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KAPITEL 4 Mittwoch, 11. Dezember 1985

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Als Deena um die Ecke 49th Street, Madison Avenue bog, den Kopf wegen des kalten Windes tief nach unten gesenkt, sah sie einen halben Häuserblock vor sich Noel und Zoe. Sie wollte die beiden rufen, aber bevor sie dazu kam, sprangen sie in ein Taxi und waren weg.

Deena fand es schön, dass Cousin und Cousine so gute Freunde waren. Die beiden waren sich immer besonders nahe gewesen, schon seit damals, als Noel mit zwei Jahren das Baby zum ersten Mal gesehen und verkündet hatte: »Das ist mein Baby!«

Zoe und Noel waren wie Geschwister. Noel war ein Einzelkind, und so hatte er sich Zoe als Ersatz für die fehlende Schwester ausgesucht. Elaine schien nicht zu merken, wie sehr er die Wärme und Sicherheit einer Familie brauchte. Knapp ein Jahr nach seiner Geburt war sie wieder arbeiten gegangen und hatte fast sofort mit dem Aufbau ihrer »Zarten Verführung«, Wäsche für jede Frau in jeder Größe, begonnen. Daher war Noel in den folgenden fünf Jahren an fünf Abenden in der Woche bei Deena und Michael zum Essen, als die beiden Schwestern noch im selben Haus an der West 49th Street wohnten, bevor Michael das Haus in Brooklyn Heights kaufte.

Endlich hatte sie das Rockefeller Café am Ende einer Reihe von vergoldeten Engeln mit vergoldeten Trompeten erreicht. Das Rockefeller Center war zur Weihnachtszeit hektisch, aber wundervoll. Elaine saß schon an einem der Tische am Fenster und wartete auf sie.

»Schrecklich, dieser ganze Mumpitz«, begrüßte sie Deena. »Wie geht es dir, wie läuft das Weihnachtsgeschäft mit deinen zarten Dingsdas?«

»Die Weihnachtssaison für meine zarten Dingsdas, meine liebe Deena, fand bereits im Juli statt. Im Moment verkaufen wir gerade Badesachen.« Elaine lachte und fügte hinzu: »Und rede du nur nicht von Mumpitz. Du bist doch immer auf Weihnachten hereingefallen.«

»Nein, das stimmt nicht. Erst nach meinem elften Geburtstag. Weißt du noch, wie ich in den Hungerstreik getreten bin, um Sylvia zu zwingen, uns einen Baum zu kaufen?«

Elaine lachte und schenkte ihrer Schwester ein Glas Wein ein. »Und wie ich das noch weiß! Sylvia erklärte, sie wolle dich sowieso auf Diät setzen. Dabei hättest du nie im Leben eine Diät gebraucht. Es war ihre Art zu sagen: Keine Chance, Kindchen ...«

»Ich möchte immer noch gern einen Baum haben.«

»Was Deena möchte, liefert Elaine. Sieh nach draußen!« Beide schauten aus dem Fenster, wo eine riesige Fichte, mit großen, bunten Kugeln und flackernden Lichtern geschmückt, das Rockefeller Center beherrschte.

»Ach, Elaine, du bist zu gut zu mir!« Sie hoben die Gläser, lächelten sich an und tranken. »Trotzdem nenne ich es immer noch Mumpitz. Überhaupt, ich bin Jüdin, was hab ich damit zu schaffen!«

»Red nicht schlecht von Weihnachten in Gegenwart einer Dame, die mit sexy Unterwäsche handelt.« Elaine sah Deena prüfend an. »Welches Modell hast du eigentlich heute an? Du siehst toll aus, weißt du das? Richtig sexy.«

Deena wurde ein bisschen rot. »Überrascht dich das?«

»Sexy war nie dein Stil. Ehrlich gesagt, in letzter Zeit hast du nicht besonders gut ausgesehen, ziemlich niedergeschlagen, ziemlich ... matt. Und plötzlich strahlst du! Wirklich, guck mich nicht so an!«

»Ach, ich fühl mich nicht anders als sonst, und ich seh bestimmt auch nicht anders aus. In meinem Leben hat sich nichts geändert«, log Deena.

»Ehrlich, Deena, sogar Sylvia hat bemerkt, dass du in den letzten beiden Monaten nicht gut drauf warst«, sagte Elaine. »Sie wollte, dass ich mit dir darüber rede. Sie fand, du seiest nicht mehr du selbst.«

Beide mussten so heftig lachen, dass sie weder trinken noch weiter sprechen konnten. Aber eigentlich war es gar nicht lustig, dachte Deena. Die Mutter griff immer zu diesem Schachzug, wenn eine ihrer Töchter ein Problem hatte, in das sie sich nicht selbst einmischen wollte.

