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April 1882

Der Taxifahrer half Brigit beim Aussteigen. Sehr galant, dachte sie, obwohl sein Blick unablässig zu ihren Fußgelenken schweifte. Die neuen Röcke waren so schmal geschnitten und lagen so eng an den Beinen an, dass man eine Kutsche nicht besteigen oder verlassen konnte, ohne den Stoff ein wenig anzuheben. Und wenn dies der Welt einen kurzen Blick auf ihre Fesseln gestattete, nun, dann sollten die Leute eben hinsehen. Sie lächelte insgeheim und drehte den Fuß ein wenig, um den Schwung ihres Beins zu zeigen. Warum dem Kerl nicht etwas zu sehen geben? In Cincinnati war sie berühmt für ihre Fesseln, und nach all den Jahren, die sie spärlich bekleidet auf der Bühne zugebracht hatte, wäre es doch geradezu lächerlich, großen Wirbel um Fesseln und Schultern und derartige Körperteile zu machen.

Und wo sie schon dabei war, würde sie ihm auch einen ihrer berühmten Blicke aus ihren großen Augen schenken. »Die ungezogene Mrs. O’Neal mit den hypnotischen Augen« – so wurde sie damals genannt worden, als sie noch die Assistentin von Leander, dem Modernen Merlin, war. Sie mochte zwar inzwischen über vierzig sein (obwohl dies nur sehr wenige wussten), aber dennoch waren ihre Augen noch immer so hinreißend wie damals am ersten Abend, als sie die Bühne des Garrick Theater in der New Yorker South Street als Leanders Assistentin betreten hatte. Lee, ein Magier, der es nie zu etwas bringen würde, aber dennoch ein guter Freund.

Lee war es, der ihr als Erster gesagt hat, sie sei schön – »Mehr noch als das, Bridgie, du hast das Auftreten einer Lady und die Augen von Salome – vielleicht sollten wir dich Moderne Salome nennen.« Doch das gefiel ihr nicht. »War das nicht dieses boshafte Luder, das den Kopf von Johannes dem Täufer gefordert hat? Nein, danke!« antwortete sie.

Sie einigten sich darauf, dass sie ein Kleid mit einem verführerisch tiefen Ausschnitt und einem Schlitz trug, so dass sie mit einer entsprechenden Bewegung ihren Oberschenkel entblößen konnte. Auf den ersten Blick sah es aber eher zurückhaltend aus. Brigit betrat die Bühne – die Wirbelsäule durchgedrückt, den Kopf hoch erhoben, mit einem hübschen, kleinen Spitzenschirm in den in Spitzenhandschuhen steckenden Händen – und sorgte mit einer scheinbar zufälligen Bewegung dafür, dass die Zuschauer ihr Bein in den schwarzen Spitzenstrümpfen und den roten Satinschuhen zu sehen bekamen. Wann immer sie das Bein zwischen den Falten des Stoffes hervorblitzen ließ, sprangen die Männer von ihren Stühlen auf, pfiffen und johlten.

Und kurz vor dem Trick mit dem verschwindenden Seil ließ sie einen großen Fächer aufspringen, flirtete mit ihren großen runden Augen über dessen Rand hinweg und beugte sich nach vorn, um einen kleinen Einblick auf ihre Brüste zu gewähren – was die Männer endgültig dazu brachte, auf die Stühle zu steigen und in wildes Geheul auszubrechen.

Lee war begeistert. »Du bringst sie um den Verstand, Bridgie«, sagte er. »Um so besser für meinen Auftritt. Sie schauen kein einziges Mal zu mir!« Er lachte. »Keiner wird etwas merken, wenn ich Fehler mache.«

Was für Zeiten! Wie viel Spaß hatten sie zusammen – und was für ein großartiger Liebhaber war er. Er brachte ihr bei, dass Liebe durchaus Spaß machen konnte. Sie war in dem Glauben groß geworden, dass nur der Mann sein Vergnügen hatte und die Frau diejenige war, die Nein sagen musste. Lee benutzte Pariser – etwas, wovon sie zuvor noch nie gehört hatte, was jedoch der Frau erlaubte, die körperliche Liebe ebenso zu genießen wie der Mann.

»Keine weiteren ungewollten Kinder, meine Süße«, sagte er, wofür sie ihm dankbar war. Er war der einzige Mann, dem sie je von ihrem kleinen Liam erzählte. In den drei Jahren ihres Zusammenseins lernte sie eine Menge von Leander, dem Modernen Merlin.

Selbst jetzt, so viele Jahre später, ließ einer ihrer berühmten Blicke den jungen Taxifahrer rot werden. Er wandte sich ab und vergaß prompt, das Fahrgeld an sich zu nehmen, so dass sie ihn zurückrufen musste, um ihm ein viel zu großzügiges Trinkgeld zu geben. »Bridgie, Bridgie, alles was notwendig ist, um dir den Kopf zu verdrehen, ist ein Mann, der dir zeigt, dass du das gewisse Etwas hast.« Hatte ihr geliebter Charlie das nicht immer gesagt?

Der gute alte Charlie Gold, sie vermisste ihn so schmerzlich. Er war ein imposanter Mann, ein alter Mann von Anfang sechzig, als er das erste Mal in ihr Haus kam. Ihr Haus war in ganz Cincinnati als erstklassiges Etablissement bekannt, denn sie gewährte nur Gentlemen Einlass. Und Charlie war ein gut aussehender Mann – groß und noch immer schlank, mit vollem schlohweißem Haar. Sie mochte ihn vom ersten Augenblick an, als er ihren Salon betrat, wo sie wie eine Königin in ihrem Lieblingssessel mit den Samtpolstern thronte und jeden einzelnen Gast taxierte, ehe sie ihn zu ihren Mädchen ließ.

Auch alle ihre Mädchen waren erstklassig. Sie waren blitzsauber und wurden regelmäßig von einem Arzt untersucht. Außerdem achtete Brigit darauf, dass sie stets wie Damen gekleidet waren und nicht wie Huren. Und sie sorgte dafür, dass sie damenhafte Manieren an den Tag legten. Dolores und Enid spielten Klavier, und jede war geschickt im Sticken. Darüber hinaus konnten alle lesen. Bei Gott, das war etwas, worauf sie bestand. Gesund, jung, hübsch und klug – so waren Mrs. O’Neals Anforderungen, und die ihnen nicht genügten, fanden sich innerhalb kürzester Zeit auf der Straße wieder.

Charlie Gold sah sich alle Mädchen genau an, ehe er sich ihr zuwandte: »Es gibt nur eine Lady, die ich begehre, und das sind Sie, Mrs. O’Neal.« Eine Frau in den Dreißigern! Er wollte keine andere. Sie lachte. »Ich arbeite nicht, es sei denn, ich finde Gefallen daran«, erwiderte sie. »Nun, dann komme ich so lange wieder und sorge dafür, dass Sie Gefallen an mir finden.« Er vermochte es wirklich, mit Worten umzugehen, obwohl er behauptete, »ein langweiliger, einfacher, hart arbeitender Geschäftsmann« zu sein.

Und er kam wieder, jeden Abend, eine ganze Woche lang, und machte ihr den Hof. Er brachte ihr Blumen, Süßigkeiten und Parfum und sogar eine Nymphenfigur aus französischem Porzellan mit, die, ihre Scham anmutig mit beiden Händen bedeckend, bescheiden und damenhaft mit gesenkten Augen dasaß. »Sie erinnert mich an Sie, mein Herz«, sagte Charlie Gold, worauf Brigit den Kopf in den Nacken warf und konterte: »Ah, also sind wir inzwischen bei mein Herz angelangt, ja? Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen erlaubt zu haben, mich anders als Mrs. O’Neal zu nennen.«

»Meine geliebte Mrs. O’Neal«, sagte er und legte die Arme um sie, »darf ich Sie vielleicht Brigit nennen?«

Nun, wie sollte eine Frau diesem Charme widerstehen? Sie gab ihm nach, und schließlich bat er sie, ihr Leben aufzugeben und zu ihm zu ziehen. Anfangs lehnte sie seinen Vorschlag ab. Durch ihre Arbeit bei Mrs. Tallant hatte sie eine Menge gelernt – vor allem, wie wichtig es für eine Frau war, eigenes Vermögen zu besitzen, das sie unabhängig machte.

