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KAPITEL 3 Samstag, 30. November 1985
ОглавлениеDrei Minuten nach neun am Morgen stand Deena im Supermarkt an der Kasse Schlange, ohne dass sie sich darüber aufregte. In Gedanken war sie im Filmforum in Soho, wo sie neben Luke Moorehead saß und seine großen warmen Hände die ihren festhielten. Genau das war am Abend zuvor passiert. Es war wundervoll!
Als sie gerade begonnen hatte, ihren Einkaufswagen auszuräumen, piepste eine Stimme in Höhe ihrer Taille: »Entschuldigen Sie, darf ich bitte vor Ihnen durch?«
Sie blickte auf einen mageren kleinen Jungen mit schwarzen Haaren und ernstem Gesichtsausdruck hinab. Unterm Arm trug er ein Skateboard, und mit der anderen Hand drückte er eine große Tüte mit Hundefutter an die Brust.
»Mein Hund ist nämlich krank und braucht dringend was zu fressen. Es ist ein Golden Retriever.«
»Das ist einer meiner Lieblingshunde«, sagte Deena und ließ ihn vor.
»Ach, kennen Sie Ranger?« Sein Gesicht strahlte.
»Müsste ich ihn kennen? Ist er berühmt hier in Brooklyn Heights?«
»Na ja«, antwortete der Junge, »er ist einssiebzig groß, wenn er auf den Hinterbeinen steht.«
»Auf meinen Hinterbeinen bin ich auch einssiebzig.«
Der Junge schaute nach oben, um sicher zu sein, dass es komisch gemeint war, dann lachte er, bezahlte sein Hundefutter und rollte auf seinem Skateboard durch die Automatiktür hinaus.
Sie bezahlte die Lebensmittel und fühlte sich immer besser. Die soeben erlebte Geschichte würde genau in die Szene passen, die sie für den Kursus schrieb. Selbst Michael würde seine Freude an Ranger haben, dem berühmten Hund aus Brooklyn Heights, der auf den Hinterbeinen stehend einssiebzig groß war.
Als sie nach Hause kam, wartete Michael bereits auf sie. Oh Wunder, er nahm ihr sogar die Lebensmittel ab und sagte: »Ich helfe dir beim Wegräumen. Dann kannst du mitkommen, eine neue Kaffeemaschine kaufen.«
»Aber Michael, unsere Kaffeemaschine ist doch völlig in Ordnung!«
»Ich meine eine Espresso-Maschine. Ich hab eine im Schaufenster gesehen.«
Sie ging nicht gern mit ihm einkaufen. Aber wenn sie nicht mitginge, wäre er enttäuscht. Er hasste es, allein einzukaufen. Vielleicht wollte er auch auf seine Weise für Versöhnung sorgen ... Es lag ihr fern, seine gute Laune zu stören – eine Seltenheit in diesen Tagen. Na ja, ein bisschen sah sie ihre Langeweile beim Einkaufen auch als angemessene Strafe für den kleinen Flirt mit ihrem Lehrer.
So gingen sie denn Arm in Arm los. Sie erzählte ihm vergnügt die kleine Geschichte von dem Hund Ranger, und Michael amüsierte sich darüber. Im Geschäft lief es dann wie üblich ab: Michael prüfte Dutzende von Espresso-Maschinen, während sie von einem Bein aufs andere trat. Ihre Meinung war nicht gefragt, und so konnte sie ihren Träumen nachhängen.
Die trugen sie wieder zurück zum vergangenen Abend und zu Luke Moorehead – groß und schlank und blond und bärtig. Und er war so jung: siebenundzwanzig Jahre alt. Und sie war dreiundvierzig. Am Abend zuvor waren diese beiden Zahlen ständig in ihrem Kopf gewesen. Als sie ihm angeboten hatte, ihn nach Hause zu fahren, war sie fest entschlossen: Sie würde sich nicht zur Närrin machen lassen durch diesen jungen Mann, der nur einfach nett und freundlich war und sich keineswegs in sie verliebt hatte.
