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August 1854

Brigit lag an der äußersten Kante ihres Bettes – es war ihr Bett – und kämpfte gegen ihre Wut an, gegen die Gedanken, die sich beständig in ihr Bewusstsein schoben, gegen die Tränen. Wie hatte Mrs. Tallant ihr etwas so Schreckliches antun können? Mrs. Tallant hatte gut reden – all dieses Geschwätz darüber, dass jeder, egal, ob Dienstbote, Sklave oder Lady, von Geburt an gleich vor Gott war. Aber ihre Gefühle konnten nicht aufrichtig sein, unmöglich, denn sonst hätte sie Brigit nicht so gedemütigt – Brigit, das Mädchen, von dem sie behauptete, es wie eine Schwester zu lieben!

Aber genug jetzt davon. Hatte sie sich nicht geschworen, nicht mehr darüber nachzudenken? Stattdessen würde sie sich auf die morgendlichen Geräusche konzentrieren: auf das Singen der Vögel vor ihrem Fenster an diesem schönen Sommermorgen, auf das Gurren der Tauben, auf die Pfiffe der Kardinalsvögel und auf den wunderbaren Ruf des Schreienden Ziegenmelkers, der so klar und rein ist wie ein Gebirgsbach, der über die Felsen sprudelt. Außer dem gelegentlichen Geräusch der Pferdekutschen, die irgendwelche Waren anlieferten, störte nichts die Ruhe dieser frühen Morgenstunde in der Pomegranate Street.

Nicht gut, überhaupt nicht gut. Die Vögel waren fröhlich, doch Brigit O’Neal war es nicht. Brigit O’Neal fühlte sich erbärmlich. Erbärmlich und unglücklich, und zwar zu Recht. Verraten hatte man sie. Auch Noras Worte, sie sollte für alles dankbar sein, was der liebe Gott ihr geschenkt hatte, nützten nichts. Lieber Gott, vergib mir, dass ich nicht anders kann. Ich bin dankbar, dass ich nicht wie Mary auf einem Feldbett in der Küche oder wie Peg in einer heißen Dachkammer ohne Fenster schlafen muss. Dass ich ein Zimmer mit einem Fenster habe, durch das ich den Himmel und die Wolken sehen kann, und sogar einen Spiegel in einem Messingrahmen.

Aber es war entsetzlich! Entsetzlich! Und sie ertrug es inzwischen seit beinahe drei Monaten. In diesem Augenblick begann sich die Gestalt neben ihr im Bett zu rühren und wandte ihr das Gesicht zu. Brigit spürte, wie ihr Fleisch regelrecht zu schrumpfen begann. Sie wollte nicht, dass die Gestalt noch näher kam. Was, wenn sie sie zufällig berührte? Igitt! Wie hatte Mrs. Tallant ihr das nur antun können? Zu erlauben, dass ein Niggermädchen das Zimmer mit ihr teilte. Ihr Zimmer, ihr eigenes Bett! Jemma war eine entlaufene Sklavin! Na und? Wen kümmerte das schon?

Vielleicht war es ja eine freundliche und noble Geste, wenn man Sklaven rettete, denen es gelungen war, vor ihren grausamen Herrn zu flüchten. Es ging das Gerücht, dass man Flüchtlingen in der Plymouth Church in der Nähe der Orange Street regelmäßig Unterschlupf gewährte. Mrs. Tallants Kirche. Brigit hatte keinen Zweifel daran. Predigte nicht dieser Reverend Henry Ward Beecher dort und forderte jeden Sonntag das Ende der Sklaverei? Und hörte sie nicht jeden Sonntag, wenn sie das Abendessen servierte, dass wieder und wieder darüber gesprochen wurde?