Schließlich sagte Deena: »Du kannst Sylvia versichern, dass es mir gut geht.«

Elaine sah sie einen Augenblick prüfend an, dann platzte sie heraus: »Hat Michael ein Verhältnis?«

»Hat Howard eins?«

»Tut mir leid, das war nicht gut. Ich sehe nur so ein Glitzern bei dir, und da dachte ich, du bist nervös wegen Michael ...«

Deena kam der Gedanke, dass Elaine ihre Aufgabe vielleicht nicht leicht fiel. »Ach, Elaine, ich seh doch nur gut aus, weil ich mir ein neues Make-up gekauft habe. Mein Leben verläuft wie das aller anderen Leute ... mit Höhen und Tiefen. Und sicher wirst du Sylvia nicht sagen wollen, dass es Saul ist, um den ich mir Sorgen mache.« Sie knetete ihre Hände unter der Tischdecke, wo die Schwester es nicht sehen konnte.

»Was ist mit Saul?«

»Ach Gott, ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll!« Sie stellte sich ihren Jüngsten vor: siebzehnjährig, groß, schlaksig, dünn, gut aussehend, mit ausgeprägtem Sexualtrieb, klug, nervend, schwierig, anstrengend und obendrein noch ein Rotschopf. Sie seufzte. Eigentlich seufzte sie immer, wenn sie an Saul dachte. »Zu Hause vergräbt er sich vor dem Computer in seinem Zimmer und antwortet nicht, wenn ich mit ihm reden will. Und in der Schule führt er sich wie ein Wilder auf, kommt nicht regelmäßig zum Unterricht, hängt herum und ist das reinste Ärgernis. Du kennst ja Michael! Seine Art des Umgangs mit Saul besteht darin, dass er Forderungen stellt. Tu dies, tu jenes! Aber wenn’s drauf ankommt, ist er selbst nirgends aufzutreiben.«

»Das klingt nach typischem Teenager.«

»Aber Saul ist zusätzlich noch selbstzerstörerisch. Er war deshalb bei Dick Seltzer, einem Kinderpsychiater in der Nachbarschaft. Und jetzt will Dick mit Michael und mir reden. Aber Michael lehnt das ab.«

»Was heißt das?«

»Michael will nicht mitgehen. Auf keinen Fall. Er sagt, er redet mit keinem Psychiater. Ende.«

»Nicht einmal, wenn es um seinen Sohn geht?«

»Michael sieht es so, dass sein Sohn schlauer ist als der Schuldirektor. Er hält Saul für klüger, als es dem Jungen gut tut. Und ich, seine Mutter, solle aufhören – Zitat: in diesem albernen Abendkursus rumzumachen und mich mehr um ihn kümmern, dann würde er sich schon wieder fangen.«

»Vielleicht braucht er wirklich ein bisschen mehr Aufmerksamkeit, Deena.«

»Ich hoffe«, sagte Deena ganz sanft, »du willst mir damit nicht zu verstehen geben, dass ich eine lausige Mutter bin.«

»Unsinn, Deena, natürlich nicht! Ich habe nicht an dich gedacht. Ich meinte diesen selbstgerechten Mistkerl, seinen Vater.«

»Warte, Elaine, bevor du schlecht über Michael redest. So einfach ist das nicht. Menschen sind keine statistischen Zahlen, sie sind keine Romangestalten mit einschichtigen Motivationen.« Gute Frauen hassten ihre Männer nicht! Als sie ihn geheiratet hatte, wusste sie, dass Michael Komplexe hatte. Sie kannte die Geschichten aus seiner Kindheit, seine schwermütigen, traurigen Eltern, die ihre Leiden nie vergessen konnten. Und die ihn ihre Leiden nie vergessen lassen konnten. Sie wusste, dass es nicht leicht werden würde, mit ihm zu leben. Aber mit neunzehn Jahren weiß man nicht, was es bedeutet, dass es nicht leicht ist, mit jemandem zu leben.

Diskret tauchte der Kellner auf und fragte nach ihren Wünschen. »Wunderbar, ich sterbe vor Hunger!«, sagte Elaine. »Wie üblich.«

»Ich auch«, ergänzte Deena.

Elaine dachte, Deena würde wie immer das spezielle Diätgericht bestellen und ein bisschen darin herumpicken. Aber das würde ihr selbst kein schlechtes Gewissen machen, jetzt nicht mehr. Sie mochte ihren Körper – und Howard auch. Da konnte ihr die ganze magersüchtige Welt gestohlen bleiben!