Und war Mrs. Tallant nicht stolz darauf gewesen, ihr eigenes Haus zu besitzen, ein Haus, das auf ihren Namen registriert war? Das hatte damals großen Eindruck auf die junge Brigit gemacht, und sie hatte es nie vergessen. Und nun besaß sie selbst ein Haus – und noch dazu eines, das sie mit ihrem eigenen, schwer verdienten Geld bezahlt hatte. Das würde sie nicht so ohne Weiteres aufgeben.

»Nein, nein, mein geliebter Charlie«, neckte sie ihn, »das ist mein Haus, und genau hier bleibe ich.«

Diese Antwort wollte er nicht akzeptieren. Er sagte, er wolle ein neues Haus bauen, eines, das viel größer und imposanter als ihres werden sollte, und dass sie es für sich haben könnte. »Mit Ausblick auf den Fluss?«, fragte sie. Er stimmte zu. Und so hatte sie ihr eigenes Haus im gotischen Stil mit einer herrlichen Aussicht auf die Schiffe, einem Teesalon, einem hübschen Garten und sogar einem Glyzinienstrauch neben der doppelflügeligen Eingangstür.

Und nun, nach all diesen Jahren, stand wieder sie vor dem Original – in der Pomegranate Street Nummer 7. Sie wartete, bis das Taxi um die nächste Ecke auf die Columbia Street eingebogen war, ehe sie auf die gegenüberliegende Straßenseite ging, um sich das Haus besser ansehen zu können. Es kostete sie einige Mühe, den durchdringenden Gestank nach Abwasser, Müll und Pferdedung zu ignorieren, der sogar noch schlimmer war als in Cincinnati. Schweinestadt, so nannten die Leute scherzhaft die Stadt, in der sie lebte. Aber das hier? Das war wirklich so schauderhaft, dass sie in ihrer Handtasche nach einem parfümierten Taschentuch suchen musste, um es sich vor die Nase zu halten.

Ihr Herz raste vor Aufregung. Siebenundzwanzig Jahre war es her, seit sie davongelaufen war und ihren kleinen Sohn Mrs. Tallants Obhut überlassen hatte. Siebenundzwanzig lange Jahre. Alles könnte inzwischen aus ihm geworden sein. Er war ein erwachsener Mann. Meine Güte! Sie hatte sich ihren Besuch hier nicht in sämtlichen Details ausgemalt, und wenn sie sich nun vorstellte, schon bald vor ihrem eigenen Kind zu stehen, einem Fremden, einem fremden Mann … Was sollte sie zu ihm sagen? »Guten Tag, wie geht es Ihnen, Sir. Ihre Mutter ist gekommen, um Sie zu besuchen?« Sollte sie seine Hand schütteln oder ihn in die Arme nehmen?

Liam. Ganz bestimmt hatte Mrs. Tallant ihm einen anderen Namen gegeben. Kein Mitglied der Gesellschaft von Brooklyn Heights würde ein Kind mit einem so typisch irischen Namen in seinem Haus haben wollen. Wahrscheinlich war er inzwischen bereits verheiratet, wenn er lange genug gelebt hatte, um das Erwachsenenalter zu erreichen, was ja bei vielen Kindern nicht der Fall war. Bei diesem Gedanken bekreuzigte sich Brigit. Was, wenn er krank geworden war? Was, wenn …? Aber Mrs. Tallant hatte gewiss gut auf ihn Acht gegeben, daran hatte sie nicht den geringsten Zweifel.

Trotz der milden Frühlingsbrise fröstelte Brigit plötzlich. All die Jahre hatte sie sich Liam bei Mrs. Tallant vorgestellt, wenn sie an ihn gedacht hatte. Aber was war mit Mr. Tallant? Was, wenn er nun sein uneheliches Kind in ein Waisenhaus geschickt hatte? Dazu wäre er in der Lage gewesen! Er war ein so selbstsüchtiger Mensch, der sich keinen Pfifferling um andere scherte. Warum hatte sie nie ernsthaft darüber nachgedacht, was er mit dem Baby anstellen könnte?

Diese ganze Reise war dumm. Dumm und sentimental, wie ihr inzwischen klar wurde. Hier stand sie also, nach der neuesten Mode gekleidet, in ihrem Schotten-Kostüm mit dem schmalen schwarzen Jäckchen, das ihre Taille betonte – ihre Taille, die trotz ihres Alters noch immer schlank war –, dem schwarzroten Schottenrock, dem kleinen roten Hut mit den langen Bändern und ihren Lederstiefeln aus feinem schwarzem Leder.

Sie hatte sich für dieses Kleid entschieden, um Mrs. Tallant mit ihrer Eleganz und ihrem guten Geschmack zu beeindrucken, wenn sie in diesem Haus endlich als Ebenbürtige empfangen werden würde. Als Ebenbürtige, das war es, worum es ging. Wie idiotisch von ihr, sich dessen so sicher zu sein! Siebenundzwanzig Jahre waren vergangen, und sie hatte Mrs. Tallant nicht einmal einen Brief geschrieben, um sie wissen zu lassen, dass sie noch am Leben war. Sie überlegte, ob sie sich umdrehen und gehen sollte, doch als sie es gerade tun wollte, wurde ihr bewusst, dass sie es nicht konnte. Sie war nicht den ganzen Weg hierher gekommen, um dann einfach wieder zu verschwinden, ohne diese Stufen hinaufgegangen zu sein und mit dem Messingklopfer, den sie schon so häufig poliert hatte, an die Tür gepocht zu haben. Sie konnte sich noch so genau an seine Form eines Granatapfels erinnern. Sie hatte dieses Haus als Dienstbotin durch die Hintertür verlassen und sich geschworen, es als Lady durch die Eingangstür wieder zu betreten. Hier war sie nun, und sie würde so lange bleiben, bis sie ihren Vorsatz in die Tat umgesetzt hatte.

Brigit sah sich das Haus eingehender an. Es hatte sich kaum verändert. Die angrenzenden Grundstücke, die früher leer gestanden hatten, waren inzwischen bebaut. Elegante Häuser standen dort, die jedoch nicht mit der Nummer 7 zu vergleichen waren, auch wenn die Treppe wieder einmal gefegt werden sollte und selbst aus dieser Entfernung zu sehen war, dass die Messingbeschläge angelaufen waren. Heutzutage bekam man einfach kein Personal mehr, das so schuftete, wie die irischen Mädchen es früher getan hatten.

Aber die Glyzinie! Der Strauch war mittlerweile zu einer Rebe vom Umfang eines Baumstamms angewachsen, die sich bis zum Dach hinaufzog, während sich daneben ein englischer Efeu um das schwarze Eisengeländer wand, das dringend einen neuen Anstrich benötigte. Meine Güte, was für eine Schande! Machte Mrs. Tallant etwa schwere Zeiten durch?

Leise schnalzte sie mit der Zunge, schüttelte den Kopf und dachte an ihr eigenes tadelloses Haus in Cincinnati. Ihr Charlie hatte es für sie gebaut, und zwar genau nach ihren Vorstellungen. »Was immer du willst, Liebling, bekommst du«, hatte er zu ihr gesagt. »Sieh dir einfach den Katalog von Sears an, und such dir das aus, was du haben möchtest. Kosten spielen keine Rolle.«

Nun, sie wollte kein Haus von Sears, so hübsch die Bilder auch sein mochten. Sie hatte bereits ein Bild von dem Haus, das sie wollte, vor ihrem geistigen Auge, und es war genau dieses hier. Sie achtete darauf, dass es ebenfalls eine dieser hohen doppelflügligen Eingangstüren bekam, die sie sehr liebte, weil sie so imposant aussahen. Doch ihr eigener Messingtürklopfer hatte die Form eines Löwenkopfes, weil ihr Charlie sie mit seinem dichten Haar, seinen eigentümlichen, goldenen Augen und seiner tiefen, vollen Stimme so sehr an einen Löwen erinnerte. Und der Klopfer wurde jeden Tag poliert, damit er wie Gold glänzte.

