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Der Steinbruch

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Der Wind rauschte und warf seine Klänge ab, wenn er um die Häuser und durch die Gassen, die vielleicht ihre eigenen Geschichten erzählen konnten, zog. Der Wind rauschte, wenn er über die Felder zog und die Getreidehalme dabei beinahe umknickte. Der Wind brachte die Blätter der Bäume in den Wäldern zum Flüstern.

Steve genoss den Wind, wenn er auf dem Weg zu seinem Steinbruch war. Er beobachtete alles ganz genau und freute sich, wenn er dabei zuschauen konnte, wie ein Blatt, durch den Wind aufgewirbelt, auf dem Weg um ihn herumtanzte. Solche Momente machten ihn glücklich. Es war das Einzige, was er noch hatte. Steve Readon war sehr einsam und gezeichnet von dem Leben, das hinter ihm lag. Er war groß und hatte zu seiner stattlichen Größe ein sehr markantes Gesicht, das schon ziemlich in Mitleidenschaft gezogen und über die Jahre hinweg gezeichnet war. Aus Bekleidung machte er sich auch nichts, seine kleine Garderobe genügte ihm. Die Sachen, die in seinem Schrank hingen, ähnelten denen eines Försters, nur die Flinte fehlte noch. Er war ein einfacher, jedoch schwieriger Mensch Anfang vierzig. Es störte ihn nicht, was Andere von ihm dachten. Dafür war er viel zu stolz und genoss die Ruhe, die er dadurch hatte. Das stellte er schon damals fest, bei seinen Bekanntschaften, die er hatte. Für die war er ein interessanter, geheimnisvoller Mensch. Manchmal nervten sie ihn nur, aber manchmal war er auch froh, dass er nicht alleine war. Nach einiger Zeit trennten sich die Damen immer von ihm. Sie hielten es nicht lange mit ihm aus, mit seiner kalten und mürrischen Art. Bis auf eine, die letzte Frau, Helen. Sie war anders und blieb am längsten an seiner Seite. Was die Leute aus dem Dorf hinter ihrem Rücken tuschelten, störte sie nicht. Die Dorfbewohner fragten sich immer, wie so eine Frau mit einem wie Steve zusammen sein konnte. Für Steve lag das Problem bei ihm selbst, er wusste, es lag an ihm, an seinem Verhalten. Er konnte und wollte sich nicht ändern, hing aber sehr an ihr. Umso trauriger war er, als sie ihn eines Tages doch verließ.

Für sein Problem gab es nur eine Lösung. Steve liebte es über alles, zu seinem Steinbruch zu wandern, und so ging er, wie jeden Tag, durch den Wald dorthin, um alles zu vergessen. Er packte sich immer vor der Arbeit seinen kleinen Rucksack. Er nahm ein paar Kekse oder Kuchen mit. In der Frühe des Morgens setze er sich einen Fencheltee auf, der im Laufe des Tages abkühlen konnte. Er mochte ihn nur kalt. Fröhlich und gut gelaunt stürmte er wie ein kleiner Junge durch sein bescheidenes, heruntergekommenes Haus, das eigentlich nur noch zum Abreißen einlud, schnappte sich seinen Rucksack und machte sich auf den Weg zum Steinbruch. Manchmal, wenn er dort oben auf seinem Stein saß und über seine Vergangenheit nachdachte, verspürte er das Gefühl, Anlauf zu nehmen und sich vom Steinbruch stürzen zu wollen. Komisch. Irgendwie hatte alles keinen Sinn mehr. Aber im nächsten Moment dachte er, wie schön es doch ist, hoch zum Steinbruch zu gehen. Der Steinbruch war riesig, atemberaubend, so gewaltig von der Natur erschaffen, dass man das Gefühl hatte, als könnte man fliegen. Denn das Letzte, das man sehen konnte, war, wie sich das Ende des Horizonts abzeichnete und mit der Kante des Steinbruchs verschmolz. Gemütlich stopfte er seine Pfeife und genoss den Rest des Tages. Wenn er wieder den Heimweg antrat, war er traurig, dass seine Zeit am Steinbruch schon vorbei war, die Zeit an seinem schönen Plätzchen. Wie immer, wenn er durch das Dorf ging, kam er an Helens Haus vorbei und tat so, als würde er es nicht bemerken. Ständig redete er sich ein, dass es mit ihr vorbei war. Sie soll doch an Land gewinnen, aber im tiefsten Innersten fehlte sie ihm. Was er aber nicht wusste, war, dass Helen sich jeden Tag hinter einer Gardine versteckt, um ihn beim Vorbeigehen zu beobachten. Manchmal überlegte Steve sich, ob er nicht einfach an ihre Tür klopfen und fragen sollte, wie es ihr in der letzten Zeit ergangen war. Doch das könnte er niemals tun. Sein Stolz ließ das nicht zu und in diesem Moment war es ihm auch egal, dass er Schuld am Ende ihrer Beziehung hatte, dass alles so verlaufen war, denn schließlich hatte sie sich von ihm getrennt. Oft tat er so, als ob er noch einen dringenden Termin hätte, und ging zügig an ihrem Haus vorbei. Es hätte ja sein können, dass Helen plötzlich aus dem Haus kam und er würde dann in eine unerwartete Situation geraten, in der er vor lauter Aufregung nicht wüsste, was er sagen sollte. Diese Blöße wollte er sich vor ihr nicht geben. So verging ein Tag nach dem anderen, ganze Monate, immer derselbe Ablauf. Bis zu jenem Tag.

