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KAPITEL 8 Freitag, 13. Dezember 1985

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Elf Uhr vormittags. Wie jeder im Umkreis hören konnte, ging es in die Pause. Deena wappnete sich für den Ansturm. Jeden Augenblick würden zehn verdreckte kleine Jungen in ihr Büro stürmen, die Englisch-Hausaufgaben in ihren schmutzigen kleinen Händen, und zehn Münder würden alle gleichzeitig losplappern. Manchmal schüttelte sie selbst den Kopf darüber, was man ihr als Koordinatorin hier an der Clayton-Schule abverlangte. Hausaufgaben überprüfen!

Da stürzten sie auch schon geräuschvoll herein! »Leise, Jungs!«, forderte sie mit kräftiger Stimme. »Wenn ihr hier alle herumspringt und mit euren Heften wedelt, kann ich mir gar nichts ansehen.«

Als sie bereits den siebten oder achten Aufsatz über »Huckleberry Finn« durchsah, entdeckte sie Stacey Baldwin, die auf dem Flur stand. Lächelnd lud sie sie ein hereinzukommen. Stacey hatte Probleme. Deena entließ die Jungen und wendete sich Stacey zu.

Stacey war klein, blond und sanft, sie lächelte schüchtern und legte ihre Hand in die von Deena. »Wir haben uns getroffen«, berichtete sie, »und wollen drei Dinge tun.«

»Drei?«, fragte Deena verwirrt. Als sie Staceys Fall mit Ron Herbert, dem Leiter der Mittelschule, besprochen hatte, waren sie sich einig, dass das Kind zwei Dinge brauchte: eine Sehschule für die Augen und eine psychotherapeutische Behandlung, um sie davon zu überzeugen, dass sie keineswegs dumm war.

»Ja, erstens geh ich zur Sehschule, zweitens wird jemand da sein, mit dem ich reden kann, und drittens hab ich mit Mama und Papa besprochen, dass sie öfter zu Hause sein sollen.«

Deena lächelte. Sie war zufrieden mit sich und verdammt zufrieden mit der kleinen Stacey. Wer hätte gedacht, dass dieses stille, kleine Kind den Mut haben würde, sich gegen seine mächtigen Eltern – beide Anwälte – durchzusetzen!

Als Bob Harter mit einem Plastikbehälter, in dem sich sein Mittagessen befand, hereinkam, verkündete sie ihm die Neuigkeit: »Stacey Baldwin hat ihren Eltern die Hölle heiß gemacht.« Bob hörte sich die Geschichte interessiert an und lächelte.

Während sie ihren lauwarmen Kaffee tranken, deutete Bob auf die Pinnwand: »Wird Zeit, das auszutauschen!«

»Was?« Dann sah Deena, was er meinte. Da hing noch der November-Spielplan vom Film-Forum. Und es war schon bald Januar! Sie wurde nervös. »Ach ja ... ich werde mich darum kümmern.«

Sie protestierte nicht, als Bob den Spielplan abnahm und in den Papierkorb warf.

Später, wenn er raus ist, hol ich ihn mir wieder, dachte sie. Dass der Spielplan hängen geblieben war, hatte natürlich einen Grund. Er erinnerte sie an den Abend, an dem sie und Luke zusammen in dem dunklen Kino gesessen hatten und an dem er sie hinterher geküsst hatte. Aber davon würde sie Bob natürlich nichts erzählen.

Alles, was an ihrer Pinnwand hing, war eine Erinnerung an Luke. Schon die Gedanken an Luke empfand sie in Gegenwart von Bob Harter – Sauls Geschichtslehrer, ein strammer Konservativer, einschlägig verheiratet, aktives Mitglied seiner Kirchengemeinde – als unverfroren.

Um ihre Verunsicherung zu überspielen, sagte sie: »Diese Pinnwand erinnert mich an die zu Hause in meinem Kinderzimmer. Damals hing immer ein Foto von Jacques d’Amboise dran.«

»Von dem Balletttänzer?«, fragte Bob Harter.

»Ja, ich habe ihn in einem Film gesehen, und es traf mich wie ein Schlag. Ich verliebte mich unsterblich in ihn und hatte unter dem Spott meiner Familie zu leiden. Zeitweise war mein ganzes Zimmer mit Bildern von ihm tapeziert. Bis mir klar wurde, dass es besser war, nicht die Fotos von fremden Tänzern, sondern die von wirklichen jungen Männern an die Wand zu hängen. Aber der Abschied von Jacques war herzzerreißend.« Deena lachte.

Die Post kam – ein großes Bündel fiel auf ihren Schreibtisch. Deena liebte Post, voller Erwartung entfernte sie das Gummiband.

Und da – mitten zwischen Werbepost, Hinweisen auf neue Lehrbücher und Bittbriefen um Spenden – fand sie ein Foto, ein glänzendes Schwarz-Weiß-Foto vom jungen Jacques d’Amboise! Die Postkarte enthielt eine Nachricht. Sie sah zunächst die Unterschrift – ein großes, kräftiges »L« –, dann war sie kaum noch in der Lage, die Nachricht zu entziffern. Es war nichts Persönliches, nur eine Notiz, dass er zufällig dieses Foto in einem Laden gesehen hatte und dachte, sie würde sich darüber freuen.