Sie war immer ein kräftiges Mädchen gewesen, obwohl sie ständig irgendeine Diät machte. Speziell für ihren Hochzeitstag hatte Sylvia mit einem weltberühmten Diät-Arzt eine Behandlung abgesprochen. Sechs Monate lang fuhr sie zweimal in der Woche mit dem Bus quer durch die Stadt, um sich wiegen zu lassen und irgendeinen Zaubertrank verabreicht zu bekommen. Das Ziel war ein Hochzeitskleid in Größe 38. Es hatte funktioniert!

Natürlich waren alle Pfunde wiedergekommen, alle zwanzig Kilo! Innerhalb von sechs Monaten war sie wieder die alte Elaine ... Sie versteckte ihren Körper vor Howard, so gut es ging. Sie zog sich im Bad aus, lief in Nachthemden herum, schaltete das Licht aus, bevor sie sich liebten. Doch eines Abends, als sie vorbeigehen wollte, griff Howard nach ihr. Er saß nackt auf der Bettkante, und sie war eingehüllt in mehrere Meter himmelblaues Nylon mit einer Unmenge Rüschen und Spitzen. »Elaine, wir müssen miteinander reden.«

Sie lachte und fühlte sich ein bisschen unbehaglich. »Ja, Liebling, worüber?«

»Du versteckst dich vor mir. Ich muss wissen, warum. Hab ich was falsch gemacht? Was Falsches gesagt, dich verletzt? Sag mir, was los ist, sonst werd ich verrückt ...«

Als sie ihm gebeichtet hatte, dass sie befürchtete, ihr Körper könnte ihn abstoßen, weil sie all die Pfunde wieder zugenommen hatte, sah er sie verdutzt an. Er zog sie zu sich, hielt sie fest und sagte ihr immer wieder, wie sehr er sie liebte. Dann zog er sie ganz langsam aus, küsste jeden Körperteil, und dann liebten sie sich, ganz langsam. Was für ein Mann! Sie hatte sich wirklich den Richtigen ausgesucht.

Zum Teufel also mit der Diät! Wenn sie schon das Essen bezahlen musste – und das würde sie tun –, dann wollte sie es auch genießen.

Elaine beobachtete ihre Schwester über den Tisch hinweg. Manchmal war es nicht leicht zu erraten, was Deena dachte. Erst Klagen über Michael, und wenn man ihr zustimmte, machte sie einen Rückzieher und verteidigte ihn. Elaine wäre es lieber, wenn Deena sich entscheiden könnte.

Aber irgendwie schien die Schwester nicht zu wissen, was sie wollte. Ohnehin war auf dieser Welt keiner vollkommen! Selbst der perfekte Howard hatte seine Schwächen. Auch in ihrer Ehe war es nicht ohne Zusammenstöße abgegangen. Als Noel ein Jahr alt war und sie wieder arbeiten wollte, hätten sie sich fast getrennt. Howard wünschte, dass sie nur die Mutter spielte. Doch sie wollte etwas Interessanteres mit ihrem Leben anfangen, als zu Hause zu sitzen und das Kind auf den Spielplatz zu schleppen. Am Ende hatte sie sich durchgesetzt.

Ihre Methode bestand darin, nicht zu kapitulieren, wenn Probleme auftauchten. Die Voraussetzung war aber, dass man wusste, was man wollte. Deena hatte ihrer Ansicht nach immer ein bisschen zu schnell aufgegeben, war immer zu leicht umgeschwenkt. Wenn sie nur selbst wüsste, was sie eigentlich wollte, könnte sie es wahrscheinlich auch erreichen. Sie hatte viel Freizeit in ihrer Ehe. Michael war oft nicht da. Aber statt das auszunutzen, nörgelte sie.

Was Elaine betraf, so hatte sie ein Unternehmen zu führen. Und um drei war sie mit einem wichtigen Verkäufer verabredet. Wenn Sid Levine um drei sagte, dann meinte er das auch. Sie musste pünktlich sein. Den Handel schloss zwar immer Howard ab, doch Sid hatte es gern, wenn sie dabei war.

Zum Glück kam der Kellner gerade mit dem Wein. »Ich möchte mit dir trinken, Deena«, sie hob ihr Glas. »Dies ist ein Essen zur Feier des dreiundzwanzigsten Howard-Barranger-Jahrestages ...«

»Wirklich? Schon?« Beide strahlten. Es war in der Weihnachtszeit vor dreiundzwanzig Jahren gewesen, als Deena sich bei Papa eingesetzt hatte. Seine Haltung gegenüber Howard war unnachgiebig, er nannte ihn verächtlich »das schwachsinnige männliche Wesen« oder noch häufiger fejgeleh, Vögelchen.

