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März 1855

Brigit lag in den Wehen. Stöhnend lag sie auf ihrem Bett und hatte die Arme um ihren aufgedunsenen Leib geschlungen. »Oh, Jesus Christus, rette mich. Ich sterbe! Jesus, Maria und Josef, rettet mich!«

Ein wenig hilflos stand Amy über das Mädchen gebeugt, das niemanden an sich heranlassen wollte. Dieses dumme Kind! Sie hatten sich doch schon vor Monaten so sorgfältig auf die Geburt vorbereitet. Amy hatte nach Dr. Miller schicken wollen, wenn Brigits Zeit gekommen war. Nicht jede Frau konnte sich einen Arzt leisten, der die Geburt überwachte, doch Amy konnte es, und sie hatte beschlossen, dass Brigit die modernste und sicherste Entbindung bekommen musste.

Aber nun, als es soweit war, hatte sich Brigit wieder auf die traditionellen Ansichten besonnen. »Kein Arzt, kein Mann! Bitte rufen Sie den Doktor nicht, bitte nicht den Doktor rufen. Ich will keinen Doktor. Ich will Katie McGinty!«

Katie McGinty war die Hebamme aus Vinegar Hill, deren Name Amy schon häufig bei ihren Besuchen dort in der Gegend, die sie mit den Damen der Christlichen Hilfsorganisation gemacht hatte, zu Ohren gekommen war. »Könnte ich mir einen Doktor leisten, würde ich nicht einen Shilling dafür ausgeben. Katie McGinty ist die Richtige für mich, sie weiß am besten, wie man ein Kind in diese grausame Welt bringt.«

Amy gefiel die Vorstellung nicht, aber wenn Brigit so große Vorbehalte gegen Dr. Miller hatte, dann sollte es eben Katie McGinty sein. Also schickte sie zehn Minuten später die Kutsche los, um die Hebamme abholen zu lassen. Es war bereits nach Mitternacht, die Straßen waren stockdunkel, und wenn man bedachte, mit welcher Geschwindigkeit diese Iren Kinder in die Welt setzten, war es gut möglich, dass sie bei einer anderen Geburt gebraucht wurde.

Plötzlich stieß Brigit hohe, spitze Schreie aus, während sie ihren geschwollenen Leib umfasst hielt. »Ruhig, Brigit, ruhig«, versuchte Amy sie zu beruhigen, »John bringt gleich Katie McGinty her. Hier ist ein Stück Laken. Beiß darauf. Gleich lege ich dir ein feuchtes Tuch auf den Kopf.« Doch als sie versuchte, das feuchte Tuch auf die Stirn des Mädchens zu legen, schüttelte Brigit wild den Kopf.

»Oh Gott, oh Gott! Ich werde bestraft. Ich werde sterben!« Blind vor Schmerz schlug sie um sich.

Ratlos unterbrach Amy ihre Bemühungen. Es gelang ihr einfach nicht, Brigit in diesem Zustand unter Kontrolle zu halten. Das Mädchen war wesentlich stärker und kräftiger als sie. Doch sie litt so entsetzlich! Wo war nur Katie McGinty? Amys Gedanken überschlugen sich. Was sollte sie nur tun? Vielleicht würde sie einen Fehler machen. Vielleicht sollte sie sich Brigits Wünschen widersetzen und doch nach Dr. Miller schicken. Und wo blieb nur Katie McGinty? In diesem Augenblick hörte sie eine Stimme von der Tür. »Miz Amy, John is grade zurückgekommen und sagt, er kann die Hebamme nich finden.« In Bruchteilen von Sekunden hatte Jemma die Situation erfasst. »Sieht so aus, als hätt sich das Kind im Bauch umgedreht. Lassen Sie mich mal zu ihr.«

Eilig trat sie ins Zimmer. Ihre Miene verriet höchste Konzentration. Als sie eine Hand auf Brigits Bauch legte, zuckte diese heftig zurück und schrie: »Nein, lassen Sie nicht zu, dass sie mich anfasst.«

Doch Jemma ließ sich nicht abweisen. »Sei still, und hör mir zu, Mädchen. Willst du sterben? Ich seh, dass du das nich willst. Also gut. Ich weiß, wie Geburten ablaufen, und wenn du morgen früh die Sonne noch mal seh’n willst, dann hör jetzt auf, dich hier so aufzuregen und lass mich meine Arbeit machen.«

»Katie!«, beharrte Brigit, wandte den Kopf und sah Amy flehend an. »Holen Sie Katie McGinty!«

Amy schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, Brigit, aber John konnte sie nicht finden. Es ist schon nach ein Uhr früh.« Brigit begann zu schluchzen und warf den Kopf auf dem Kissen hin und her. Doch mit einem Mal wurde sie stocksteif, krümmte sich und stieß einen Mitleid erregenden Schrei aus.

Hastig beugte sich Jemma über sie, schob ihr Nachthemd nach oben und spreizte ihre Beine, während sie in einem eigentümlichen Singsang auf sie einredete. »Na schön, Baby, lass mich mal sehen, wohin du willst. Du lässt dir bestimmt ’n Haufen Zeit und machst dem Mädchen hier ’ne Menge Probleme. Wie kommt’s, dass du das machst? Oh, und sieh dir das an, was du da tun willst. Einfach deine Schulter hier rausstrecken. Du weißt doch, dass das nich geht, oder?«

Sie hielt einen Augenblick inne, und als sie sich an Amy wandte, klang ihre Stimme vollkommen verändert. »Dieses Baby kommt gleich auf die Welt. Ich muss es nur umdrehn, damit’s mit dem Kopf voran raus kann, wie’s eigentlich sein sollte.«

Ein neuerlicher Schrei entrang sich aus Brigits Kehle. »Sch«, machte Jemma. »Ich muss hier arbeiten.« Mit zusammengekniffenen Augen beugte sie sich wieder über das Mädchen und schob ihre Hand in seinen Leib. Ein eigentümlicher Geruch hing in der Luft, beinahe so, als könnte man Hitze auf einmal riechen. Plötzlich erschien Amy das Zimmer unerträglich eng. Doch es war zu kalt draußen, um ein Fenster zu öffnen.