Sie wollte ihn einfach nur absetzen, aber er wollte nicht einfach abgesetzt werden. Als sie in der West 14th Street vor seinem Haus anhielt, machte er keinerlei Anstalten, aus dem Auto auszusteigen, stattdessen begann er ein Gespräch. Er lobte das Auto. Es war das Auto des Jahres. Michael hatte es deswegen für sie gekauft.
»Ich wollte es eigentlich nicht«, erzählte sie Luke. »Ich mochte mein altes Auto. Es sah ein bisschen schäbig aus ... aber mir gefiel es. Es hatte sogar einen Namen. Doch für die Frau des noblen Herrn Michael Berman war es wohl nicht standesgemäß. Also ›überraschte‹ er mich zum Geburtstag.« Zu ihrer eignen Verblüffung stiegen ihr Tränen in die Augen. »Er hatte mein schönes altes Auto verkauft – ohne mich zu fragen! Und er erwartete auch noch, dass ich mich freute.«
»Ach, das ist schlimm«, sagte Luke und klopfte ihr sanft auf die Schulter. Deena bemühte sich, die Tränen zu unterdrücken. Sie wollte keine Szene und damit alles kaputtmachen. Sie genoss es so, dass ihr ein Mann mal wirklich zugehört hatte. Dabei hatte er sie die ganze Zeit angesehen und einen Arm wie zufällig auf die Lehne ihres Sitzes gelegt. Sie war sich dieses Arms bewusst, seiner Hand ... seiner ganzen Person. Das musste aufhören!
Luke fuhr fort: »Ich weiß, wie schmerzlich es ist, wenn einem jemand das schenkt, was er will, und nicht das, was man selbst gern haben möchte. Als ich elf war, hab ich mir zum Geburtstag verzweifelt einen jungen Hund gewünscht, und mein alter Herr war mehr oder weniger einverstanden damit. Ich hatte versprochen, dass ich ihn füttern und mich um ihn kümmern würde. Sogar einen Namen hatte ich schon für ihn. Was ich stattdessen am Morgen meines Geburtstags vorfand, war ein Fahrrad.« Er machte eine Pause. »Das hab ich meinem Vater nie verziehen!«
»Ach, Luke, wie traurig für Sie!«
Sie sahen sich in dem trüben Licht der Straßenlaterne an. »Sie sind eine wunderbare Frau, Deena«, sagte er leise, und sie verspürte einen Druck auf den Magen und wartete halb voller Furcht und halb mit Vorfreude ... ja, worauf? Sie wollte die Antwort gar nicht wissen.
Aber als er sagte: »Es ist spät, ich gehe lieber«, wusste sie, dass sie darauf nicht gewartet hatte.
Luke gähnte und streckte sich auf dem Sitz. Er wandte sich ihr zu und lächelte sie an. »Es war wunderbar, mit Ihnen zu reden. Ehrlich.« Er beugte sich vor und gab ihr einen leichten Kuss auf den Mund. Für sie war es wie ein elektrischer Schlag. Dann öffnete er die Autotür und war weg.
Sie fuhr schnell nach Hause und rief sich selbst in die Wirklichkeit zurück – Mutterschaft, Apfelkuchen und die Dummheit der Frauen im mittleren Alter, die in New York frei herumliefen, im Dunkeln, im Kino ...
»Deena, ich rede mit dir.« Sie erwachte abrupt aus ihrer Träumerei: »Entschuldige!«
»Also? Was meinst du?«, fragte Michael. Sie zögerte. Sie hatte keine Ahnung, wonach er fragte.
»Wir nehmen die aus rostfreiem Stahl«, sagte er, während sie nur nickte.
Er war glücklich mit seinem neuen Spielzeug. Als sie durch die Straßen gingen, legte er sogar den Arm um ihre Schultern und drückte sie kurz an sich. An der Ampelkreuzung Henry/Montague Street mussten sie warten, und die Frau neben ihnen sagte zu ihrem Hund: »Pfui, Ranger, lass das!«
Ohne nachzudenken, drehte Deena sich um und sagte: »Hallo, Ranger! Geht es dir besser?« Dann erzählte sie der erstaunten Frau die Geschichte von ihrem Zusammentreffen mit dem kleinen Jungen im Supermarkt.