Henry Ward Beecher, dieser faszinierende und geschickte Redner. Allein beim Gedanken an ihn musste sich ein gutes katholisches Mädchen bekreuzigen. Sie hatte ihn schon oft gesehen, hier in diesem Haus, hatte ihm das Essen serviert. Kein Zweifel, der Mann hatte eine Art zu reden, mit der er einen alles glauben machen konnte. Einmal hatte sie sich sogar selbst dabei ertappt, wie sie hinter der halb geöffneten Küchentür gestanden, ihm gelauscht und ihn wie gebannt angestarrt hatte, unfähig, sich zu bewegen, wie ein Kaninchen vor der Schlange. In der nächsten Sekunde war sie weggelaufen, als wäre der leibhaftige Teufel hinter ihr her – möglicherweise war es ja so –, war auf die Knie gefallen und hatte darum gefleht, der Herr möge sie vor diesem calvinistischen Verführer beschützen.

O ja, und dieser Reverend Beecher brachte all die Damen so auf und zog Mrs. Tallant so sehr in seinen Bann, dass sie nicht anders konnte, als ein Exempel zu statuieren: »Ich nehme eine entlaufene Sklavin bei mir auf und gebe ihr Arbeit und ein angenehmes Zuhause.« Und wer hatte nun diesen dunkelhäutigen Affen neben sich im Bett liegen? Ganz bestimmt nicht Mrs. Amy Tallant! Nein, natürlich Brigit O’Neal! Denn Brigit O’Neal war ein Nichts! Sie lebte in diesem Haus, sie schuftete wie ein Pferd, um dafür zu sorgen, dass alles so war, wie die Herrin es wollte. Aber Brigit O’Neal war ja kein Mitglied der Familie. Sie hatte all die Arbeit und keinerlei Vergnügen. Was war sie hier? Ein Nichts. Sie war keinen Deut besser dran als dieses schwarze Mädchen mit ihrem seltsamen Geruch und dieser eigentümlich schleppenden Art zu reden. Sie war kein bisschen besser als ein Nigger! Oh, und immer wenn Mrs. Tallant sie das Wort »Nigger« sagen hörte, fiel sie ihr ins Wort. »Dir gefällt es doch auch nicht, wenn die Leute dir irische Schimpfwörter geben, oder, Brigit? Nun, die schwarzen Menschen wollen das auch nicht. Sie haben Gefühle, genauso wie du. Neger, so nennt das eine Lady. Und denk daran, Brigit«, fügte sie hinzu, »was für ein gutes Werk du tust, indem du Jemma beibringst, wie wir die Dinge in diesem Haushalt erledigen.«

Wenn Mrs. Tallant Jemma für so wunderbar hielt, dann konnte doch sie ihr alles beibringen und sie jede Nacht in ihrem Bett schlafen lassen! In ihrem Ehebett war doch weiß Gott Platz genug, nachdem Mr. Tallant sich nicht mehr darin sehen ließ. Und davon abgesehen war Jemma sowieso nicht der Ansicht, dass sie irgendetwas zu lernen brauchte. Sie spielte sich gegenüber Brigit als Herrin auf, weil sie auf einer großen Plantage gearbeitet hatte. Als Haushälterin, so bezeichnete sie sich selbst wichtigtuerisch.

»Daheim ham wir nie die Hände an der Schürze abgewischt«, sagte sie. »Daheim hab ich zwei Negerkinder gehabt, die ham sich drum gekümmert, dass das Feuer den ganzen Tag gebrannt hat«, oder: »Daheim ham wir Dinnerpartys gegeben, wo fünfzig Leute am Tisch gesessen ham. Dilcey hat an einem Nachmittag dreihundert Brötchen gebacken und einen ganzen Stall voller Hühner gebraten.«

Ewig schwadronierte sie von daheim, bis Brigit endlich einmal der Geduldsfaden riss. »Wenn es daheim so schön war, warum bist du dann weggelaufen?«

Das hat gesessen! Sie wich zurück, als hätte sie eine Ohrfeige bekommen, und dann wandte sie den Kopf ab, so dass Brigit ihr Gesicht nicht sehen konnte. »Sie haben mein Baby verkauft«, murmelte sie mit leiser Stimme.

Genau wie in Onkel Toms Hütte. Da hatte Brigit Mitleid mit der armen Jemma. Aber das änderte nichts! Jemma mochte vielleicht ein armes Ding sein, aber sie war und blieb eine Niggerin.