»Hock dich hin, das macht’s leichter für dich«, befahl Jemma und half der inzwischen willfährigen Brigit, indem sie sie halb aus dem Bett zerrte. Gegen das Bettgestell gelehnt, ging Brigit gehorsam in die Hocke und begann tief zu atmen, wobei sie bei jedem Ausatmen ein Stöhnen ausstieß. Hastig kniete Jemma sich neben sie.

»Ah, ich spür schon das haarige Köpfchen. Genau so, das is der richtige Weg. Komm einfach raus in die Welt, Baby, und sag hallo zu den Leuten.«

Brigit stieß ein Mark erschütterndes Stöhnen aus und ballte die Hände zu Fäusten. Amy, die froh war, etwas zu tun zu haben, beugte sich über sie und streckte ihr die Hände entgegen, so dass das Mädchen sie umklammern konnte. »Genau so«, fuhr Jemma fort. »Pressen. Noch mal pressen. Und noch mal. Und … hier kommt das Baby.«

Amy beobachtete, wie die geschickten dunklen Hände, die einen kleinen blutverschmierten Körper umfangen hielten, unter dem Nachthemd auftauchten. Hastig drehte Jemma das Baby um und schlug es kräftig auf sein Hinterteil. Das kleine Wesen schnappte kurz nach Luft, ehe es einen zornigen Schrei ausstieß, während sich sein kleines Gesicht dunkelrot verfärbte.

»Ist alles in Ordnung?«

»Es is ein gesundes kleines Baby, Miz Amy, und sehn Sie mal da. Es is ein Junge.« Sie wischte das Baby mit einem weichen Tuch trocken, wickelte es in ein sauberes Laken ein und reichte es Amy. »Sie setzen sich jetzt hin und halten ihn eine Minute. Ich hab noch zu tun.«

Erneut verschwand ihre Hand unter Brigits Nachthemd und beförderte zu Amys Entsetzen eine blutige Masse zu Tage, die sie in die Nachtschüssel gab. Amy fühlte sich plötzlich schwach von den intensiven Gerüchen, der Hitze und der ungewohnten Enge – und fürchtete, sich im nächsten Augenblick übergeben zu müssen. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Sie durfte nicht ohnmächtig werden, während sie das hilflose Baby in ihren Armen hielt. Als die Übelkeit langsam verebbte und sie die Augen wieder öffnete, sah sie, wie Jemma sich vornüberbeugte und mit ihren scharfen Zähnen die Nabelschnur durchtrennte, ehe sie die zusammensinkende Brigit in ihren Armen auffing. »Alles in Ordnung mit dir, alles in Ordnung«, wiederholte sie unablässig, während sie das Mädchen hochhob und in ihr Bett bugsierte. Es war vollbracht.

Zum ersten Mal, seit all das hier angefangen hatte – wie viele Stunden waren eigentlich vergangen? Sie hatte nicht die leiseste Ahnung –, konnte Amy wieder richtig durchatmen. Das Kind war gesund zur Welt gekommen, und Brigit – wie man aus ihrem Stöhnen und ihren Dankesgebeten an die Heilige Jungfrau Maria schließen konnte – schien es ebenfalls gut zu gehen.

Amy betrachtete das neue Leben, dieses winzige Gesicht. In diesem Augenblick öffnete der Säugling die Augen und sah sie an – und da war es um sie geschehen. Ihr Herz schmerzte vor Liebe. Dieses winzige Geschöpf, das so perfekt geformt war, so süß, so unschuldig, so hilflos! Sie sehnte sich danach, es an sich zu drücken, es bei sich zu behalten und zu umsorgen. Für eine Sekunde flammte ein Bild vor ihrem geistigen Auge auf – wie sie mit ihm in ihrem Lieblingsschaukelstuhl saß und ihn stillte, während sie ein Schlaflied summte.

»Wir müssen ihn jetzt seiner Mama geben, Miz Amy«, sagte Jemma mit ausgestreckten Armen. Dies war nicht Amys Kind. Sie musste es seiner Mutter überlassen. Und der Verlust schmerzte tief in ihrem Herzen.

»Mrs. Tallant?« Brigits Stimme klang müde und dünn.

»Ich bin hier, Brigit. Du hast einen hübschen Jungen.«

»Ich will ihn … ich will ihn nach Mr. Tallant benennen.«

Tränen traten in Amys Augen. Was für eine bezaubernde und rührende Idee. Vor Monaten hatte Brigit erzählt, sie wolle ihr Baby nach Amy benennen. Das arme, dumme Ding, sie war sich so sicher gewesen, dass sie ein Mädchen bekäme – das hänge mit der Mondphase zusammen, außerdem hätte es ihr die Nadel an einem Faden verraten, die sie über ihren Bauch gehalten hatte. Die Nadel hatte sich im Kreis gedreht, was auf ein Mädchen hindeutete. Vielleicht verhielt sie sich deshalb dem kleinen Jungen gegenüber so gleichgültig, der neben ihr auf dem Kissen lag. Vielleicht war sie enttäuscht, dass es kein Mädchen geworden war, keine kleine Ausgabe ihrer selbst. Aber gut, sie war ja beinahe selbst noch ein Kind!

»Was für eine reizende Idee, Brigit«, erwiderte Amy. »Ich bin sicher, Mr. Tallant wird sich über diese Ehre freuen.«

Brigit lachte. Wie seltsam, dachte Amy.

Später an diesem Morgen, kurz nach der Dämmerung, saß Amy am Esszimmertisch und sah auf ihren Teller mit Eiern, Würstchen und geröstetem Brot hinunter, doch es gelang ihr nicht, die Gabel zum Mund zu führen. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit. Trotzdem war sie entschlossen, erst zu Bett zu gehen, nachdem sie mit ihrem Ehemann gefrühstückt hatte. Dies war das erste Mal seit Tagen, dass sie mit ihm alleine war. Wenn sie Ned erzählte, dass Brigit ihren Sohn nach ihm benennen wollte, dann wäre er dem Mädchen gegenüber vielleicht nicht mehr ganz so hart. Während der letzten Monate hatte er kein gutes Haar an der armen Brigit gelassen – sie sei plump, unbeholfen, hässlich und langsam.