Brigit lächelte in sich hinein. Sie und Charlie Gold hatten wirklich ein schönes Leben gehabt. Für ihn war sie die schönste, intelligenteste und entzückendste Frau gewesen, die je erschaffen worden war. Und wer sollte einem so charmanten Mann je widersprechen. Aber nun war er fort, bei seinem seltsamen jüdischen Gott, dessen Namen man nicht laut aussprechen durfte. Ein Gott mit einem geheimen Namen, das musste man sich einmal vorstellen! Wie sollte man da zu ihm beten? Deshalb betete sie zur Jungfrau Maria um seine Seele und hoffte, ihn damit nicht zu beleidigen.

Mit einem Juden zusammen zu sein war bei weitem nicht so anders, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie sind genauso wie Christen, nur dass sie nicht versuchen, andere Leute ständig von ihrem Glauben zu überzeugen. Sie besitzen keine riesigen Geschlechtsteile, wie viele Leute glaubten, und obwohl er, wie sie es nennen, beschnitten war, war er ein verdammt guter Liebhaber.

»Sie haben doch nur ein kleines Stück Haut abgeschnitten, Bridgie«, sagte er lachend zu ihr, als sie seinen Penis das erste Mal betrachtete. »Nicht den Teil, der die Arbeit erledigt.« Bei dieser Erinnerung musste sie eine Träne unterdrücken. Sie hatten immer so viel Spaß zusammen gehabt, sie und Charlie Gold.

Auch nach sechs Monaten vermisste sie ihn noch immer schmerzlich. Als sie zu ihm zog, wusste sie, dass sie ihn nicht liebte, und das sagte sie ihm auch. »Diese Art von Liebe habe ich hinter mir, Charlie, aber du wirst deinen Handel nicht bereuen, das verspreche ich dir.« Doch er lächelte nur, streichelte ihre Hand und sagte zu ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, sie würden es schon schaffen. Und er behielt Recht. Sie hatten niemals Streit miteinander.

Dann, letztes Jahr im November, brach eine Grippe-Epidemie in Cincinnati aus, die vor kaum jemandem Halt machte. Der arme Charlie, er war so krank, dass er kaum den Kopf vom Kissen heben konnte. Manchmal erkannte er sie nicht einmal mehr, aber trotzdem wich sie nicht von seinem Bett, trocknete ihm den Schweiß vom Gesicht und versuchte, ihm mit dem Löffel Suppe einzuflößen, damit er sich ein wenig besser fühlte. Und dann bekam sie ebenfalls die Grippe und wusste eine Woche lang kaum, wo sie war.

Sobald ihr Fieber gesunken und sie wieder bei Sinnen war, fragte sie nach ihm. Sie schrie auf, als sie den Gesichtsausdruck des Arztes sah, doch ihr Weinen und Jammern nutzten nichts. Ihr armer, lieber Charlie, er war nicht stark oder nicht mehr jung genug gewesen, um gegen das Fieber anzukämpfen.

Zu diesem Zeitpunkt entschloss sie sich, im darauf folgenden Frühling nach Brooklyn Heights in die Pomegranate Street Nummer 7 zu reisen und ihrer Vergangenheit ins Auge zu blicken. Seit so vielen Jahren hatte sie sie in den hintersten Winkel ihres Gedächtnisses verdrängt und so getan, als wäre nie etwas geschehen. Sie hoffte, dass Amy Tallant ihr Baby ganz bestimmt behalten, es von Herzen geliebt und in Wohlstand großgezogen hatte.

Sie hatte gesündigt und es dann noch schlimmer gemacht, indem sie davongelaufen war und ihr Baby, ihr eigen Fleisch und Blut, zurückgelassen hatte. Nun hatte sie niemanden mehr auf der Welt und fühlte sich allein und verängstigt. Wenn ihr Sohn noch am Leben war, dann musste sie ihn finden und ihren Frieden mit ihm schließen.

Brigit stand da und betrachtete das Haus, an das sie so oft gedacht hatte, seit sie sich vor so vielen Jahren mit einem Laib Brot, einem sauberen Kleid und ein paar Shillingen, die sie gespart hatte, in der Morgendämmerung hinausgestohlen hatte. Meine Güte, so viel Wasser war seitdem unter der Brücke hindurch geflossen.

Bei diesem Gedanken musste sie unwillkürlich lachen, denn unmittelbar hinter ihr durchschnitt das schwarze Spinnennetz der neuen Brooklyn Bridge den Himmel. Auf der Fähre war sie an Deck gegangen, hatte ihren Hut festgehalten und sie sich angesehen – dieses Gebilde, das wie eine riesige Kathedrale in den strahlend blauen Himmel ragte. Es hieß, die Brücke würde das größte Bauwerk der ganzen Stadt sein, wenn sie erst einmal fertig gestellt sei, doch solange man sie nicht gesehen hatte, konnte man sich keine Vorstellung von den Ausmaßen dieses Bauwerks machen. Es war einfach atemberaubend. Ihre Brücke in Cincinnati, die von demselben Architekten namens Roebling entworfen worden war, konnte natürlich nicht damit konkurrieren.

Aber jetzt war es Zeit, diese Stufen hinaufzugehen und in das Gesicht des Menschen zu sehen, auf den sie stoßen würde. Sie zog ihr kurzes Jäckchen zurecht, überquerte die Straße und stieg die Treppe hinauf, wobei sie im Stillen über ihr Korsett fluchte, das zwar der letzte Schrei war, es ihr aber beinahe unmöglich machte zu atmen. Was Frauen nicht alles für die Mode taten!

Sie kreuzte die Finger, griff nach dem Messingklopfer und pochte mehrmals an die Tür.

Oben im Teesalon war außer dem Kratzen von Amy Tallants Füller auf dem Papier nichts zu hören. Sie saß an ihrem Lieblingsplatz unmittelbar neben dem Fenster mit dem Ausblick auf den Garten und den dahinter liegenden Hafen. So konnte sie, wenn sie wie heute an einem ihrer Pamphlete zur Abschaffung des Alkohols schrieb, von Zeit zu Zeit aufsehen und die Schiffe und den Kirchturm der Trinity Church am anderen Ufer erkennen – ein Anblick, der ihrem Geist ein wenig Ruhe bot.

Sie legte den Federhalter beiseite und massierte ihre steifen Finger. Die Tinte an ihren Fingerspitzen hinterließ Flecke auf der gestärkten Leinenserviette, als sie ihre Hände daran abwischte. Jemma würde sie zweifellos bemerken und die Nase rümpfen. Sie konnte sich einfach nicht überwinden, die Kleidung zu billigen, die ihre Herrin zu Hause trug. Amy bedauerte, dass sie ihr Kummer bereitete, doch andererseits wollte sie sich nicht völlig den idiotischen Gesetzen der Mode unterwerfen. Taillenumfänge von nicht einmal vierzig Zentimetern mit Korsetts, die so lange geschnürt wurden, bis die arme Trägerin blau anlief. Fischbeinkorsetts! Metalleinsätze in den Kleidern, um Flachbrüstigkeit vorzutäuschen. Um so auszusehen wie sie selbst! Wie bedauerlich, dass Amelia Bloomers bequeme Erfindung so lange ausgelacht worden war, bis niemand sie mehr haben wollte. Und jetzt hieß es, die Tournüren kämen bald wieder! Tournüren!

Wann würden die Frauen endlich lernen, sich bequem anzuziehen? Selbst sie, die wie eine Dienstbotin aussah, wenn sie zu Hause war, und es wagte, die Gartenarbeit in Hosen und einem knielangen Hemd zu verrichten, selbst sie, die überall in Brooklyn als »die seltsame Tallant« bezeichnet wurde, kleidete sich der Mode entsprechend, wenn sie aus dem Haus ging. Wo war denn da ihr so genannter Mut? Entrüstet schüttelte sie den Kopf, stand auf und trat ans Fenster.

Nun konnte sie all die Masten sehen, die sich wie ein kahler Winterwald vor ihr auftaten, auch wenn es nicht mehr ganz so viele waren wie in ihren Kindertagen. Natürlich gab es inzwischen Schaufelraddampfer und mit Dampf betriebene Schleppkähne; Qualm stieg aus unzähligen Schornsteinen und Ungetümen auf, die im New Yorker Hafen lagen. Und was die im Bau befindliche Brooklyn Bridge betraf, musste sie zugeben, dass der Anblick sie stets ein wenig beunruhigte.