Allein beim Gedanken daran, wie Jemma ins Haus gekommen war und sich damit alles verändert hatte, wurde Brigit übel.

Diese verdammte Negerin! Sie musste eine Krankheit eingeschleppt haben, und jetzt hatte Brigit sie sich eingefangen. Es konnte keinen anderen Grund geben! Es sei denn – bei diesem Gedanken drohte ihr das Blut in den Adern zu gefrieren –, es sei denn, Gott möge es verhindern, sie hatte die Cholera.

In Vinegar Hill war erst kürzlich die Cholera oder so etwas Ähnliches ausgebrochen. Wenn sie nur noch einmal davonkommen würde, dann würde sie nie wieder dort hingehen. Lieber Gott, lass es nur nicht die Cholera sein, bitte das nicht! Eine Verdauungsstörung, das musste es sein. Sie hatten eine neue Köchin, deren Essen sie offenbar nicht vertrug.

Plötzlich konnte sie es nicht mehr zurückhalten. Eine Hand vor den Mund gepresst, sprang sie aus dem Bett, beugte sich über den Nachttopf und begann heftig zu würgen. Doch es kam nichts als ein wenig widerlich schmeckende Galle, die ihr in Mund und Nase brannte. Sie wäre am liebsten gestorben.

Irgendwo über ihr war ein Geräusch zu hören. Jemma! Wenn es eines gab, das sie im Moment nicht brauchte, dann waren es diese dunklen, zornigen Augen, die sie anstarrten. Kein Wunder, dass ihr so schlecht war, wo diese Niggerin sie mit diesen Augen anstarrte.

Schließlich verebbte die Woge der Übelkeit. Zitternd vor Schwäche griff sie nach dem Bettpfosten und kam mühsam wieder auf die Beine. Das Erste, was sie sah, waren Jemmas zusammengekniffene Augen, die sie ansahen, als wäre sie eine Gans, die die Köchin prüfend musterte, ob sie schon reif für den Bratspieß war.

»Ich weiß, was dir fehlt, Mädchen. Du hast ’n Brötchen im Ofen.«

»Halt den Mund, du dumme Äffin. Was weißt du schon davon?«

»Du nennst mich dumme Äffin. Das soll wohl ’n Witz sein. Ich bin klug genug, um zu wissen, dass du ’n Kind kriegst, Missy!«

Wie konnte sie es wagen! Brigit hob die Hand und verpasste der dämlichen Kuh einen Schlag. Aber es stimmte. Sie hatte versucht, den Gedanken beiseite zu schieben, doch sie wusste es.

»Mich brauchst du nich zu schlagen! Ich hab’s nich getan!« Jemma warf den Kopf in den Nacken und lachte fröhlich, wobei sie ihre riesigen weißen Zähne entblößte. Brigit spürte, wie eine Woge des Zorns in ihr aufstieg. Wie konnte ein Niggerweib wagen, ihr ins Gesicht zu lachen? Mit geballten Fäusten ging sie auf Jemma los.

»Ich bring dich um, ich schwöre es!«

Doch Jemmas Hände schössen nach vorn, und in Bruchteilen von Sekunden hielt sie Brigits Handgelenke wie in einem Schraubstock umfangen.

»Nur Ruhe, Missy. Dieses verrückte Gerede, dass du mich umbringen willst, wird dir nichts nützen. Hör zu.« Sie sah Brigit ins Gesicht. Was auch immer sie darin erkannte, schien sie zu beruhigen, denn sie lockerte ihren Griff und ließ schließlich Brigits Hände vollends los. »Ich weiß, wie du’s loswerden kannst. Keine Angst, ich hab das schon oft gemacht. Für viel feinere Ladys als dich.«

Brigit massierte ihre Handgelenke und starrte zu Boden, während sie fieberhaft nachdachte. Sie konnte es loswerden! Aber dafür würde sie für ewig in der Hölle schmoren, weil es eine Todsünde war. Gott würde es wissen. Gott sah jeden, in jeder einzelnen Sekunde, und ganz bestimmt würde sie für den Rest ihres Lebens und für alle Ewigkeit dafür bestraft werden. Aber wenn sie es nicht tat, dann würde Mrs. Tallant sie zweifellos auf die Straße setzen. Tränen stiegen in ihren Augen auf. Vor dieser Niggerin!