Da war er. Amy richtete sich auf ihrem Stuhl auf und lächelte. »Guten Morgen, Ned.«

»Und? Hat sie das Kind bekommen? Der Lärm war ja höllisch. Ich konnte stundenlang nicht einschlafen.«

Amy holte tief Luft. Männer! Kein Gedanke an das Wunder der Geburt. Kein Gedanke an den Schmerz und die Mühsal, neues Leben zu schenken. Nur daran, dass man wach gehalten worden war. »Mein armer Ned! Es tut mir so Leid. Aber es wird dich freuen zu hören, dass Brigit einem hübschen, gesunden Jungen das Leben geschenkt hat.«

»Tatsächlich!« Der Anflug eines Lächelns spielte um seine Lippen. Offenbar war er also doch nicht vollständig immun gegen Gefühle. »Ein Sohn! So, so.« Er setzte sich, breitete die Leinenserviette sorgfältig auf seinem Schoß aus und griff nach der Marmelade, wobei er Jemma kaum eines Blickes würdigte, als sie den Teller vor ihm auf den Tisch stellte. Ohne dem Frühstück einen weiteren Blick zu schenken, begann er, sich die Speisen in den Mund zu schieben, während er die Morgenzeitung durchblätterte.

»Ned?«

»Mmmm.«

»Sie möchte ihn nach dir benennen. Ist das nicht rührend?«

»Mmm ….« Er las weiter, doch plötzlich fuhr sein Kopf hoch. »Was hast du da gerade gesagt?«

»Das Baby. Brigit will ihm deinen Namen geben: Edward. Sie ist so dankbar, weil wir sie beschützt haben, verstehst du?«

»Das kann nicht dein Ernst sein!«

»Ned. Was ist los? Natürlich ist das mein Ernst. Ich dachte, es würde dich freuen. Sie hätte das Baby nach mir benannt, wenn es ein Mädchen gewesen wäre.«

»Das ist doch etwas ganz anderes. Was ihr Frauen untereinander tut, spielt keine Rolle. Der Name einer Frau hat keinerlei Bedeutung, Amy. Mein Name hingegen muss meinem … nun, unserem Sohn zufallen … sollten wir jemals einen bekommen!«

Zutiefst getroffen senkte Amy den Kopf. Sie hatte alles in ihrer Macht Stehende getan, um schwanger zu werden, wie er sehr wohl wusste. Er wusste, dass sie sich sogar dieser würdelosen Prozedur beim Arzt unterzogen hatte! Sie hatte Arzneien eingenommen und Daten auf dem Kalender markiert. Und nachdem der Doktor ihr erklärt hatte, unmittelbar nach ihrer Monatsblutung sei eine Frau am fruchtbarsten, hatte sie es so diskret wie möglich eingefädelt, dass sie in diesen Nächten zusammen gewesen waren. Warum hielt er es also für notwendig, ihr Vorwürfe zu machen?

Doch im nächsten Augenblick schalt sie sich eine Närrin. Er hatte doch nur gesagt: »Sollten wir jemals einen bekommen.« Das war doch kein Vorwurf. Und als sie ihn ansah, bemerkte sie gerührt, dass Tränen in seinen Augen glitzerten. Oh, ihr armer, armer Liebling! Er litt ebenso wie sie! Und sie war so selbstsüchtig gewesen und hatte nur ihre eigenen Gefühle im Kopf.

»Oh, Ned, wie dumm von mir. Du hast natürlich Recht.« Sie streckte den Arm aus und legte ihre Hand auf seine. »Dann nicht Edward. Vielleicht wäre ja Horace ein netter Name.«

Er runzelte die Stirn und entzog ihr seine Hand. »Sie ist nichts als eine dumme, irische Einwanderin. Wie kannst du auch nur eine Sekunde ernsthaft in Erwägung ziehen, ihrem Bastard den Namen deines Vaters zu geben?«

»Aber es ist doch nur ein unschuldiges Kind, Ned.«

»Dieses Kind ist ein Bastard«, wiederholte er starrköpfig. »Lass die Schlampe einen Namen für ihn finden. Was geht dich das überhaupt an?«

Amy war ein wenig verwirrt über seine heftige Reaktion. Aber andererseits stammte er aus einer Kleinstadt und hatte manchmal ein wenig provinzielle Ansichten.

»Wenn die Gesellschaft uneheliche Kinder schlecht behandelt und ausschließt, ist das dann ein Grund für uns, es auch zu tun? Südlich der Mason-Dixon-Linie wütet die Sklaverei, und trotzdem helfen wir diesen armen Seelen, dem zu entkommen, was dort unten als vollkommen normal gilt. Können wir kein besseres Verhalten an den Tag legen als das, welches uns die Gesellschaft vorschreibt?«

»Amy, dieses Kind wurde nicht innerhalb einer Ehe gezeugt und geboren. Dem kannst du nicht widersprechen. Es ist eine unumstößliche und unwiderlegbare Tatsache. Das Kind ist fürs Leben gezeichnet, wie auch immer du darüber denken magst. Egal, was du sagst, egal, welchen Namen du ihm gibst, jeder anständige Mensch in Brooklyn Heights wird ihn verhöhnen, ja sogar auf der ganzen Welt! Das Problem ist, Amy, dass du glaubst, über all diesen Regeln und Beschränkungen zu stehen und selbst entscheiden zu können, was richtig und was falsch ist. Nun, meine Liebe, es ist Zeit, endlich zu begreifen, dass du das nicht kannst. Du bist viel zu idealistisch, als dass es gut für dich wäre. Es gibt ein paar Wahrheiten, Amy, die nicht einmal du in Zweifel ziehen kannst.«