Die ganze Nacht schon plagten ihn Alpträume, er konnte sie aber nirgends einordnen. Ein Gefühl von Vorwürfen ließ ihn nicht los. Er stand die ganze Zeit vor seinem Spiegel, schaute sich an und merkte, dass er gar nicht wusste, wer er war. So viele Jahre, was war nur geschehen? Später, auf der Arbeit, dachte er die ganze Zeit über sich nach, sodass er sich nicht einmal auf das Wesentliche konzentrieren konnte. Er beschloss, ein paar Tage Urlaub zu nehmen.

Steve hatte so viele Urlaubstage angesammelt, dass sein Chef sie eigentlich hätte auszahlen müssen. Als er um den Urlaub bat, schickte der Chef ihn gleich, wenn auch mit einem leicht vorwitzigen Lächeln, früher nach Hause. Selbst auf dem Heimweg dachte Steve ununterbrochen nach, es ging ihm schlechter, so sehr, dass sich schon Schweißperlen auf der Oberlippe bildeten. Wie immer gab es für ihn nur eine Lösung. Er musste zum Steinbruch, dann würde es ihm schon wieder besser gehen. Er war wie besessen vom Steinbruch. Diesmal ging er gar nicht erst nach Hause, sondern gleich weiter. Er vernahm eine unnatürliche Ruhe im Dorf. Niemand war zu sehen. Irgendwas stimmte nicht. Auch der sanfte Wind, der ihn sonst immer begleitete, war nicht da. Es war so ruhig und so still, als hätte jemand die Zeit angehalten. Aber er ließ sich nicht aufhalten und ging zielstrebig in den Wald. Als er auf der Hälfte des Weges angekommen war, bemerkte er, dass er schon ziemlich außer Atem war. Er musste kurz anhalten, um zu verschnaufen. Plötzlich vernahm er undefinierbare Stimmen, die aus dem Wald kamen. Erschrocken drehte Steve sich um. Ist da jemand? Niemand antwortete, die Stille war alles, was er vernehmen konnte. Er schüttelte den Kopf, dachte sich nichts mehr dabei und setzte seinen Weg fort. Plötzlich, ein Windstoß traf ihn mit der Wucht eines Schlages, sodass er im selben Moment seinen Atemrhythmus verlor und zu Boden fiel. Zugleich waren wieder diese Stimmen da, sie umkreisten ihn. Steve versuchte aufzustehen, aber beim ersten Versuch gelang es ihm nicht und er fiel abermals zu Boden. Er versuchte sich zum nächsten Baum zu schleppen, um sich daran abzustützen. Wieder kam ein Windstoß, ließ ihn zurückrollen, sodass er den Baum gar nicht erst erreichte. Was ist hier los? Er wurde, wie es seine Art war, wütend und bekam es gleichzeitig mit der Angst zu tun. Er schob dieses Gefühl weit von sich weg und versuchte wieder auf die Beine zu kommen – diesmal gelang es. Schaudernd und immer um sich blickend und angestrengt lauschend ging er weiter. Der Wind und die Stimmen waren so schnell verschwunden, wie sie gekommen waren. Als er, mit den Nerven am Ende und völlig erschöpft, am Steinbruch ankam, atmete er erstmal tief durch. Noch immer fragte er sich, was das wohl gewesen war und setzte sich auf seinen Stein, auf dem er immer saß. Fragen über Fragen überkamen ihn. Was ist los mit mir? Diese Alpträume, das Geschehen im Wald. Zum ersten Mal hatte er keine Lösung für ein Problem. Unvermittelt waren die Stimmen wieder da, sie peitschten direkt an ihm vorbei und verschwanden in der Weite des Steinbruchs. Er versuchte den Stimmen zu lauschen, konnte aber nichts heraushören. Langsam kroch die Angst wieder in ihm hoch. Ein Trampeln in der Ferne ließ seinen Atem stocken. Unmittelbar vor ihm schlug ein Blitz ein. Voller Angst sprang er rückwärts, hinter einen Felsen, an dem er sich eine Platzwunde am Hinterkopf zuzog und sich fast das Genick gebrochen hätte. Im selben Moment hörte er, wie das Trampeln immer lauter wurde. Es klang wie eine Pferdeherde. Er versuchte sich hinter diesem Felsen zu verstecken und schüttelte den Kopf. Was passiert denn hier? Der Boden fing an zu vibrieren, im selben Takt wie das Trampeln, das geradewegs auf ihn zukam. Steve versuchte sich zu beherrschen, aber sein Puls schlug so heftig und er wusste nicht, was er machen sollte. Er fror und zitterte am ganzen Körper, die Temperatur fiel und fiel, es wurde bitterkalt und es fing an zu schneien. Er versuchte sich zusammenzureißen und sich zu beherrschen, aber es ging nicht. Aus Angst liefen ihm Tränen über die Wangen, die er sich immer wieder mit den Armen wegwischte. Das ist alles ein Traum, alles ein Traum, nur ein Traum. Auf einmal wurde es ruhig, das Trampeln hörte auf, die Stimmen waren verschwunden.