»Du brauchst gar nich zu heulen, Missy!«, sagte Jemma. »Das wird dir auch nichts nützen. Du langst einfach unter die Matratze, wo deine kleine Geldbörse liegt. Und du gibst mir dein ganzes Geld, und bevor du weißt, wie dir geschieht, is alles vorbei.«

»Halt den Mund. Es ist eine Sünde, eine Todsünde.«

»Und was wird aus dir, wenn du’s nicht tust?« Sie lachte wieder. »Miz Amy behält kein Mädchen mit’m Baby, wenn sie nich verheiratet is. Miz Amy wird dich raus werfen, und am Ende kommst du ins Freudenhaus, ganz bestimmt.«

»Verdammt noch mal, halt den Mund!« Brigit schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Sie konnte die Tränen nun nicht länger zurückhalten. Schon beim ersten Mal, als Mr. Tallant ihre Hand genommen hatte, war ihr klar gewesen, dass sie ein böses Mädchen war. Und nun bestrafte Gott sie dafür.

Vielleicht war sie zu vertrauensselig und dumm. Aber wie hätte sie Mr. Tallants Gewohnheiten im Auge behalten sollen? Normalerweise verließ er das Haus bereits vor acht Uhr, um die Fähre zur South Street zu nehmen, und kam niemals vor vier oder fünf Uhr nachmittags zurück. Kein Gentleman, der auf der anderen Seite des Flusses arbeitete, nahm die Mühe auf sich, zum Mittagessen nach Hause zu kommen, da die Wege viel zu lang waren. Doch nach einiger Zeit fiel ihr auf, dass er mehrmals pro Woche früher nach Hause kam.

Sie polierte die Esszimmermöbel, und plötzlich stand er da. Um zwei Uhr nachmittags. Er war nicht betrunken. Selbst wenn ein Mann es noch so geschickt zu verbergen versuchte, konnte sie ganz genau sagen, ob er angetrunken war oder nicht. Er unterhielt sich mit ihr und machte sich dann wieder auf den Weg.

Ein andermal machte sie den Salon sauber und sah ihn plötzlich in einem der Sessel sitzen. Sie war zu Tode erschrocken. Sie hatte eine kleine Melodie vor sich hingesummt und ihren Gedanken nachgehangen, und urplötzlich war er da. Als er ihren Aufschrei hörte, grinste er und bemerkte, was für eine hübsche Stimme sie doch hätte und warum sie nicht das Lied für ihn zu Ende singen wolle.

Und eines Tages, als sie gerade die Kissen im Schlafzimmer der Tallants aufschüttelte, fiel der Groschen. Entsetzt hielt sie inne. Heiliger Jesus, Maria und Josef, der Mann kam sonst nie an einem Mittwochnachmittag nach Hause, wenn Mrs. Tallant ihre Freundinnen empfing, sondern nur, wenn sie ausgegangen war. Warum sollte ein Mann nach Hause kommen, wenn er doch genau wusste, dass seine Frau nicht da war? Es konnte nur einen Grund dafür geben.

Nimm dich nicht zu wichtig, Mädchen, ermahnte sie sich. Sie kommen eben einfach nicht besonders gut miteinander aus. Schon so viele Male hatte sie abends gehört, dass er die Stimme gegen sie erhoben hatte. Man brauchte nicht besonders klug zu sein, um zu erkennen, wann ein Mann und eine Frau uneins waren, wenn man unter demselben Dach lebte.

Es entging Brigit nicht, dass er offenbar ihre Nähe suchte und sich immer länger mit ihr unterhielt, sie mit kleinen Scherzen neckte und ihr sogar in Seidenpapier verpackte Süßigkeiten mitbrachte. »Süßes für die süße Brigit O’Neal.« Bei diesen Worten hämmerte ihr Herz so laut, dass er es gehört haben musste. Er war ein so gut aussehender, gepflegter Mann, groß und breitschultrig und so elegant gekleidet. Wie eine Abbildung aus einem Buch, genauso war er.