Trotzig reckte sie das Kinn. »Warum nicht?«

Ned schnaubte angewidert durch die Nase, schüttelte den Kopf, griff nach seiner Zeitung und stand auf. »Es ist hoffnungslos. Hoffnungslos. Wir haben dieses Thema doch schon häufiger diskutiert, als es das überhaupt verdient. Dieses Kind bekommt einen Namen, der weder in deiner noch in meiner Familie vorkommt – einer dieser irischen Namen wird schon ausreichen –, und das ist mein letztes Wort!«

Und wieder einmal saß Amy zusammengesunken am Tisch und lauschte dem vertrauten Geräusch der schweren Haustür, die ins Schloss fiel, als ihr Ehemann das Haus verließ. Wieder einmal war es ihr gelungen, ihn gegen sich aufzubringen. Es stimmte sie traurig, dass ihn ihre Aufrichtigkeit so zu verärgern schien. Sie hatte geträumt, gehofft, dass sie eine harmonische, kameradschaftliche Ehe führen würden, dass sie im Geiste vereint wären. Und Ned hatte dasselbe gewollt … zumindest hatte es den Anschein, als sei dies auch sein Wunsch. Es war eine große Enttäuschung, dass sich ihre Ehe in der Realität so sehr von ihren Erwartungen unterschied. Dennoch musste der Gerechtigkeit halber gesagt werden, dass sie zweifellos eine große Enttäuschung für ihren Mann darstellte. Wenn sie nur ein Kind bekommen könnten, lägen die Dinge zwischen ihnen ganz gewiss anders.

Aber genau dieser Gedanke kreiste ständig in ihrem Kopf und ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Sie durfte nicht länger zulassen, dass ihr ganzes Denken davon regiert wurde. Es gab ein Kind in diesem Haus. Nicht ihr eigenes, aber nichtsdestotrotz ein lebendiges, atmendes menschliches Wesen, das ihren Schutz und ihre Unterstützung brauchte. Sie hatte ihn in ihren Armen gehalten, in sein ernstes, vertrauensvolles Gesicht geblickt und die Liebe gespürt, die in ihrem Herzen aufgekeimt war. Ned mochte ihn als Bastard bezeichnen, nun, er war mehr als das, sehr viel mehr sogar, und er verdiente einen Namen. Sie hatte einmal einen Bruder, ein schwaches Baby, das nur wenige Stunden nach seiner Geburt gestorben war. Sie konnte sich noch gut an den kleinen Sarg und an ihre Besuche auf dem Friedhof von Greenwood erinnern, wo sie Frühlingsblumen auf das kleine Grab gelegt hatten. Auf dem Grabstein waren ein pausbäckiger Engel und darunter der Name WILLIAM THORNDIKE BENEDICT eingraviert gewesen. William, so würde Brigits Sohn heißen.

Doch als sie mit heißem Tee und Hafergrütze für die junge Mutter die Treppe hinaufstieg, lehnte Brigit sowohl die Nahrung als auch den Namen William rundweg ab. Sie war noch immer reichlich erschöpft, dennoch färbten sich ihre Wangen rosa, und ihre Stimme klang entschlossen, als sie sagte: »Nein. Wenn Mr. Tallant den Namen Edward nicht zulässt, dann werde ich ihm einen irischen Namen geben. Ich werde ihn Liam nennen. Sie müssen wissen, dass dies der gälische Name für William ist. So haben wir beide bekommen, was wir wollen, Mrs. Tallant, zumindest den Namen, den er tragen soll. Liam O’Neal wird er heißen, und ich werde ihn lehren, den Namen seines Vaters zu verfluchen.«

»Brigit! Kein Christ verflucht einen anderen Menschen, ganz besonders den eigenen Vater nicht …« Amy hielt inne. Sie wollte Brigit nicht quälen, aber wenn sie ihr nur erzählen würde, wer der Vater war, dann würde das Kind wenigstens nicht mit dem Makel leben müssen, als Bastard zu gelten. Behutsam versuchte sie, ihre Ansicht dem Mädchen zu unterbreiten, doch Brigit drehte den Kopf zur Wand. »Niemals«, sagte sie. »Fragen Sie mich nicht mehr danach. Ich kann es Ihnen nicht sagen. Niemals.« Das Gesicht noch immer zur Wand gedreht, begann sie zu weinen.

Während der nächsten Woche tat Brigit nichts als zu schlafen und ihr Baby zu stillen, wobei ihr beinahe ständig die Tränen über die Wangen liefen. Sie wollte nicht lesen, ihre Näharbeit nicht in die Hand nehmen und nicht einmal Amy zuhören, wenn sie ihr etwas vorlas.

»Brigit, du wirst noch krank werden«, sagte Amy schließlich zu ihr. »Sieh dir deinen Sohn an, wie er deine Milch trinkt. Es muss dich doch glücklich machen, zu beobachten, wie er gedeiht und dick und prächtig wird.«

Brigit verzog das Gesicht und stieß ein kurzes Lachen aus. »Glücklich, ja? So soll ich mich fühlen? Ich bin siebzehn Jahre alt, und mein Leben ist vorbei.«

»Unsinn. Dein Leben hat gerade erst angefangen. Du brauchst dir keine Sorgen um ein Dach über dem Kopf machen. Du und der kleine Liam, ihr könnt so lange hier bleiben, wie ihr wollt –«

»Sie sollten ihn haben. Er macht Sie glücklich. Das sehe ich daran, wie Sie ihn ansehen. Sie kommen mindestens zwanzigmal am Tag hier herauf, heben ihn hoch und wiegen ihn. Und manchmal stehen Sie einfach nur da und sehen ihn an. Und ich bin ruiniert. Kein Mann wird mich je zur Frau nehmen, jetzt nicht mehr. Und wir können nicht hier bleiben, das geht nicht.«

»Warum um alles in der Welt nicht? Ich sage dir doch, dass ich euch beide hier haben will. Ihr seid mir jederzeit willkommen.«