»Hurra!«, sagte Deena. »Darauf trinke ich. Und auf Howard. Auf Howard und Elaine und weitere dreiundzwanzig Jahre.«

Sie tranken und lächelten einander zu. »Auf dich, Deena. Danke.« Elaine atmete tief durch. »Ich brauch dich noch mal.«

»Lass hören. Du weißt, dass ich dir helfe, wenn es in meiner Macht steht. Worum geht es?«

»Mir ist nicht wohl bei Papas plötzlicher Meinungsänderung. Das sieht ihm nicht ähnlich.«

»Aber du weißt doch, was passiert ist. Sylvia hat ihn dazu überredet, dir eine Chance zu geben.«

»Natürlich steckt Sylvia dahinter. Nein, es ist die Art, wie er das macht. Auf einmal ist er die Freundlichkeit in Person. Ich kann die Bücher einsehen. Linda hilft mir gern. Wenn ich etwas nicht verstehe, kann ich Lawrence fragen. Ich kann mir alles ansehen ...«

»Das klingt doch gut.«

»Versuch mir mal zuzuhören, ja? Er öffnet mir die Arme ein bisschen zu weit. Das ist nicht geschäftsmäßig, das ist ein Papa, der sein kleines Mädchen verwöhnt. Da stinkt mir die ganze Angelegenheit! Er lädt mich ein in einen ... ja, es wirkt wie ein leerer Raum, in den er mich einlädt.«

»Du beschuldigst Papa doch hoffentlich nicht, dass er dich anlügt?«

»Niemals würde ich deinen geliebten Papa der Lüge bezichtigen! Nennen wir es ... verschweigen, einverstanden? Mein Gefühl sagt mir, dass er es nicht wirklich ernst meint. Ich wäre nicht einmal überrascht, wenn man mir nicht die echten Bücher zur Einsicht gegeben hätte.«

»Elaine, jetzt behauptest du aber doch, dass er lügt!«

»Nein, es sind vielleicht Halbwahrheiten. Ich weiß nicht ... Ich beschuldige ihn nicht. Es ist nur ein Gefühl. Es ist mir sehr ernst, Deena. Die ›Zarte Verführung‹ läuft inzwischen allein. Deshalb suche ich nach einem weiteren Unternehmen. Ich brauche Vielfalt, sonst geh ich kaputt! Ich hätte doch nie gedacht, dass er die Strauss Baugesellschaft verkaufen würde ... Himmel, er hat mir doch eine Chance versprochen. Du weißt, dass ich mich immer für Gebäude interessiert habe, dass er mich oft mitgenommen und mich den Wert von Gebäuden schätzen lassen hat.«

»Und wenn ich mich recht erinnere, hast du meistens richtig gelegen.«

»Stimmt! Mit zwölfeinhalb konnte ich schon den Wert der Häuser in der Innenstadt richtig einschätzen. Deena, ich bin eine verdammt gute Geschäftsfrau! Du musst mitkommen.«

»Mitkommen? Wohin?«

»Ins Büro.«

»Du brauchst mich doch nicht, Elaine. Ich versteh nichts vom Geschäft, das weißt du.«

»Ich möchte, dass du dabei bist. Bitte. Dann ist er entspannter und vernünftiger. Wirklich. Und was mir noch wichtiger ist, ich verliere nicht die Beherrschung.«

»Ach, Elaine. Ob ich dabei bin oder nicht, das ist doch kein großer Unterschied! Du schmeichelst mir nur. Aber du brauchst mich nicht. Er weiß verdammt gut, wie schlau du bist.«

»Ach, meinst du? Ich habe doch nie genug geleistet, um ihn zufrieden zu stellen! Erinnerst du dich, dass ich ihn gebeten hatte, mich in die Firma zu nehmen, als ich noch studierte? Damals sagte er, wenn es mir wirklich ernst wäre, sollte ich meinen Wirtschaftsprüfer machen. Das hab ich getan! Und trotzdem war ich immer noch nicht gut genug. Das ist was für Männer, nicht für Frauen, war seine Überzeugung. Was hätte ich denn noch machen sollen? Mich einer Geschlechtsumwandlung unterziehen?«

»Elaine! Alle starren uns an.« Deena war ein wenig traurig, aber auch amüsiert.

»Lass sie doch! Also? Kommst du mit?«

»Na klar. Wie könnte ich nach diesem dramatischen Appell Nein sagen? Wann?«

»Morgen um vier?«, schlug Elaine vor.

»Prima! Aber du irrst dich, was Papa betrifft. Du wirst es sehen.«

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