Sie nahm an, dass die Brücke unvermeidlich war, und irgendwann würde sie sich gewöhnen. Wenn Brooklyn wuchs und gedieh, wie Liam behauptete, dann würden die Fähren nicht mehr genügen. Die große Brücke musste sein.

Müde ließ sich Amy auf einen der mit Brokat bezogenen Stühle sinken und schloss die Augen. Während der letzten drei Stunden hatte sie ohne Unterbrechung geschrieben, auch wenn sie davon neuerdings Rheumatismus in den Händen hatte. Trotzdem war dies eine Aufgabe, die erledigt werden musste, wenn das Übel Alkohol besiegt werden sollte. Allein der Gedanke an die ruinierten Existenzen, an die Schläge, die unschuldige Frauen und Kinder hinnehmen mussten, an ganze Familien, die vernichtet wurden – und nur durch den Dämon Alkohol!

Ihre eigene Ehe hatte unter dem Fluch von Whiskey und Gin gestanden, und, was sie besonders traurig machte, ihr eigener Sohn hatte den Hang seines Vaters zum Alkohol geerbt. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Wann immer sie an Teddy dachte, ergriff sie Traurigkeit. Sie wünschte, er würde endlich heiraten, damit seine Frau sich um ihn kümmerte – und sich sorgte. Man konnte nicht behaupten, dass er häufig genug zu Hause wäre, um seiner Mutter zur Last zu fallen, er trieb sich lieber im Rathaus und in den Tavernen herum, wo er seine Politikerfreunde traf.

Doch er war ein ausgezeichneter Geschäftsmann und kürzlich sogar zum Mitglied des Kuratoriums für den Bau der neuen Brücke ernannt worden. Bislang hatte seine Trinkerei noch keine exzessiven Ausmaße angenommen, sie erinnerte sich jedoch gut daran, wie Neds Alkoholgenuss mit den Jahren immer schlimmer geworden war. Ständig war sie auf die Nachricht gefasst, dass Teddy Tallant von einer seiner Partys nach Hause gebracht werden musste, doch bislang war es noch nicht so weit gekommen. Noch nicht. Im Grunde war er durchaus angesehen, und sie war bei weitem nicht die einzige Mutter, die ihn gern verheiratet sehen würde.

Erst gestern erwähnte Harriet, dass ihre Nichte Emily Hawes zu Besuch kommen würde. »Schön ist sie nicht, Amy, aber durchaus intelligent, modisch gekleidet – und reich. Ich bin sicher, Teddy könnte sich für sie erwärmen. Sie ist wirklich reizend.« Harriet lachte. »Nicht so wie du und ich, meine Liebe, das versichere ich dir.«

Sie tauschten einen wissenden Blick. Teddy billigte das Leben seiner Mutter keineswegs. Die Tatsache, dass sie geschieden war, belastete ihn; die Art, wie sie sich kleidete, missfiel ihm ebenso wie ihre Unverblümtheit – von ihren Pamphleten und Reden ganz zu schweigen!

Sie musste zugeben, dass sie in seiner Gegenwart häufig provokante Bemerkungen machte, um sein Interesse zu wecken und seine Intelligenz herauszufordern. Für einen so jungen Mann war er in vielerlei Hinsicht zu gesetzt und sich der Richtigkeit seines Denkens viel zu sicher. Doch ihren eigenen Sohn zu quälen, war eindeutig unter ihrer Würde. Es war wesentlich klüger, sich ihre spitze Zunge für den Vortragssaal aufzuheben, denn Teddy würde sich ohnedies niemals auf eine Diskussion mit ihr einlassen, um welches Thema es sich auch immer handeln mochte. Schließlich hielt er es nur für Weibergeschwätz und damit seiner Aufmerksamkeit nicht für würdig.

Bei Amys letztem Versuch paffte er seine Zigarette und lachte. »Tu was du willst, Mutter, versprich mir aber bitte, dass du nie wieder diese entsetzlichen türkischen Hosen trägst, nicht einmal im Garten. Die ganze Stadt redet schon davon, denn von der Willow Street aus kann man dich ziemlich gut sehen«, sagte er und schnitt eine Grimasse.

Sie hätte schon eine Antwort für ihn: Wenn er nur einen Tag, nur einen einzigen Tag, diese Korsetts, Unterröcke, Röcke und Überröcke tragen musste, in die Frauen sich tagtäglich zwängten, dann könnte er es vielleicht ein wenig besser verstehen. Doch da er sowieso nie jemandem zuhörte, hielt sie den Mund. Sie sah ihn ohnehin schon selten genug und wollte diese Zeit nicht auch noch mit Auseinandersetzungen vergeuden. Er war ihr Sohn, und sie liebte ihn. Selbstverständlich tat sie das.

Amy seufzte. Warum kamen sie einfach nicht miteinander zurecht? Natürlich verfolgte sie durchaus ernsthafte Ziele, Wichtigeres als ihre eigenen selbstsüchtigen Wünsche, und das war etwas, das Edward Tallant II eindeutig fehlte. Früher hatte sie sich für die Abschaffung der Sklaverei eingesetzt und sogar öffentliche Reden gehalten – wie qualvoll die ersten Male auch gewesen waren! –, und nun engagierte sie sich für das Recht auf Scheidung und bemühte sich nach Kräften darum, dass Alkoholgenuss unter Strafe gestellt wurde. Deshalb saß sie hier und schrieb, um die Welt davon zu überzeugen, dass Frauen einen Weg finden mussten, um Gleichheit zu erlangen. Schreiben war eine einsame Arbeit, es verursachte ihr regelmäßig Krämpfe in den Händen und einen schmerzenden Rücken.

Sie hätte jetzt lieber nicht daran denken sollen, denn sofort spürte sie wieder diesen bohrenden Schmerz in ihrem Rücken, so dass sie erneut aufstand und sich im Zimmer umsah, das noch immer ihr Lieblingsraum war. Doch wie sehr unterschied er sich von dem Salon, in dem sie früher an den Mittwochnachmittagen ihre Freundinnen empfangen hatte!

In Amy Tallants Haus gab es seit ihrer Scheidung keine Teegesellschaften mehr. Die vornehme Gesellschaft akzeptierte keine geschiedenen Frauen. Als Ned ausgezogen war, ließ sie eines ihrer Lieblingsmöbelstücke – einen schönen, lackierten Schreibtisch aus China – aus dem Haus ihres Vaters herbringen und in den Teesalon stellen. Eigentlich sollte sie das Zimmer nicht länger Teesalon nennen, da es inzwischen eher als Schreib oder Arbeitszimmer diente. Aber alte Gewohnheiten legt man eben nicht so einfach ab.

In diesem Moment hörte sie das beharrliche Klopfen. Jemand war an der Tür. Wo um alles in der Welt blieb Jemma? Offenbar wurde sie langsam taub. Jemma hörte den Klopfer häufig nicht, aber wenn Amy sie darauf hinwies, reagierte sie immer schrecklich verletzt. »Ich bin vielleicht langsam wie Melasse im Januar, Miz Amy, aber schaffen tu ich’s trotzdem.«

Was sollte sie tun? Sie und Jemma waren so vertraut miteinander. Sie würden zusammen alt werden und die eine sich mit der Starrköpfigkeit der anderen eben abfinden müssen. Nach Amys Ansicht wäre es das Beste, ein junges Mädchen anzustellen, das an die Tür ging und bei der täglichen Hausarbeit half, doch bei dem Vorschlag kniff Jemma die Lippen zusammen und sprach zutiefst verletzt für den Rest des Tages kein Wort mehr mit ihr.

Meine Güte, schon wieder der Klopfer, und dieses Mal noch lauter. Sie würde selbst an die Tür gehen müssen. Es war ohnedies Zeit, sich die Beine ein wenig zu vertreten. Sie war stolz darauf, sich an den meisten Tagen noch immer beinahe so behände wie ein junges Mädchen bewegen zu können. Nun, vielleicht nicht ganz, aber bestimmt so leichtfüßig wie eine Frau, die halb so alt war wie sie. Mit diesem Gedanken öffnete sie die Tür und glaubte, eine Erscheinung zu haben.