»Dieser kleine Wurm macht praktisch eine Gefangene aus mir, sehen Sie das denn nicht? Verstehen Sie das denn nicht? Ich will aber gern tanzen gehen, mit einem netten jungen Mann ausgehen, hübsche Kleider tragen –«

»Aber, Brigit, du bist doch diejenige, die nicht versteht. Sobald du dich ein wenig an die Mutterschaft gewöhnt hast, wird dich das viel mehr ausfüllen als irgendein Picknick oder ein hübsches Kleid! Oh Brigit, Mutter zu sein bedeutet doch, dass du einen höheren Rang in der menschlichen Existenz eingenommen hast. Denk doch daran, wie befriedigend es sein wird, ihn heranwachsen zu sehen, seine ersten wackligen Schritte zu beobachten, seine ersten Worte zu hören. Ah, den Charakter eines Mannes zu formen, wonach könnte eine Frau je mehr streben?«

»Oh, Mrs. Tallant!« Erneut wandte Brigit sich ab, während die Tränen aus ihren Augen strömten. »Erst dreimal war dieser monatliche Fluch über mich gekommen, und schon soll ich eine erwachsene Frau sein! Das ist nicht fair, das ist einfach nicht fair!«

Amy legte eine Hand auf die Schulter des Mädchens und schüttelte den Kopf. »Brigit, du musst noch so viel darüber lernen, was es heißt, eine Frau zu sein. Du weißt doch noch, was wir kürzlich gemeinsam bei Godey’s gelesen haben: Zu leiden und dieses Leiden still zu ertragen, das ist das größte Gebot, dem sich die Frau zu fügen hat. Sich zu fügen, das ist unser Los, Brigit. Wenn du mit deinem Schicksal haderst, tust du dir ganz bestimmt keinen Gefallen.«

Zornig fuhr Brigit herum. Ihre Augen funkelten. »Nicht mein Schicksal, Mrs. Tallant. Nicht meines, ich schwöre es! Ich bin schon einmal vor einem Schicksal davongelaufen, das ich hätte hinnehmen sollen. Das mache ich nicht noch einmal, nie wieder!«

Da Amy wusste, wie rebellisch und verwirrt Brigit war, hätte sie eigentlich nicht überrascht sein dürfen. Doch das war sie trotzdem. Eines Morgens, nicht einmal eine Woche nach ihrer Unterredung, hörte Amy das Baby vor Hunger in dem kleinen Zimmer schreien. Sie lag noch im Bett, den schnarchenden Ned neben sich. Es kam häufiger vor, dass Brigit das Weinen des Babys nicht sofort hörte. Aber diesmal klang es so verzweifelt. Amy spürte, wie sie unruhig wurde. Wenn »dieses Balg« die Ruhe in diesem Haus auch nur im Geringsten stören würde, dann müsste es verschwinden, hatte Ned schon mehr als einmal zu ihr gesagt. Oder er würde das Haus selbst verlassen und sich ein Zimmer im Mansion House mieten. Deshalb glitt sie vorsichtig aus dem Bett, zog ihren Morgenmantel über und lief hastig die Stufen hinauf.

Entschlossen, Brigit eine Rüge zu erteilen, öffnete sie die Tür, doch von dem Mädchen war nichts zu sehen. Die Konturen ihres Körpers zeichneten sich noch auf der Matratze ab, und der kleine Liam lag allein im Bett und brüllte aus Leibeskräften. Amy nahm ihn hoch, drückte ihn an sich und wiegte ihn beruhigend. Wo war nur Brigit? Und dann sah sie den Zettel auf dem Nachttisch, der gegen den Wasserkrug und die Waschschüssel gelehnt war.

Sie verstand sofort. Brigit war davongelaufen und hatte ihr Baby zurückgelassen. Oh, Brigit. Was für eine Dummheit! Dort draußen wartete kein Leben als Mädchen auf sie, sondern nur Elend, Enttäuschung und der Ruin.

Amy stand stocksteif da, während sich das Baby auf der Suche nach einer mütterlichen Brust in ihren Armen wand. Sie würde irgendwo eine Amme finden müssen, aber in der Zwischenzeit litt Liam Hunger, der arme kleine Kerl, und sie und Jemma würden es irgendwie schaffen müssen, dass er ein wenig Milch trank. Jemma würde wissen, was zu tun war.

»Still«, sagte sie zu dem Baby. Sie drückte es an ihre Brust und hastete mit dem Zettel die Treppe hinunter ins Esszimmer, wo Jemma gerade den Tisch fürs Frühstück deckte.

»Brigit ist fort«, sagte sie.

»Ja, Ma’am, ich weiß.«

»Und Liam muss gefüttert werden.«

Jemma nahm ihn auf den Arm. »Ja, Ma’am, das seh ich.« Traurig schüttelte sie den Kopf. »Das überrascht mich nich. Das Mädchen war weniger bereit, Mutter zu sein, als die Pumpe an der Straßenecke. Wo is sie hin?«

»Ich weiß es nicht. Das hier hat sie hinterlassen.« Amy hielt den Brief in die Höhe. Sie musste ihn endlich lesen, um herauszufinden, was Brigit zu sagen hatte. Vielleicht stand ja sogar darin, wohin sie gegangen war. Jemma trug den Säugling in die Küche, wobei sie beruhigend auf ihn einredete. Was für ein gedankenloses, undankbares Mädchen, ihr Baby einfach allein zu lassen, ohne ein Wort zu sagen! dachte Amy, als sie allein war. Doch zunächst musste sie Brigits Nachricht lesen und danach entscheiden, was zu tun war, das war jetzt das Wichtigste. Sie drehte sich um und ging die Treppe hinauf in ihr Lieblingszimmer: den Teesalon.

Dort ließ sie sich in ihren Sessel sinken und faltete langsam das Blatt Papier auseinander. Brigits runde, sorgfältige Handschrift fiel zwar am Zeilenende ein wenig ab, war aber nichtsdestotrotz ordentlich und gut lesbar. Genauso, wie Amy es ihr beigebracht hatte.