Brigit hatte schon viele Geschichten über unschuldige Dienstmädchen gehört, die von ihren Arbeitgebern verführt und dann ruiniert worden waren. Sie hatte sogar ein solches Mädchen kennen gelernt: Peggy McGuire, mit der sie über Koboldgeschichten gekichert hatte, als sie noch junge Dinger gewesen waren. Sie hatte sich drüben in New York in den Sohn des Hauses verliebt, sich von seinen Schmeicheleien einwickeln lassen und seinen Versprechungen geglaubt. Zuerst war Peggy McGuire in Ungnade gefallen, und das Letzte, was man von ihr gehört hatte, war, dass ihr Baby in einem Waisenhaus lebte und Peggy wie vom Erdboden verschluckt war. Einige meinten, sie wäre vor Verzweiflung in den East River gesprungen. Aber Brigit würde das nicht passieren! Sie würde diesen Fehler nicht machen! Also ging sie ihm anfangs aus dem Weg. Doch sie musste zugeben, dass sie immer mit einem Ohr auf seine Schritte lauschte. Manchmal lief sie rasch in ein anderes Zimmer, an anderen Tagen blieb sie mit hämmerndem Herzen stehen und wartete auf ihn.

Eines Nachmittags fand er sie in Mrs. Tallants Salon, wo sie Staub wischte. Dieses Mal verlor er keine Zeit, sondern trat neben sie und legte ihr seine Hand auf den Arm. Seine Berührung ließ ihr den Atem stocken. Sie konnte sich nicht vom Fleck rühren, selbst wenn sie es gewollt hätte. Aber sie wollte es gar nicht mehr. Sie wollte … sie wusste selbst nicht, was.

»Brigit, ich kann einfach nicht anders. Ich muss es sagen. Ich muss mein gequältes Herz erleichtern. Deine Augen, diese Augen von reinstem Grün, wie Smaragde. Dein schimmerndes schwarzes Haar. Ich träume ständig von dir, und wenn ich wach bin und du nicht in meinen Armen liegst, dann bricht es mir beinahe das Herz …«

Plötzlich bekam ihre Phantasie Flügel, und sie malte sich aus, wie sie in einer Kutsche saß … in einem Ballkleid im selben Eisblau wie dem von Mrs. Tallant … wie sie am Arm dieses hoch gewachsenen, gut aussehenden Mannes die Fifth Avenue entlangspazierte. Doch sie riss sich von ihren Gedanken los, trat einen Schritt zurück, so dass seine Hand nicht länger ihren bloßen Arm berührte.

»Bitte, Mr. Tallant, sagen Sie so etwas nicht.«

»Aber Brigit, du bist einfach unwiderstehlich. Eine wahre Flut von Gefühlen ergreift Besitz von mir, die nichts und niemand jemals aufhalten kann. Deine süße Stimme ist wie Sirenengesang, der mich zu dir ruft, wo auch immer ich gerade bin. Brigit, Brigit, du musst –« Er streckte die Hände nach ihr aus, worauf sie erschrocken aus dem Zimmer floh. Sie lief die Treppe hinauf in ihr Zimmer und verriegelte die Tür hinter sich.

Lange Zeit stand sie in der Erwartung da, seine Schritte heraufkommen zu hören. Doch er folgte ihr nicht. Schließlich trat sie von der Tür zurück, eine Hand auf ihr wild pochendes Herz gelegt. Oh, allein der Gedanke daran, dass ein so feiner Herr sie wollte! Wie jener schöne Prinz in dieser Geschichte, der gekommen war, um Aschenbrödel zu holen! Oh, sie wollte seine Arme spüren, seine Lippen auf den ihren, sie wollte alles. Alles.