Vor ihr stand eine Gestalt, die aussah, als wäre sie einem Modemagazin entstiegen. Eine schöne Frau in der Blüte ihrer Jahre mit nahezu faltenfreiem Gesicht. Eine Fremde, wie seltsam. Über das Gesicht der Fremden zuckte ein erstaunter Blick. Es dauerte einen Moment, bis Amy begriff. Natürlich, ihre Kleidung und die Tintenflecke!

Plötzlich brach die Frau in Tränen aus, und im nächsten Augenblick drang eine Stimme an Amys Ohr, deren irischen Singsang sie sofort wiedererkannte.

»Oh, Mrs. Tallant, Gott sei Dank sind Sie es selbst. Ich wusste, dass Sie noch immer hier sind, schließlich haben Sie dieses Haus immer so geliebt. Und, du meine Güte, Sie sehen keinen Tag älter aus als damals, wenn auch … verzeihen Sie, wenn ich das sage … viel hübscher.«

»Brigit! Brigit O’Neal«, stieß Amy ungläubig hervor. »Sind Sie das?«

»Leibhaftig, wie sie vor Ihnen steht«, erwiderte Brigit und fiel Amy lachend und weinend um den Hals, die sie nach kurzem Zögern in ihre Arme schloss und beruhigend auf sie einsprach wie bei einem Kind.

Nach ein paar Minuten richtete Brigit sich wieder auf und betupfte ihre Augen. »Ich bin eine sentimentale Närrin. Obwohl ich versucht habe, mich darauf vorzubereiten, berührt es mich so, Sie vor mir stehen zu sehen … und dazu noch, wo Sie genauso aussehen wie vor dreißig Jahren.«

»Das kann ich von Ihnen nicht behaupten, Brigit«, erwiderte Amy trocken. »Sie sind so ziemlich die am besten gekleidete Frau, die je auf dieser Türschwelle gestanden hat.«

Inzwischen konnte sie Brigits Gesicht eingehend betrachten, das trotz der leicht verschmierten Schminke wunderschön war. Weshalb hatte sie dieses Gesicht vor dreißig Jahren als seltsam und keineswegs attraktiv empfunden? Es war nur allzu offensichtlich, dass die grünen Augen mit den dichten Wimpern, die dunklen Augenbrauen und die roten Lippen zu einer atemberaubenden Schönheit gehörten. Selbst die Stupsnase, die früher so häufig in den Zeitungen karikiert worden war, erschien Amy jetzt hübsch.

Brigit machte einen kleinen Knicks, genau so wie Amy es ihr beigebracht hatte, und als sie lächelte, erschien dasselbe freche Funkeln in ihren Augen wie früher. »Danke, Ma’am. Ich war … nun, das ist eine sehr lange Geschichte.«

»Wo sind nur meine Manieren geblieben? Kommen Sie, kommen Sie herein, und lassen Sie uns eine Tasse Tee trinken.«

»Im Teesalon?«, fragte Brigit, als sie in die düstere Halle trat.

»Ja, im Teesalon. Warum fragen Sie?«

Brigit lachte auf. »Ich habe immer von dem Tag geträumt, an dem ich eine Lady bin wie Sie und zu einer Ihrer Teegesellschaften am Mittwochnachmittag eingeladen werde. Das ist der Grund, weshalb ich an einem Mittwoch gekommen bin.«

Nun war es an Amy zu lächeln. »Oh, Brigit, in diesem Haus ist einiges anders geworden. Es gibt keine Teegesellschaften mehr und – ah, da ist ja Jemma. Sie erinnern sich doch noch an Jemma?«

»Wer macht denn hier so einen Lärm? Oh. Ich war im Garten und hab Unkraut gejätet, deshalb habe ich den Türklopfer nich gehört. Aber, Miz Amy, waren wir uns nich einig, dass Sie mich holen, wenn es an der Tür klopft? Es is nich richtig, wenn die Dame des Hauses selber aufmacht, das schickt sich nich. Ganz besonders, wo Sie angezogen sind wie ’ne Dienstbotin.« Ihre Empörung war ihr deutlich anzusehen.

»Tut mir Leid, Jemma. Ich bin eine echte Plage für dich, ich weiß. Aber immerhin schreiben wir das Jahr 1882. Wir brauchen uns keine allzu großen Sorgen mehr darüber zu machen, was schicklich ist.«

»Sie vielleicht nich, aber einige von uns kümmert die äußere Erscheinung immer noch«, murmelte Jemma.

Amy lächelte. »Hör auf, dich über mich zu ärgern. Ich bin viel zu alt und zu starrsinnig, um meine Gewohnheiten zu ändern. Und sieh nur, wen ich vor unserer Tür gefunden habe.«

Die schwarze Frau trat einen Schritt vor und blinzelte gegen das Sonnenlicht. Plötzlich breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Meine Ohren sind vielleicht nich mehr so gut, meine Augen aber schon. Ich erkenne ’ne Ausreißerin, wenn ich sie vor mir seh. Hab ich Recht?«

Gespannt beobachtete Amy, wie Brigit lächelnd die Hände ausstreckte und Jemma voller Wärme begrüßte. Sämtliche Vorurteile, die die junge, ungebildete Brigit gegen Farbige gehabt haben mochte, schienen inzwischen verschwunden zu sein. Also hatte Amys Erziehung doch Früchte getragen.

»Wir trinken jetzt Tee, Jemma. Und Mrs. – meine Güte, ich habe einfach Brigit O’Neal gesagt, ohne darüber nachzudenken. Haben Sie denn je geheiratet?«

Brigit lachte. »In gewisser Weise. Trotzdem heiße ich immer noch Mrs. O’Neal. Aber in diesem Haus ist Brigit vollkommen in Ordnung.«

Als sie im Türrahmen des Teesalons stand, stieß sie einen kurzen Schrei aus. »Oh, meine Güte, ich habe ihn mir so vorgestellt, wie er immer war, und jetzt ist alles ganz anders!«

Lächelnd deutete Amy auf die beiden bequemen Sessel, die einander an dem kleinen Teetisch gegenüberstanden. »Mein Leben hat sich sehr verändert, Brigit, und dasselbe ist wohl mit diesem Zimmer passiert.«

»Allerdings«, stellte Brigit fest, schob ihre Tournüre beiseite, setzte sich langsam auf einen der Sessel und arrangierte sorgfältig ihre Röcke um sich. Amy konnte nicht umhin, zu bemerken, wie eingeschränkt Brigits Bewegungsfreiheit in diesen engen Ärmeln war. »Ich habe kürzlich mein Sofa und die Sessel mit einem neuen Bezug versehen lassen, der diesem hier ein wenig ähnlich sieht. Nur die Farbe ist etwas anders. Wesentlich heller.«

»Dein eigenes Haus! Wie schön!« Amy musterte ihr ehemaliges Dienstmädchen mit großem Interesse, als die von ihrem Haus in Cincinnati, ihrem gesellschaftlichen Leben und ihren Wohltätigkeitsveranstaltungen erzählte. Sie war eine richtige Lady geworden. Ihre Manieren waren erstklassig, sie saß aufrecht in ihrem Sessel, und wenn man ihren Schilderungen lauschte, wäre man niemals auf die Idee gekommen, dass sie früher einmal Dienstbotin gewesen war.

»Mr. Roebling hat für uns in Cincinnati auch eine Brücke gebaut. Schon vor Jahren«, verkündete Brigit, was Amy ein Lächeln entlockte. »Oh, eine wirklich schöne Brücke. Wunderbar anzusehen, genau wie Ihre.« Sie hielt einen Augenblick inne. »Aber natürlich nicht ganz so groß.«

Sie plauderten eine Weile angeregt – nett, aber unpersönlich –, und als Jemma mit einem Tablett mit Tee und Gurkensandwiches das Zimmer betrat, reagierte Brigit formvollendet. Sie wirkt nicht echt, dachte Amy. Es machte beinahe den Eindruck, als stünde Brigit auf einer Bühne und spielte die Rolle einer Lady. Aber ganz bestimmt hatte sie nicht nach all den Jahren den langen Weg hierher gemacht, um Höflichkeiten auszutauschen und ihre guten Manieren zu präsentieren. Wann würde sie nach ihrem Kind fragen?