Steve versuchte sich so klein wie möglich zu machen, als würde er versuchen, sich unter dem Stein zu verkriechen. Er wartete einen Moment. Plötzlich erreichte ihn ein grüner Nebel, der langsam über den Boden schlich und ihn verschlang. Es war immer noch still. So still, als hätte jemand die Welt angehalten und wartete nur darauf, dass wir alle herunterfallen. Vorsichtig versuchte Steve, über den Stein zu schauen. Er erschrak so heftig, dass er gleich wieder nach hinten fiel und sich an der Steinwand hinter ihm wieder den Kopf stieß. Was ist das? Das kann doch nicht echt sein! So etwas hatte er noch nie gesehen. Trotzdem, er war neugierig, lehnte sich abermals nach vorne und schaute vorsichtig über den Stein. Er schüttelte den Kopf, rieb sich die Augen und konnte es immer noch nicht glauben. Da stand eine riesige Kutsche, die Tür offen und hundert Pferde davor gespannt. Der Atem, der aus ihren Nüstern und Mäulern dampfte, glich dem grünen Nebel, der schon überall zu sein schien. In der Kutsche stand ein Mann, er war ziemlich groß, trug einen langen Mantel und einen langen Bart. Steve nahm seinen Mut zusammen, stand vorsichtig auf und versuchte sich mit kleinen Schritten zu nähern. Langsam durchbrach er den Nebel, der sich gleich hinter ihm wieder schloss. Mit ängstlicher Stimme rief Steve dem Mann zu: „Wer sind Sie?“ Er zeigte keine Regung, also versuchte Steve es erneut: „Wer sind Sie, wo kommen Sie her?“ Er wagte sich weiter heran, versuchte auf dem Weg dorthin mehr zu erkennen und sah, dass die Kutsche mit den vielen Pferden direkt vor der Steinbruchkante schwebte. Es war unglaublich. Dort, von wo man sonst bis zum Horizont schauen konnte, war ein Gebräu von braunen und schwarzen Wolken, durchzogen von Blitzen und grünen Nebel. Es entstand der Eindruck, als würde die Kutsche direkt aus der Hölle kommen. Steve war schon sehr nahe herangekommen, rief immer wieder zu dem Mann, erhielt aber nie Antwort. Als er an der Kante des Steinbruchs ankam, nur noch einen Schritt von der Kutsche entfernt war, drehte der Mann unvermittelt seinen Kopf herum, von einer Sekunde auf die andere. Steve zuckte zusammen, fiel erschrocken nach hinten auf sein Gesäß und hielt den Atem an. Der Mann öffnete seinen Mund und der grüne Nebel kroch heraus auf den Boden. Steve war so geschockt, dass er fast vergaß zu atmen. Im selben Moment sagte der Mann mit tiefer, vibrierender, rauer und lang gezogener Stimme: „Du hast uns gerufen, steig‘ ein.“

Voller Angst und Panik sprang Steve schreiend vom Boden auf und versuchte, so weit wie möglich wegzulaufen. Aus der Ferne hörte Steve den Mann etwas sagen, es klang wie ein an die Pferde gerichteter, lauter Zuruf und das Trampeln begann erneut. Steve drehte sich vor Angst um, stolperte dabei über eine Baumwurzel und fiel im selben Moment, als er sah, wie die vielen Pferde mitsamt Kutsche und dem Mann über ihn hinwegsetzten. Steve versuchte sein Gesicht mit den Armen zu schützen und wurde, von der Gewalt der Eindrücke übermannt, ohnmächtig.

Nach einiger Zeit kam er langsam wieder zu sich, hielt aber die Augen immer noch vor Angst geschlossen. Er atmete erst einmal tief ein und bemerkte, dass er auf etwas Weichem lag. Noch immer roch es nach Pferden und er vernahm ein Wiehern. Vor Angst zuckte er sofort zusammen. Er ist noch immer hier! Vorsichtig öffnete er die Augen und musste ungläubig schmunzeln. Er konnte es nicht fassen. Die Umgebung kam ihm bekannt und sehr vertraut vor. Dann wusste er es. Es war der Pferdestall seines Nachbarn. Er lag in einer Box, in der sich ein Pferd befand, das gerade äpfelte. Wie bin ich vom Steinbruch hierher in den Stall gekommen?

Der Wald, der die Seele nahm.

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