Liebe Mrs. Tallant,

bitte vergeben Sie mir. Sie waren immer so gut zu mir, aber ich kann hier nicht länger bleiben. Ich kann sehen, dass Sie Liam sehr lieben, deshalb lasse ich ihn bei Ihnen. Ich weiß, dass Sie ihn gut behandeln und liebevoll großziehen werden. Ich hätte Ihnen niemals sagen können, wer sein Vater ist, und ich schätze, Sie können sich denken, weshalb. Es tut mir sehr Leid, dass ich Ihnen Schwierigkeiten mache. Sie waren immer so gut zu mir. Bitte vergeben Sie mir.

Herzlichst,

Ihre Brigit

Amy las die Nachricht bis zum Ende, dann fing sie noch einmal von vorn an, obwohl sie die Worte bereits beim ersten Mal genau verstanden hatte. Ihre Gedanken begannen zu wirbeln.

»Ich hätte Ihnen niemals verraten können, wer sein Vater ist, und ich schätze, Sie können sich denken, weshalb.« Wieder und wieder glitt ihr Blick über diese Zeilen. Oh Gott, sie brauchte nicht zu raten. Sie wusste es. Es war entsetzlich. Grauenhaft. Und in diesem Moment löste sich in ihrer Kehle ein Schrei der Verzweiflung, von deren Existenz sie nie etwas geahnt hatte. Keine Tränen, nur dieses entsetzliche, schauerliche Geräusch. Im nächsten Augenblick stürzte Jemma mit dem Baby auf dem Arm ins Zimmer. »Miz Amy? Was is los? Harn Sie sich verletzt?«

»Nein, es ist nichts«, erwiderte Amy, während sich kalter Schweiß unter ihren Achseln sammelte und das Herz in ihrer Brust hämmerte. Sie versuchte zu lächeln und so zu tun, als wäre nichts geschehen, als wäre nicht vor wenigen Augenblicken ihre Welt aus den Angeln gehoben worden. »Ich … ich habe mir nur das Schienbein gestoßen. Es ist nichts, wirklich. Absolut nichts.«

Neds Kind! Oh Gott, diese Schande! Was für einen Mann hatte sie in ihrer altjüngferlichen Naivität nur geheiratet! Sie wusste genau, was die Leute sagen würden, wenn sie das je herausfänden. Sie würden sagen, dass sie unbedingt einen jungen Mann hätte haben wollen und deshalb zu sorglos bei ihrer Wahl vorgegangen sei. Dass es ihr nicht gelungen sei, ihren Mann glücklich zu machen und ihn dazu zu bringen, ihr gegenüber loyal zu sein … ja, dass sie völlig dabei versagt hätte, dieses Dienstmädchen unter Kontrolle zu halten! Und sie hätten Recht, das war die eigentliche Schande.

Sie war eine Versagerin, eine Närrin. Dass sie geglaubt hatte, dieses Mädchen tatsächlich zu lieben, dass sie sie wie eine Schwester betrachtet und unzählige Stunden damit zugebracht hatte, sie zu unterrichten! Und wofür das alles? Am Ende hatte dieses hinterhältige Geschöpf ihr Vertrauen und ihre Liebe verraten!

Amy legte den Kopf auf die Arme und versuchte nicht zu weinen, ihren Schmerz und ihren Zorn zu unterdrücken. Ihre Augen fühlten sich heiß und trocken an. Doch Tränen spielten jetzt keine Rolle mehr. Auf seltsame Weise fühlte sie sich von der Welt losgelöst, so als schwebe sie über allem und betrachte sich selbst von oben. Trotz ihrer Qual gelang es ihr, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie wusste plötzlich, was als Nächstes gesagt und getan werden musste.

Liam gehörte nun ihr, und sie würde ihn bei sich behalten. Ned würde zweifellos versuchen, sich ihr in den Weg zu stellen, doch sie würde sich nicht davon abhalten lassen, das zu tun, was sie als richtig empfand. Sie würde wohl eine Amme einstellen müssen …. Doch vielleicht könnte sie ihn ja auch selbst ernähren. Jemma könnte einige dieser neuen Flaschen kaufen, die Mütter benutzten, die ihre Kinder nicht stillen konnten. Ja, das wäre viel besser. Auf diese Weise könnte sie Liam manchmal in den Armen halten und ihn füttern. Sie würde lernen, Kuhmilch so zuzubereiten, dass ein Säugling sie vertrug. Sie würde Jemma zum Stubenmädchen befördern und eine junge Frau als Kindermädchen einstellen. Später würde sie möglicherweise noch eine Spülhilfe für Cook engagieren. Später.

Sie richtete sich auf und holte tief Luft. Entscheidungen zu treffen genügte schon, dass sie sich wieder besser fühlte. Was geschehen war, war geschehen. Es gab keinen Weg zurück. Sie würde Liam großziehen und einen guten Christen aus ihm machen. Sie würde ihn adoptieren, so viel stand fest. Er sollte nicht mit dem Makel eines Bastards durchs Leben gehen müssen. Nein, das würde sie nicht zulassen. Und wenn Ned auch nur ein Wort dagegen sagte, dann würde sie … Sie erstarrte.

Was würde sie denn tun? Amy erhob sich von ihrem Sessel und begann ruhelos im Zimmer auf und ab zu gehen – während sie sich zwang, einen kühlen Kopf zu bewahren und nachzudenken. Sie wusste, dass derartige Dinge sogar in den besten Familien vorkamen. Eine Scheidung war nicht völlig ausgeschlossen, doch damit würde sie ihren Vater zutiefst verletzen. Wie um alles in der Welt sollte sie ihm erklären, dass der Mann, den sie geheiratet hatte, dem sie beide vertraut hatten, den er als seine rechte Hand bezeichnete und zu seinem Erben der Firma gemacht hatte – wie sollte sie ihm erklären, dass sie beide einem Betrüger aufgesessen waren? Sie würde ihm alles erzählen müssen: Neds Trinken, seine Affäre mit dem Dienstmädchen, sein schwindendes Interesse an ihr. Nein, das konnte sie nicht tun!

