörte sich alles genauso unglaublich an, wie seine Geschichte. „Okay... !“ Er ging in die Mitte der Wohnstube, konnte weder still sitzen, noch ruhig stehen und lief auf und ab. Atmete kurz durch, kratzte sich wieder am Kopf und begann zu erzählen, alles, vom ersten Tag an. Während seiner Schilderung fiel Helen fassungslos in die Sofalehne zurück. Sie schüttelte leicht ihren Kopf und gab ihm zu verstehen, dass sie das alles nicht glauben konnte. Aber sie wusste, dass es nichts als die Wahrheit war, genauso, wie ihre Geschichte wahr war, genauso unglaubwürdig. Als er zum Ende der Erzählung kam, fiel er vor ihr auf die Knie. „Bitte, verlass mich nicht! Bitte ... bitte... “ Helen überlegte einen Moment, beugte sich dann über ihn und schlang ihre Arme um seinen Körper, leise ins Ohr flüsternd: „Ich verlasse dich nicht, wir kriegen das schon hin, gemeinsam. Ich bin für dich da.“

Beide verdrängten das Gespräch in den folgenden zwei Tagen. Sie kauften ein, gingen viel spazieren und genossen die gemeinsame Zeit. Steve wusste nicht, wann er abgeholt werden würde. Helen wohnte bei ihm und kümmerte sich um Steve. Sie war froh, dass sie wieder bei ihrem Steve sein konnte. Am nächsten Morgen stand Helen vergnügt, etwas früher als sonst, auf. Sie wollte Steve mit einem Frühstück im Bett überraschen. Leise setzte sie sich neben ihn auf die Bettkante, zündete eine Kerze an und hielt eine Tasse Kaffee in der Hand. Zart küsste sie ihm auf die Stirn, aber Steve wachte nicht auf.

Der Wald, der die Seele nahm.

Подняться наверх