Aber sie konnte nicht, sie durfte nicht. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte jemand ihr so viel Freundlichkeit entgegengebracht wie Mrs. Tallant. Gütiger Gott, sie lernte sogar Lesen und Schreiben von ihr! Als sie vor vielen Jahren zu ihrem Vater gesagt hatte, sie würde gern Lesen und Schreiben lernen, hatte die Antwort aus einer schallenden Ohrfeige bestanden. Mrs. Tallant hatte sie niemals geschlagen, kein einziges Mal, sie hatte ihr niemals gedroht oder auch nur die Stimme erhoben. Mrs. Tallant war die Güte in Person. Sie durfte sich nicht mit Mrs. Tallants Ehemann einlassen. Es gab nichts auf der Welt, das sie tun könnte, um sich jemals wieder von dieser Sünde reinwaschen zu können. Voller Inbrunst betete sie an diesem Nachmittag um die Kraft, seinen Schmeicheleien – ihren eigenen Bedürfnissen – zu widerstehen.

So ging es Woche um Woche. Doch es war nicht so, dass er seine Idee verworfen hätte. Während all dieser Wochen wusste sie nie, wenn sie um die Ecke bog, ob er nicht dastehen, sie anlächeln, sie berühren und diese süßen Dinge zu ihr sagen würde. Sie musste ihre gesamte Kraft aufwenden, um bei ihrem Nein zu bleiben, ihn hoch erhobenen Hauptes einfach stehen zu lassen und so zu tun, als empfände sie nichts.

Und dann musste Mrs. Tallant diese Niggerin zu ihr ins Bett legen. Das war zu viel. Sie hatte diese Frau wirklich geliebt, aufrichtig geliebt. Sie hatte sie geliebt und ihr vertraut, und was hatte sie getan? Wie hatte sie das nur tun können?

Deshalb sagte sie nun nicht mehr Nein, als Ned Tallant seine Hand über ihre Wange gleiten ließ. Stattdessen wandte sie sich ihm zu und sank mit hämmerndem Herzen in seine Arme, während ihr Inneres plötzlich zu schmelzen schien und die Lust in ihren Lenden zu pochen begann.

Lachend wie ein Schuljunge hob er sie auf seine Arme und trug sie die vielen Stufen hinauf in ihr Zimmer, wo er die Tür verriegelte. Sie war so vollkommen berauscht von ihrem Glück, dass sie später nicht einmal mehr genau wusste, was geschehen war. Die Liebe, endlich! Sie wusste nicht, was sie tun sollte, doch das brauchte sie auch nicht. Er tat alles … mit zitternden Fingern zog er sie aus, küsste ihre Arme und Schultern – eine Geste, die sie zutiefst rührte. Wenn seine Hände so vor Erregung zitterten, musste er sie einfach lieben. Als er seinen Kopf neigte, um ihre Brüste zu küssen, drohten ihr die Sinne zu schwinden.

Und dann war plötzlich alles anders. Sein Atem wurde schneller, und er schob sie aufs Bett, so dass sie auf dem Rücken lag. Dann riss er sich die Hosen vom Leib – so schnell! –, spreizte ihre Beine mit seinem Knie und ließ sich auf sie fallen. Sie protestierte. Er war so schwer, dass sie unter seinem Gewicht kaum Luft bekam. Doch er schien sie nicht zu hören. Seine Augen waren geschlossen, und zwischen seinen Brauen hatte sich eine tiefe Falte gebildet, so konzentriert war er. Und er tat ihr weh, zwängte seine große, dicke Männlichkeit in sie hinein. Es schmerzte! Oh Gott, wie sehr es schmerzte! Auf einen Schlag war die Süße verschwunden. Das hier war einfach entsetzlich, so schrecklich, und niemand hörte ihre verzweifelten Schreie.

Also stimmt es, was Ma mir erzählt hat, dachte sie später, nachdem er sie auf den befleckten und zerknitterten Laken zurückgelassen hatte. Für Frauen war es kein Vergnügen.

Wären da nicht seine sehnsuchtsvollen Hundeblicke gewesen, die er ihr ständig zuwarf, egal, wer gerade in der Nähe war, hätte sie es nie wieder getan. Aber er wollte sie so sehr, dass sie ihm einfach nicht widerstehen konnte. Und so hatte er ein Dutzend Male während der vergangenen zwei Monate an ihre Tür geklopft, wenn sie allein war. Danach hatte er sich auf den Rücken gedreht und mit ausgestreckten Armen, geschlossenen Augen und einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht dagelegen. Während sie die Gewissheit genossen hatte, diese Art von Macht über ihn zu besitzen.