Sie musste sich eine Geschichte einfallen lassen: Brigit, die nicht in der Lage war, mit ihrer Mutterschaft zurechtzukommen, hatte ihr Kind verlassen, und sie, Amy, sei ohnedies kinderlos und empfände es als ihre Pflicht als Christin – und darüber hinaus als Freude –, den kleinen Wurm aufzunehmen und großzuziehen. Genau. Das klang doch absolut vernünftig. Niemand würde sie deswegen schief ansehen.

Als sie in ihr Zimmer hinaufging, um sich so schnell und geräuschlos wie möglich anzuziehen, wanderten ihre Gedanken zu ihrem Ehemann, dessen Körper sich unter dem Bettzeug abzeichnete.

Sie würde mit ihm verheiratet bleiben. Sie würde verheiratet bleiben, weil sie es musste. Während sie ihr Korsett festzog, sah sie ihr Gesicht im Spiegel und leistete einen feierlichen Schwur. Niemand auf dieser Welt würde je vom Inhalt dieses Briefes erfahren. Ganz besonders Ned nicht, dachte sie und sah zum Bett hinüber, wo er noch immer schlief, von Zeit zu Zeit etwas murmelte und sich unruhig bewegte – wie immer, wenn er zu viel getrunken hatte.

Gestern noch hätte sie ihn – selbst in diesem Zustand – mit liebevoller Toleranz und Nachsicht betrachtet. Gestern noch hätte sie die Laken straff gezogen und dafür gesorgt, dass er bequem lag. Gestern noch hätte sie sich gesagt, dass Männer einfach anders waren als Frauen, dass Zechgelage außerhalb des Hauses nun einmal zu Männern gehörten.

Aber heute ging das nicht mehr. Heute konnte sie sich kaum noch vorstellen, wie sie diesen unförmigen Haufen unter der Bettdecke jemals hatte liebenswert finden können. Heute ließ er beinahe Ekel in ihr aufsteigen. Oh Gott, war es möglich, dass sie nicht einmal mehr das geringste freundliche Gefühl für ihren eigenen Ehemann hegte?

Er hatte sie hintergangen! Er hatte ihr etwas gestohlen, etwas Wertvolles, etwas Unersetzliches! Er hatte ihr Vertrauen geraubt, und Gott allein wusste, ob sie es jemals wiedererlangen konnte, solange sie lebte.

Sie sehnte sich danach, ihrer Freundin ihr Herz auszuschütten. Doch sie konnte sich genau vorstellen, was Harriet sagen würde: Es ist schrecklich, meine Liebe, ich weiß. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Männer nun einmal so sind. Dies ist das erste Mal, dass Ned vom rechten Weg abkommt. Das Wichtigste ist jetzt, den Schein zu wahren. Niemand darf je den Eindruck bekommen, dass du unglücklich bist. Und das bedeutet, dass du ihm verzeihen musst, ja, Amy, das musst du. Und dann, meine liebe Amy, musst du dich doppelt anstrengen, um dafür zu sorgen, dass er glücklich ist und zu Hause und an deiner Seite bleibt.

Sie griff nach dem Brief in ihrem Morgenmantel. Doch der Brief war verschwunden. Seltsam, sie war sicher, ihn mit nach oben gebracht zu haben. Aber sie fand ihn nicht. Sie musste ihn unten im Teesalon liegen gelassen haben. Eilig beendete sie ihre Morgentoilette und hastete die Treppe hinunter. Sie musste herausfinden, wo sie den Brief liegen gelassen hatte, und ihn verbrennen, bevor Ned aufwachte und ihn fand.

Doch der Brief war nirgendwo. Weder im Sessel noch auf der Kamineinfassung noch auf dem Teewagen. Und niemand hatte ihn gesehen. Cook war bereits seit der Morgendämmerung in der Küche beschäftigt, und Jemma fütterte geduldig den kleinen Liam, indem sie Tropfen für Tropfen von einem Tuch, das sie in eine Mischung aus Milch und Zucker getaucht hatte, in seinen Mund beförderte.

Der Brief blieb verschwunden. Nun, wenn Ned ihn fand, dann sollte es wohl so sein. Sie hatte keine andere Wahl, als diese Entscheidung in Gottes Hände zu legen.

Sie hörte, wie Ned oben polternd seine Morgentoilette verrichtete, und nahm sich vor, erst einmal nichts zu sagen, wenn er die Treppe zum Frühstück herunterkam. Sicher waren seine Augen blutunterlaufen, und er würde über den Schmerz in seinem Kopf stöhnen und schlechte Laune haben. Sie würde warten. Aber worauf? Sie war entschlossen, dieses Kind zu behalten, und Ned konnte ebenso gut gleich von ihrem Entschluss erfahren, Kopfschmerzen hin oder her. Also setzte sie sich in den Schaukelstuhl im Esszimmer und erwartete ihn mit dem kleinen Liam im Arm.

Sie sah auf das pausbäckige Baby hinunter und betrachtete die runden, ernsten Augen, die auf sie gerichtet waren. Ein schönes Baby! Sie suchte nach Ähnlichkeiten mit … seinem Vater, konnte jedoch keine entdecken. Liam war einfach ein gesunder Säugling, der aussah wie alle Babys, die sie bisher kannte. In seinem Taufkleidchen – sie würde ihr eigenes aus der Truhe holen, das dort zwischen Lavendelsäckchen aufbewahrt wurde – würde er ganz genauso aussehen wie alle anderen.

Er wird sicher ein hübscher kleiner Bursche, und ein kluger noch dazu. Sie würde ihm das Lesen beibringen und die Namen sämtlicher Schiffe ihres Vaters. Er wird lernen, die Sternbilder zu erkennen. Sie werden lange Spaziergänge unternehmen, gemeinsam rechnen und singen. Sie konnte vor ihrem geistigen Auge sehen, wie sie Hand in Hand gingen und sie ihre Schritte, seinen kleinen Kinderschrittchen anpasste. Und er wird ihr Fragen stellen, wie kleine Jungen es eben taten, die sie allesamt beantworten wird. Natürlich wird er sich an der Pumpe schmutzig machen – schließlich zogen die Wasserpfützen alle Jungen an –, und sie wird ihm beibringen müssen, den Lieferfahrzeugen auszuweichen, wenn sie vorbeiratterten, und nicht in den Abwasserkanal zu treten, der in der Mitte der Straße verlief.