Doch sie tat es nicht. Stattdessen sah sie sich im Zimmer um und kommentierte sämtliche Einrichtungsgegenstände. »Dieser Schreibtisch dort war früher nicht hier, und die vielen hübschen Bilder an der Wand und all die schönen Dinge überall. Sie hatten schon immer ein Händchen für Inneneinrichtung. Dieser Zweisitzer ist wirklich wunderschön. Ich habe auch einen, aber der ist nicht einmal annähernd so schön – und ist dieser Perserteppich dort drüben neu?«

»Sie haben ein bemerkenswertes Gedächtnis, Brigit. Ja, der Teppich ist neu, und der Stuhl auch – er ist ein Geschenk von … aber der Schreibtisch ist aus dem Haus meines Vaters. Sie erinnern sich vielleicht noch daran, er hat früher in seinem Arbeitszimmer gestanden. Nach der Scheidung von Mr. Tallant hat er ihn herbringen lassen.« Sie machte eine kurze Pause. »Also brauchen Sie ihm nicht gegenüberzutreten.«

Mit einem Mal war das hübsche Gesicht ernst geworden, und Brigit legte sich schockiert eine Hand vor den Mund. »Scheidung! Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ausgerechnet Sie sich scheiden lassen würden. Es ist alles meine Schuld!«

»Ihre Schuld? Natürlich nicht. Meine liebe Brigit!« Amy legte ihre Hand auf Brigits Arm. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Sie die Einzige waren.«

»Oh, Mrs. Tallant, Sie waren immer so freundlich, aber wie können Sie mir je verzeihen? Ich wollte Sie wirklich nicht verletzen, niemals! Aber seine Aufmerksamkeit hat mir geschmeichelt, und ich war so dumm. Ich habe nicht an die Möglichkeit gedacht, dass … Oh, Sie werden mir niemals verzeihen!«

»Brigit! Brigit! Eine Scheidung ist nicht unbedingt eine Tragödie. Und in unserem Fall war es besser für uns beide. Er ist nach Kentucky gezogen, hat wieder geheiratet und ist am Ende als Held in Gettysburg gestorben.« Sie nickten beide, als wollten sie sagen: So ist das Leben nun einmal.

»Seltsam, nicht wahr?« Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. »Sie waren noch sehr jung«, fuhr Amy mit sanfter Stimme fort, »und er sah sehr gut aus – und war charmant, wenn er nur wollte. Ich war genauso dumm.« Sie holte tief Luft und beschloss, Brigit die Wahrheit zu erzählen. »Als ich Ned Tallant begegnet bin, habe ich mich Hals über Kopf in ihn verliebt. Ich konnte mein Glück gar nicht fassen, dass ein gut aussehender und galanter Mann mich in meinem fortgeschrittenen Alter liebenswert finden konnte. Aber er hat nicht mich geliebt, sondern das Geld meines Vaters. Mich zu heiraten war für ihn nichts anderes als ein gutes Geschäft.« Sie tat Brigits mitfühlende Geste mit einer kurzen Handbewegung ab. »Nein, nein, ich habe meinen Frieden damit geschlossen. Er hat sich nie für mich interessiert, was mir schon nach kurzer Zeit klar wurde. Alle wussten das. Er blieb immer häufiger von zu Hause weg und trank immer mehr. Manchmal kam er nachts nach Hause und war sehr zornig und aggressiv.«

»Oh, arme Mrs. Tallant.«

»Ich weiß, er wirkte immer wie ein Gentleman. Aber nicht unter Alkoholeinfluss, Brigit. Am Ende war er häufiger betrunken als nüchtern.« Sie erschauderte. »Ich habe schon eine Ewigkeit nicht mehr an Ned gedacht. Sobald ich die Scheidung durchgesetzt hatte, habe ich versucht, ihn aus meinen Gedanken zu verdrängen.«

»Scheidung! Ich kann es immer noch nicht glauben. Ich könnte nie –«

»Es war auch nicht einfach, Brigit. Alle Freunde haben gesehen, wie er sich benommen hat, aber keiner hatte auch nur ein Wort des Trostes für mich übrig. Alle taten, als hätten sie nichts bemerkt. Es hat mich wirklich einsam gemacht. Nicht einmal zu Harriet konnte ich gehen und sie um Hilfe bitten. Ich wäre auch nicht im Traum auf die Idee gekommen, mit Mr. Beecher darüber zu sprechen. Mit keinem habe ich darüber geredet. Und als mein Vater zu mir kam und mich bat, Ned zu verlassen, habe ich abgestritten, dass ich Hilfe brauchte. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, Ned decken zu müssen. Ich schämte mich. Ich redete mir ein, ich sei schuld an seinem Trinken und an allem anderen, was in unserer Ehe nicht funktionierte.«

Brigit rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her und musterte Amy unbehaglich. »Meiner Ansicht nach ist eine Scheidung nicht richtig«, platzte sie schließlich heraus. »Es tut mir Leid, ich kann nichts dafür. Ich würde lieber erst gar nicht heiraten, als mich scheiden zu lassen. Die Ehe ist ein heiliges Sakrament, das man nicht auflösen kann.«

»Oh, Brigit! Es fühlte sich nicht wie ein Sakrament an, als er mich aus dem Bett zerrte.«

Ah! Endlich trat ein Ausdruck auf Brigits Gesicht, der nicht einstudiert war. Das war die Brigit, die sie kannte – mit geröteten Wangen, weit aufgerissenen Augen und vor Entsetzen offen stehendem Mund.

»Es tut mir Leid, Mrs. Tallant. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass Sie so etwas erlebt haben könnten. Da, wo ich aufgewachsen bin, in Galway, habe ich das damals zur Genüge kennen gelernt. Aber ich dachte immer, nur dumme, ungehobelte Männer benehmen sich so, aber kein Gentleman, und ganz bestimmt nicht einer Dame gegenüber!«

Amy lächelte. »Sie brauchen kein Mitleid mit mir zu haben. Ich bin darüber hinweg. Ich war stark genug. Ich habe mich damit abgefunden und andere Dinge gefunden, denen ich mich widmen konnte. Aber als ich festgestellt habe, wie sehr es die Kinder belastet hat –«

»Kinder …?«, fragte Brigit vorsichtig.

Sollte Amy die traurige Geschichte von Ned und seinen kleinen Söhnen erzählen? Wie er Liam ignorierte und ihn als Muttersöhnchen bezeichnete, wenn der Kleine in Tränen ausbrach? Wohingegen Teddy immer sein Augapfel war. Am Ende war Liam ihr Kind und Teddy das seines Vaters. Alle ihre Freunde hatten das bemerkt. Es war seltsam, wie vernarrt dieser Mann in ein kleines Kind war. Bis zu Teddys viertem Geburtstag – an diesem Tag veränderte sich alles.

Zum ersten Mal seit Jahren wurde ihr wieder bewusst, dass Liam, ihr Liebling, ihr Ein und Alles, in Wahrheit Brigits Sohn war.

Sie konnte doch nicht einfach sagen, Brigit, Ihr Sohn ist erwachsen, ein wunderbarer junger Mann, der mit seiner Frau in einem eigenen Haus lebt. Oder etwa doch?

»Wissen Sie … ich wollte Sie wirklich gern wiedersehen, obwohl ich Angst hatte, Sie könnten vielleicht … aber Sie kennen den anderen Grund, der mich heute hierher geführt hat«, unterbrach Brigit in diesem Moment ihre Gedanken.