Macht! Unwillkürlich musste sie über ihre eigene Dummheit lachen. Das hatte sie nun von ihrer so genannten Macht: sich jeden Morgen in eine Schüssel zu übergeben, bei der nachmittäglichen Stopfarbeit einzuschlafen und beim bloßen Geruch von Fleisch die Übelkeit in sich aufsteigen zu fühlen – auf einen Schlag war ihr Leben von Grund auf verändert, es war ruiniert!

Was ist nur mit Brigit los?, fragte sich Amy. Sie beugte sich vor, schob ein paar der krausen Blätter beiseite und suchte nach reifen Tomaten, die Cook, die Köchin, zum Abendessen zubereiten sollte. Was passte besser zu einer schönen Lammkeule als frisches Sommergemüse aus dem eigenen Garten? Sie richtete sich auf und legte ihre Hand auf die Stelle an ihrem Rücken, die ein wenig zu schmerzen begonnen hatte. Sie und Brigit arbeiteten bereits seit mehr als zwei Stunden im Garten, und langsam wurden ihre Glieder steif. Sie sah zu dem Mädchen hinüber, das mit trübseliger Miene Lilien und Stockrosen in einen Korb legte. Was quälte sie nur so sehr? Plötzlich hatte sie an allem sämtliches Interesse verloren. Sie las nicht mehr laut, nicht einmal mehr in ihrem Lieblingsbuch, Godeys Großes Buch für Frauen. Ebenso wenig schien sie sich dafür zu interessieren, Fortschritte beim Schreiben zu machen, und sie hatte sogar aufgehört, ihre kleinen irischen Melodien bei der Arbeit zu singen.

In der Hoffnung, dass ein oder zwei Stunden an der frischen Luft sie ein wenig aufmuntern würden, hatte Amy vorgeschlagen, in den Garten zu gehen, obwohl das Silbergeschirr dringend poliert werden müsste. Doch es hatte nicht geholfen. Es gelang ihr einfach nicht, Brigit ein Lächeln zu entlocken. Was war nur mit ihr los?

Plötzlich glaubte sie zu verstehen. Natürlich! Ihr Verehrer. Danny, der Schlachtergeselle. Die wahre Liebe verläuft nie einfach und reibungslos, hieß es nicht so? Sie mussten sich gestritten haben. Aber wo sie jetzt darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass sie Danny schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen hatte. Vielleicht brauchte das Mädchen mitfühlenden weiblichen Beistand, um sich wieder besser zu fühlen.

»Brigit, stimmt irgendetwas mit dir und deinem Verehrer nicht?«

»Welchem Verehrer?« Abrupt hob Brigit den Kopf.

»Nun, Danny Meara, natürlich.«

»Danny Meara ist ein Kind, ein kleiner Junge, ein dummer kleiner Junge, sonst nichts.«

Ohne jede Vorwarnung begann sie gleichzeitig zu lachen und zu weinen, stieß ihren Korb beiseite und lief ins Haus, wobei sie ihre Röcke raffte, um sich schneller bewegen zu können.

Wie seltsam! Wie seltsam und untypisch für Brigit, die doch eigentlich der Inbegriff des reizenden, zuvorkommenden Dienstmädchens war. Amy nahm sich vor, später mit ihr zu reden. Vielleicht brütete sie irgendetwas aus? Sie sah zwar so kräftig aus wie sonst, wirkte jedoch ein wenig blass und niedergeschlagen.