Mit geschlossenen Augen holte sie tief Luft und sog den süßen, milchigen Babygeruch ein, während sie ihn fester an sich drückte. In diesem Haus wird ein Kind die Treppen hinauf und hinunter laufen, wird zum Mann heranreifen – der Gedanke erfüllte sie mit einer so unermesslich großen Freude, die ihr den Atem zu rauben drohte.

»Was zum Teufel soll das hier bedeuten? Habe ich nicht klar und deutlich gesagt, dass ich dieses Balg nicht sehen will? Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dafür sorgen, dass er oben bleibt, wo er verdammt noch mal hingehört? Jemma! Kaffee! Sofort!«

Ohne sie oder das Kind auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, setzte er sich an das Kopfende des Tisches und hielt sich mit finsterer Miene den brummenden Schädel. »Bert Middagh hat gestern eine Flasche von seinem alten Port aufgemacht, und ich habe wohl einen Tropfen zu viel getrunken –«

»Eher mehrere, würde ich sagen.«

Mit gerunzelter Stirn wandte er sich ihr zu. »Wie?«

»Was, Ned?«

»Bist du taub? Ich will nichts von dem Bastard dieses Mädchens sehen, und mehr gibt es dazu nicht zu sagen!«

Amy stand auf, hielt das Baby an ihre Schulter gedrückt und sah schweigend zu, wie Jemma Ned das Frühstück servierte und ihm eine Tasse Kaffee einschenkte. Sobald sie verschwunden war, erwiderte Amy so entschlossen, wie sie nur konnte: »Doch, Ned, es gibt durchaus noch etwas zu sagen.« Verblüfft bemerkte sie, wie gelassen ihre Stimme klang. Nicht einmal der Anflug eines Zitterns lag darin, obwohl sie spürte, wie ihr Herz hämmerte. »Brigit ist weggelaufen und hat ihr Baby zurückgelassen, damit ich mich darum kümmere. Und ich werde mich darum kümmern.«

»Einen Teufel wirst du tun!«

»Ich werde es tun, Ned. Brigit hat keine Familie hier, und niemand wird mich dazu bringen, das Kind in ein Waisenhaus zu geben. Ich kann es nicht, und ich werde es auch nicht tun. Ich werde den Jungen hier behalten und mich um ihn kümmern, solange wir nach Brigit suchen. Und wenn wir sie gefunden haben –«

Ned schnaubte vor Wut. »Unsinn! Wenn du nicht so eine romantische Närrin wärst, kämest du nicht auf die Idee, dass Brigit irgendwo ist, wo du sie finden kannst. Sie hat uns benutzt, um ihren Bastard in Sicherheit zur Welt zu bringen, und jetzt ist sie wahrscheinlich schon auf halbem Weg nach Chicago, und zwar mit dem Vater dieses Balgs.«

Amy unterdrückte den Kommentar, der ihr auf der Zunge lag, konnte aber ein ironisches Lächeln nicht verhindern. »Zweifellos«, bestätigte sie mit der süßesten Stimme, die sie zustande brachte.

Ned musterte sie argwöhnisch aus zusammengekniffenen Augen. »Was gibt es in dieser Situation denn zu grinsen, Mrs. Tallant? Wir haben ein Kind hier, das wir nicht wollen. Je früher wir es dorthin bringen, wo es hingehört, desto besser ist es.«

»Es gehört hierher, Mr. Tallant. Das Kind braucht eine Mutter, und ich, Mr. Tallant, bin eine Frau, die ein Kind braucht. Komm her und sieh ihn dir an. Er ist ein hübscher, gesunder Bursche, und er hat schon jetzt einen recht kräftigen Griff. Du wirst bald lernen, ihn zu lieben, da bin ich mir sicher. Komm schon, Ned, willst du ihn dir nicht ansehen? Mit ein bisschen Fantasie könnte man meinen, dass er dir beinahe ein wenig ähnlich sieht.«

Ned zuckte zurück, als hätte er sich verbrannt. »Nein, bei Gott, das werde ich nicht!«, schrie er.

Erschrocken fuhr Liam zusammen und begann zu brüllen. Fluchend sprang Ned auf und schob seinen Stuhl so abrupt zurück, dass er zu Boden fiel.

»Mach, was du willst!«, fauchte er. »Das tust du doch ohnehin.«

»Das werde ich auch«, erwiderte Amy trotzig. »Und wenn wir Brigit nie mehr finden, dann soll es mir auch recht sein. Ich beabsichtige, diesen kleinen Jungen zu adoptieren und ihn zu meinem eigenen Sohn zu machen.«

Zornig kehrte er ihr den Rücken zu und stürmte hinaus. Im nächsten Moment fiel die Eingangstür mit einem so lauten Knall ins Schloss, dass Amy das Porzellan im Schrank klirren hörte. Aber nun hatte sie Liam, und das änderte alles.

Die Bemerkung, das Baby sehe ihm ähnlich, war boshaft und äußerst leichtsinnig von ihr gewesen. Wenn sie eines nicht wollte, dann, dass Ned auch nur eine Sekunde lang glaubte, sie verdächtigte ihn. Um aller Beteiligten willen würde sie dafür sorgen, dass die Ehe nicht zerbrach. Sie würde so perfekt simulieren, dass Ned nicht einmal im Traum auf die Idee käme, dass allein der Gedanke an eine Berührung von ihm Übelkeit in ihr aufsteigen ließ. Sie würde jedes ihrer Worte mit Bedacht wählen, und er würde ihre wahren Gefühle nie kennen lernen.

Das Haus der Geheimnisse

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