»Ich kann es mir denken.«

Nervös fuhr sich Brigit mit der Zunge über die Lippen und verkrampfte die Hände in ihrem Schoß. »Mein … mein Baby. Liam. Ich muss wissen, was aus ihm geworden ist. Ich weiß, dass ich etwas Schreckliches getan habe, als ich mein eigenes Kind verlassen habe, und ich habe Gott jeden Tag meines Lebens um Verzeihung angefleht! Oh, und ich habe meine Strafe dafür bekommen, Mrs. Tallant. Ich habe meine Strafe bekommen. Die Grippe hat mir mein süßes kleines Mädchen genommen. Ein reizendes Ding, drei Jahre alt, das die ganze Zeit geplappert, Lieder gesungen und ihre Ärmchen um Mamas Hals gelegt hat …« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Mitfühlend betrachtete Amy die andere Frau. Das arme Ding. Wer wusste schon, was sie durchgemacht hatte? Wer konnte schon sagen, was für ein hartes Leben hinter ihr lag – trotz ihrer schönen Kleider, der teuren Schuhe und der raffinierten Ohrringe aus Granatsteinen und Perlen. Hübsche Kleider machten einen noch lange nicht glücklich.

»Es tut mir so Leid, Brigit. Nichts ist schlimmer, als ein Kind zu verlieren. Wie hieß sie?«

Brigits Tränen versiegten, und ein kurzes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Amy.«

»Oh, Brigit!«

»Habe ich Ihnen nicht immer schon gesagt, dass ich das gern wollte?« Wieder klang Brigits Stimme tränenerstickt, und sie schüttelte ungeduldig den Kopf. »Aber das ist schon lange her. Erzählen Sie mir von … ihm. Bitte!«

Amy holte tief Luft. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Sie haben mir Ihr Kind anvertraut, Brigit, und ich habe mich Ihres Vertrauens würdig erwiesen. Ja, ich habe ihn adoptiert und ihn wie meinen eigenen Sohn großgezogen –«

Brigit presste die Hände fest zusammen. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht, und ihre Augen strahlten. »Ich wusste es! Welchen Namen haben Sie ihm gegeben?«

»Natürlich Liam. Das war schließlich der Name, den Sie ihm selbst gegeben hatten.«

»Oh, Gott segne Sie, Mrs. Tallant. Ich wusste schon immer, dass Sie die freundlichste Frau auf der ganzen Welt sind. Ich habe sogar versucht, mich so wie Sie zu verhalten …« Sie hielt einen Augenblick inne, während ein eigentümliches Lächeln um ihre Mundwinkel spielte, das Amy ein wenig verwirrte. »Natürlich ist mir das nicht immer gelungen. Aber erzählen Sie weiter. Ich will alles wissen.«

»Er ist groß und sieht gut aus … so wie Sie, Brigit. Er hat dieselben blaugrünen Augen, dunkles Haar und dichte Brauen … und ich muss zugeben, dass er sehr charmant ist. Er ist Journalist und arbeitet als Reporter beim Brooklyn Daily Eagle. Und er ist gut. Er hat großes Talent, Brigit. Wirklich ein intelligenter und reizender Mann …« Sie zögerte einen Moment, während Brigit sich gespannt vorbeugte und sie mit strahlenden Augen musterte.

»Er hat sich wesentlich besser entwickelt als mein eigener Sohn, um ehrlich zu sein«, fügte Amy hinzu. »Es ist wirklich Ironie des Schicksals. Ich wollte so dringend ein leibliches Kind. Aber ich fürchte, er schlägt nach seinem Vater: gut im Reden, eine Menge Charme, aber wenig Substanz. Die Freuden des Fleisches sind ihm zu wichtig.«

»Meine Güte!«

Amy seufzte. »Ich fürchte, es ist so. Als er und Liam jünger waren, sind sie häufig zusammen ausgegangen und haben getrunken und, nun ja, eben die Dinge getan, die junge Männer so tun. Aber mit der Zeit ist Liam dem entwachsen, aber Teddy leider nicht. Liam – aber warten Sie«, sie erhob sich von ihrem Sessel, trat an den Kamin und kam mit einer Fotografie in einem verzierten Silberrahmen wieder zurück. »Hier. Das sind Liam und seine Frau Elizabeth.«

Behutsam hielt Brigit den Rahmen in beiden Händen und kniff die Augen zu. Sie hatte Angst, sich das Bild anzusehen. Was fürchtete sie? Dann holte sie tief Luft, öffnete die Augen – und brach in Gelächter aus, während ihr die Tränen kamen. Es war Dads Gesicht, das ihr entgegenlächelte. Der Mann auf dem Bild war zwar wesentlich schlanker und größer, aber es gäbe niemanden in Galway, der bei seinem Anblick nicht »Da ist Liam O’Neal« rufen würde.

Natürlich war es nicht ihr Vater, nein, es war ihr Sohn, oh gütiger Herr, ihr Sohn. Immer wenn sie an das Kind dachte, das sie zurückgelassen hatte, konnte sie sich nur an einen schreienden Säugling erinnern. Das war das Bild, das sie im Gedächtnis behalten hatte: ein Baby in Windeln und keine real existierende Person.

Nun betrachtete sie das Mädchen neben ihm: eine zierliche junge Frau mit schlanker Taille, hohen Brüsten, die sehr stolz und gerade in ihrem hochgeschlossenen Kleid aussah. Auf den ersten Blick nicht unbedingt eine Schönheit, doch bei näherer Betrachtung musste man sein Urteil revidieren. Sie hatte helles Haar, große strahlende Augen mit schweren Lidern, eine hübsche kleine Nase und ein leichtes Lächeln auf den Lippen.

»Wie ist seine Frau? Sie sieht wie ein Engel aus.«

»Lassen Sie sich von dem Bild nicht täuschen«, erwiderte Amy lachend. »Liam wirkt sehr ernst und feierlich, aber ich schwöre, das ist er nur selten. Und Lizzie, so heißt sie, ist weit davon entfernt, ein Engel zu sein. In Wahrheit ist sie Suffragette, hält öffentliche Reden und demonstriert … ja, sie ist sehr temperamentvoll.«

»Suffragette, sagen Sie? Also wie Sie, Mrs. Tallant. Amy.«

»Nein, nicht in diesem Punkt, Brigit. Ich bin dagegen. Deshalb hat uns Liam auch den Zweisitzer zu Weihnachten geschenkt, dass wir nebeneinander sitzen können, obwohl wir gegensätzliche Ansichten haben. Oh, Sie beide würden sich bestimmt prächtig verstehen.«

»Nein. Ich kann sie nicht kennen lernen.«

»Was sagen Sie da! Natürlich werden Sie das tun. Liam ist nicht einmal eine halbe Meile von uns entfernt. Ich erwarte ihn um halb fünf. Und Lizzie wird etwa zur selben Zeit kommen. Sie können nicht gehen, ohne die beiden gesehen zu haben.«

»Ich hatte nicht … ich meine … du meine Güte!« Sie hielt verwirrt inne und spürte, wie die Röte in ihre Wangen stieg. »Mrs. Tallant, ich habe nie darüber nachgedacht, mehr zu tun als herauszufinden, wo er ist. Oh, ich habe schon so oft von diesem Tag geträumt. Ich habe es mir schon so lange vorgenommen. Wieder und wieder habe ich mir vorgestellt, wie ich nach Brooklyn komme, von der Fähre aus den Hügel hinauf in die Pomegranate Street fahre, diese Treppe hinaufgehe und den Klopfer betätige. Aber dann? Weiter bin ich nie gekommen – und gewiss nicht so weit, ihm jemals gegenüberzustehen.« Sie hielt inne und lachte. »Ganz zu schweigen von seiner Frau.«

»Aber Sie können nicht nach Cincinnati zurückfahren, ohne ihn kennen gelernt zu haben. Das können Sie einfach nicht. Liam weiß von Ihnen. Ich habe ihm von Ihnen erzählt. Er weiß, dass er zum Teil Ire ist, und er ist sehr stolz darauf!«

»Tatsächlich?« In ihren Augen war Mrs. Tallant ein wenig naiv, was die wirkliche Welt betraf. Brigit wusste verdammt genau, wie die Iren behandelt wurden, wo auch immer sie hingingen. Wie Abschaum. Mrs. Tallant, die aus so vornehmen Verhältnissen stammte, wollte sie aber nichts davon erzählen. Es war besser, wenn sie nichts von den Dingen erfuhr, die Brigit wusste – wie es war, arm zu sein und als ungebildete Immigrantin ohne den Schutz von Geld und Familie ins Land zu kommen.