Als Deena sich wieder Michael zuwenden wollte, war er nicht mehr neben ihr. Wohin konnte er gegangen sein? Sie blickte in alle Richtungen. Dann entdeckte sie ihn vor einem Buchladen.
Sie ging auf ihn zu, und als sie nahe genug war, um ihn zu verstehen, sagte er: »Was, zum Teufel, sollte das denn?«
Sie versuchte, unbefangen zu bleiben. »Erinnerst du dich nicht? Das ist doch die Geschichte, die ich dir erzählt habe, von dem kleinen Jungen und seinem berühmten Hund.« Sie lächelte ihn an, aber er reagierte nicht.
»Wieso wusstest du, dass das derselbe Hund war?« Er drehte sich um und ging weiter.
»Wie viele Golden Retriever mit dem Namen Ranger wird es wohl in der Montague Street geben?«
»Deena«, sagte er und blieb stehen, um sie anzusehen, »es ist nicht mehr niedlich, mit Fremden auf der Straße irgendwelche Späßchen zu machen. Dazu bist du inzwischen zu alt. Du machst dich lächerlich. Ich musste einfach weggehen.«
»Warum musstest du weggehen? Das will ich jetzt wirklich wissen.«
»Es war mir peinlich.«
»Mir nicht. Und der Mutter des Jungen auch nicht. Warum also war es dir peinlich?«
»Weil ... ach, es ist ja auch egal, Deena. Du sorgst einfach immer für Peinlichkeiten.«
»Ach, wirklich? Das gilt aber auch für dich. Du brauchst gar nicht so schockiert und überrascht zu gucken, Michael. Denk mal an den Abend, als ich meinen Kursus eingeladen hatte, um unseren Video-Recorder zu benutzen!«
»Was war da? Ich hab nichts gesagt oder getan, was dir peinlich sein musste.«
»Natürlich nicht! Du hast nur in der Tür gestanden wie ein griesgrämiger alter Mann und hast den ›Herrn im Haus‹ gegeben. Du hast ihnen sehr deutlich gezeigt, dass sie nicht willkommen waren. Plötzlich hörten alle auf zu lachen, und keiner wusste mehr, was er mit dem anderen reden sollte, und sie sind alle gegangen. Das war entsetzlich peinlich!«
»Man kann mich nicht für irgendwelche Unterstellungen verantwortlich machen, Deena. Ich weiß wenigstens, wann ich den Mund halten muss.«
Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. »Was willst du damit sagen?«
»Damit will ich sagen, dass du nie weißt, wann du aufhören musst.«
»Das ist unfair ... und überhaupt nicht wahr!«
»Du bist gar nicht so lustig, wie du glaubst.«
»Verdammt, Michael, du wusstest, wie ich bin, als du mich geheiratet hast.« Er gab ihr zu verstehen, dass sie die Stimme senken sollte. Aber warum sollte sie? Es sollte doch ruhig jeder, der vorbeikam, hören, was sie zu sagen hatte. »Du hast es gewusst. Ich erinnere mich noch gut daran, dass Papa zu dir sagte: ›Also, Michael, du bekommst meinen Clown. Für den Rest deines Lebens musst du ihr freie Bahn lassen.‹ Weißt du noch, was du geantwortet hast? Du hast gesagt: ›Ich hoffe, dass ich ihr alles geben kann, was sich ihr Herz wünscht.‹ Weißt du das nicht mehr?«
»Nein, das weiß ich nicht.«
»Aber gesagt hast du es. Und jetzt hör zu!« Mit jedem Wort wuchs ihr Ärger. Sie hatte das Gefühl, als müsste sie ersticken. »Ich sage dir, was mein Herz wünscht, Michael. Es wünscht sich, dass du mich verdammt noch mal in Ruhe lässt.«