Sie musste die Augen schließen und sich zurücklehnen, um sich zu beruhigen. Eben hatte sie über den Tänzer geredet, und jetzt war ein Foto von ihm in der Post! Aber das hatte nichts mit Zauberei zu tun, gewiss nicht! Sie hatte vor einer Woche im Kursus eine Hausaufgabe vorgelesen mit dem Titel »Meine erste große Liebe war das Kino«. Natürlich ging es darin um Jacques d’Amboise. Luke hatte sich daran erinnert und mit der Karte auf seine ganz persönliche Weise darauf reagiert.

Deswegen dachte sie auch so oft an ihn: Weil er so anders war als andere Männer, die sie kannte. Aber sehr umfangreich waren ihre Erfahrungen mit Männern ja nicht: Papa, ein paar Onkel, drei Cousins – unter ihnen der dreckige Norman –, ein paar Fummel-Bekanntschaften in ihren frühen Teenager-Jahren, ihre Söhne und natürlich Michael. Darunter war nicht ein einziger einfühlsamer, harmonischer, liebevoller, intellektueller Gefährte.

Als sie Michael kennen gelernt hatte, hielt sie seine kühle Distanz für ein Zeichen von Reife und Überlegenheit. Aber in der Zeit ihres Zusammenlebens fand sie diese Haltung immer störender und zerstörerischer. Und seit sie angefangen hatte, Szenen zu schreiben, die mit ihren Kindheitserinnerungen zu tun hatten, war ihr klar geworden, wie sehr sie die Wärme und Sicherheit vermisste, die der Vater ihr als Kind gegeben hatte. Ja, sogar seine Lautstärke vermisste sie.

Seltsam. Es waren genau diese Wärme und Fürsorge, die anfangs bei Luke Moorehead ihr Misstrauen erregt hatten. War das alles nur Spiel? Warum sollte er sie mögen?

Andererseits hatte er natürlich für sie da zu sein. Seinen Schülern musste er Aufmerksamkeit schenken und sie ernst nehmen. Er behandelte alle gleich.

Aber schickte er auch allen Postkarten? Da hatte sie ihre Zweifel!

Doch was war, wenn Luke einfach nur ein Bruder Leichtfuß war, der seine Abendkurse als Fleischmarkt für seine Bedürfnisse betrachtete?

Aber er hatte sie geküsst – und dieser Kuss war ernst gemeint.

Außerdem war Luke Moorehead nach fünfundzwanzig Jahren der erste Mann, der ihr wirklich zugehört hatte, der auf sie als Mensch reagierte. Hier war sie nicht Tochter, Schwester, Ehefrau, Mutter – nichts von alledem. Hier ging es um sie, eine Frau namens Deena. Langsam bekam sie Vertrauen zu ihm und seiner Einstellung, ja mehr noch, sie sehnte sich danach.

»Mama!«

Sie sprang von ihrem Stuhl auf. »Hallo, Kleiner!« Sie hoffte, dass ihre Stimme nicht so schuldbewusst klang, wie sie sich fühlte.

»Willst du mich denn gar nicht fragen, in welchen Schwierigkeiten ich wieder stecke?«

»In welchen Schwierigkeiten steckst du jetzt wieder, Saul, mein Liebling?«

Er grinste, stolz darauf, wie schlau er gewesen war. »Finanzielle Schwierigkeiten. Das ist alles, wirklich, ich schwör es bei Gott. Nichts mit dem Dekan, nichts mit dem Schulleiter.«

Ausnahmsweise war er in guter Stimmung. Das tat gut. Sie sah ihren Jüngsten prüfend an, ihren »Kleinen«, der fast einsachtzig maß, und betrachtete seinen kaum vorhandenen Bart und den Pullover, der ihm mindestens zwei Nummern zu klein war. Sie könnte ihm auf Anhieb mindestens sieben Punkte nennen, die er ändern müsste. Aber das war bei einem Teenager keine so gute Idee. Das hatte sie in den ersten drei Runden mit den älteren Kindern gelernt.

»Deshalb kommst du also zu Señora Peso«, sagte sie und beugte sich nach unten, um ihre Handtasche aus dem Schreibtisch zu nehmen.

»Ich komme zu Madame Franc ... Lady Pound ... Signorina Lira ... Frau Deutsche Mark ... zu wem auch immer.«

Sie musste lachen. Das tat ihr gut. Warum musste auch alles zur selben Zeit schief gehen? Die Sache mit Papas Firma, ihr Problem mit Michael ... Und ausgerechnet diese Zeit musste sich Saul auch noch für seine jugendliche Rebellion aussuchen!

Sie sah ihm nach, als er das Büro verließ. Eigentlich kannte sie ihn gar nicht richtig. Zwar konnte sie seine Eigenschaften benennen, sein Aussehen beschreiben, sie konnte nach außen und innen so tun, als wüsste sie genau, wer er war – aber sie wusste es nicht. Wenn sie mit ihm redete, verwirrte er sie. Welchen Rat könnte sie ihm geben? Sie, die dafür Geld bekam, dass sie den Kindern anderer Leute Rat gab? Sie seufzte. Mutter zu sein war ein verdammt schwerer Beruf!

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