An dem Tag, als sie dieses Haus verlassen hatte, fuhr sie mit der Fähre nach New York, ohne eine Vorstellung zu haben, was sie als Nächstes tun sollte. Nur eines wusste sie: Sie würde niemals wieder als Dienstmädchen arbeiten.

»Machen Sie sich keine Sorgen, dass Ihr Sohn Ihnen nicht mit offenen Armen entgegentreten wird, meine liebe Brigit. Viele, viele Male habe ich auf seiner Bettkante gesessen und ihm erzählt, wie er geboren wurde. Er will Sie gerne kennen lernen, Ihnen endlich gegenüberstehen, das weiß ich genau. Oh, er wird stolz auf Sie sein. Sie sind doch so hübsch, so gut gekleidet, so vornehm und reizend. Bitte bleiben Sie, nur bis er kommt.«

Doch Brigit schüttelte den Kopf. Es war albern, ihm nicht gegenüberzutreten. Aber sie konnte es nicht, noch nicht. Sie stand auf, blickte sich in dem Zimmer um, das in all den Jahren so oft Gegenstand ihrer Träume gewesen war, und lächelte auf Amy hinunter, die in ihrem schlichten Kleid mit der Schürze, dem im Nacken zu einem einfachen Knoten frisierten Haar und den tintenverschmierten Händen vor ihr saß. Amy Tallant brauchte keine teuren Kleider, keinen Friseur und keinen Schmuck, um vornehm auszusehen.

»Vielleicht bin ich ja eine gut aussehende Frau, und mein Sohn wäre stolz auf mich, wie Sie sagen. Aber was, wenn ich ihm erzählen würde, dass ich viele Jahre … auf der Bühne gestanden habe. Ja, Sie haben richtig gehört. Als Schauspielerin …« Wie viel konnte sie wohl preisgeben? »Sind Sie jetzt nicht schockiert oder enttäuscht von mir?«

»Seien Sie nicht albern. Sie wissen doch, wie sehr ich das Theater immer geliebt habe. Wie könnte ich in Theaterstücke gehen und den Schauspielern applaudieren und anschließend nach Hause gehen und genau die Menschen verachten, die mir so großes Vergnügen geschenkt haben? Eine Frau, die auf sich selbst gestellt ist, muss ihren Lebensunterhalt verdienen, womit auch immer. Es gibt wesentlich schlimmere Möglichkeiten.«

Brigit hüstelte in ihr Taschentuch. Wie gut, dass sie nicht deutlicher geworden war. Sie hatte sich stets als vornehme Dame präsentiert und sich sowohl als Schauspielerin als auch als Hure einen erstklassigen Ruf erworben, wobei sie ihr tadelloses Benehmen einzig und allein der Erinnerung an das Auftreten von Amy Tallant zu verdanken hatte. Wann immer sie nicht weiter wusste, insbesondere im Umgang mit ihren schwierigsten Kunden, fragte sie sich stets, was Mrs. Tallant wohl in einer solchen Situation tun würde? Was würde Mrs. Tallant jetzt sagen? Wie würde sie sich verhalten?

Die Ironie lag darin, dass Mrs. Tallant lieber gestorben wäre, als sich in eine derartige Situation zu begeben. Nichtsdestotrotz half es Brigit stets, herauszufinden, was zu tun war.

Doch das könnte sie ihr niemals erzählen. Niemals. Sie steckte das Taschentuch weg und räusperte sich. »Meine Lieblingsrolle war die der Eva in Onkel Toms Hütte …« In der Erwartung des unvermeidlichen entzückten Lächelns hielt sie einen Moment lang inne. »Jedes Mal, wenn ich sie spielte – und das habe ich sieben Jahre lang getan, im ganzen Land, in so kleinen Nestern, dass Sie es kaum glauben würden –, stand ich zwar vor dem Bühnenbild, aber alles, was ich sah, Mrs. Tallant, war dieses Haus mit seinem Feuer im Kamin, dem verlockenden Geruch aus der Küche, dem reizenden kleinen Teekännchen und mit Ihnen in Ihrem wunderschönen Paisley-Schal. Und ich hörte die Worte, die Sie mir vorgelesen haben, ehe ich versuchte, Sie Ihnen vorzulesen … Alles war wieder da, so klar und so lebendig! Ich wusste, dass ich eines Tages zurückkommen würde, um Sie wiederzusehen. Und das ist nun geschehen. Und ich glaube, für den Augenblick ist das mehr als ausreichend für mich. Deshalb wünsche ich Ihnen nun einen guten Tag.«

Amys Lächeln erlosch. »Oh, Brigit, aber Sie sind doch gerade erst gekommen. Sie verlassen doch New York nicht schon wieder?«

»Nein, nein, wie es der Zufall will, ist mein Gefährte Charles Gold leider vor kurzem von mir gegangen und hat mir sein gesamtes Vermögen vermacht, einschließlich seines Warenhauses in Cincinnati und ein wenig Bargeld. Ich denke darüber nach, wieder in den Osten überzusiedeln, wo ich vielleicht ein kleines Geschäft eröffnen könnte. Ich bin der Wohltätigkeitsarbeit ein wenig überdrüssig.«

An der Eingangstür umarmten sie sich herzlich, und Amy sah von der Tür aus winkend zu, wie Brigit die Columbia Street in Richtung der Fulton-Fähre hinunterging. Brigit war nicht bereit, sich einzugestehen, weshalb sie beschlossen hatte, trotz ihrer engen Lederschuhe zu Fuß zu gehen, wo sie doch ebenso gut ein Taxi oder die Straßenbahn hätte nehmen können. Amys Angebot, deren Kutsche zu benutzen, hatte sie mit der Begründung abgelehnt, es sei nicht der Mühe wert, sie extra aus der Hicks Street heraufbringen zu lassen.

In Wahrheit war Liam der Grund, weshalb sie sich für einen Spaziergang von einer runden halben Meile entschied. Wie wäre es, wenn er auf sie zukäme und sie ihn ansehen könnte, ohne dass er wusste, wer sie war? Oh, wie dumm von ihr! Diese Art von Zufällen gab es doch nur in billigen Schundromanen, die sie so gerne las.

Am Fuß des Hügels war es laut und belebt. Je näher sie der Anlegestelle der Fähre kam, umso mehr Menschen, Kutschen, Lieferwagen, Taxis, Botenjungen und ankommende und abfahrende Straßenbahnen bewegten sich in den Straßen. Was für ein Radau! Nun tauchte der riesige, graue Betonpfeiler der Brücke vor ihr auf – ein beängstigendes Ungetüm, das in den Himmel aufragte, als würde es im nächsten Moment einstürzen wie die Mauern von Jericho.

Plötzlich drohte ihr Herzschlag auszusetzen. Da war er! Er war es. Es konnte kein anderer sein. Genau wie Dad, nur viel schlanker und größer. Wie vom Donner gerührt stand sie da, unfähig, sich zu bewegen, und starrte ihn an. Er war in Begleitung eines anderen Mannes, der eine große Kamera und ein Stativ bei sich hatte. Doch der Fotograf, ein kleiner Mann mit hellbraunem Haar und einem dünnen Schnurrbart, interessierte sie nicht – sie hatte nur Augen für ihren Sohn. In diesem Augenblick warf Liam den Kopf in den Nacken – genau so, wie ihr Vater es immer getan hatte – und brach in Gelächter aus. Selbst aus dieser Entfernung erkannte sie dieses herzliche Lachen wieder. Wenn Dad gelacht hatte, musste man einfach mitlachen. Und bei Liam war es ebenso. Ihr Sohn.

Einen Moment lang malte sie sich aus, wie sie über die Straße gehen, vor ihn treten, die Hand ausstrecken und sagen würde: »Wie geht es dir, Liam O’Neal Tallant? Ich bin’s, deine Mutter.« Lag es an der Enge ihres Korsetts oder an ihrem Herzen, das vor Stolz beinahe platzte, dass sie plötzlich kaum noch Luft bekam? Dass sie wie angewurzelt auf dem Gehsteig stand und sich nicht mehr bewegen konnte? Alles, was sie wusste, war, dass sie nicht zu ihm konnte. Noch nicht.

Das Haus der Geheimnisse

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