Amy war zu Recht stolz darauf, dass sie ihren Haushalt mit großer Ruhe und Tüchtigkeit führte. All ihre Freundinnen bewunderten die Leichtigkeit, mit der alles in ihrem Haus in der Pomegranate Street zu ihrer Zufriedenheit erledigt wurde. »Es ist immer so sauber«, hatte Harriet erst kürzlich bemerkt. »Bei dir riecht es immer nach Sauberkeit. Meiner bescheidenen Meinung nach gehst du nicht streng genug mit deinen Dienstboten um, aber gut. Schließlich scheint es ja trotzdem zu funktionieren. Und ich muss zugeben, dass du doppelt so viel an einem Tag schaffst wie wir anderen. Ich schwöre dir, Amy Tallant, du bist ein wahres Wunder, was auch immer dein Geheimnis ist.«

»Du darfst nicht vergessen, dass ich keine Kinder habe, die mich beschäftigen«, hatte Amy erwidert, obwohl allein der Gedanke sie schmerzte. Ständig. Sie war unfruchtbar. Inzwischen waren sie seit zwei Jahren verheiratet, und noch immer gab es nicht das geringste Anzeichen, dass sie schwanger war. Die Vorstellung, für immer kinderlos bleiben zu müssen – ein Umstand, der sie bei anderen Frauen stets mit großem Mitleid erfüllt hatte –, stellte eine unbeschreibliche Belastung für sie dar. »Ich bin ein brach liegendes Feld, unfähig, irgendetwas gedeihen zu lassen«, hatte sie traurig zu Harriet gesagt.

Aber Harriet hatte nicht so mitfühlend und liebevoll wie sonst reagiert. »Sei froh, meine Liebe. Ich bin schon wieder unpässlich, und allein beim Gedanken daran verlässt mich der Mut. Ich nehme ein Stärkungsmittel. Schon siebenmal, wie du nur zu gut weißt, habe ich das durchgemacht. Siebenmal, und nur ein einziges Kind, das am Leben ist. Sechs meiner Kinder habe ich in einem Sarg liegen sehen. Ich habe mir geschworen, dass mir das nicht noch einmal passiert. Und jetzt, sieh mich an! Oh Gott, Amy, ich schwöre, eine Frau zu sein, diesen Frauenkörper zu haben, ist nichts als eine schwere Last.«

Amy hatte großes Verständnis für die Qual ihrer Freundin. Aber sie, die nicht empfangen konnte, musste jeden Tag erleben, wie ihr Herz vor Sehnsucht nach einem eigenen Kind zu zerbersten drohte. Und ihr Versagen hatte verheerende Auswirkungen auf Ned. Nach zwei Jahren Ehe hatte er gehofft, einen Sohn, vielleicht sogar schon zwei zu haben. Sie wusste, dass er schwer enttäuscht von ihr war.

Mit jedem Monat, in dem sie nicht schwanger wurde, blieb er länger und länger fort und kehrte weniger und weniger in ihr eheliches Bett zurück. Und mit jedem Monat, der verging, kam er betrunkener nach Hause.

Tränen brannten in ihren Augen, die sie jedoch rasch unterdrückte. Sie hatte sich sogar der Qual und Demütigung ausgesetzt, einen Gynäkologen aufzusuchen. Sein Name war Dr. Abraham Miller, und seine Praxis lag in der Clinton Street – jenem Teil zwischen der State und der Livingston Street, wo sich so viele Arztpraxen befanden, dass er von den Leuten als Straße der Mörder bezeichnet wurde. Keine Frau ging gern freiwillig zu einem Gynäkologen. Allein der Gedanke an das von trübem Licht erhellte Zimmer, das raue Laken auf ihrem Körper, die Schande der Untersuchung und an diese Hände, die die intimsten Stellen an ihrem Körper erkundeten! Entsetzlich!

Aber sie musste einfach wissen, weshalb sie kein Kind bekam. Sie musste ihre Skrupel beiseite schieben und einen Arzt aufsuchen. Nachdem das Unvorstellbare vorüber war, zuckte der Arzt mit den Schultern und sagte: »Ich finde keinen Grund, Mrs. Tallant, weshalb Sie keine Kinder bekommen können. In diesen Dingen müssen wir Gottes Willen hinnehmen.«

Natürlich war es manchmal entsetzlich schwer, diese Last zu tragen. Selbst wenn sie sich in ihrem Garten umsah, wurde sie schmerzlich an ihr Versagen erinnert. Ihre Feigen- und Aprikosenbäume hingen voller Früchte. Ihre Tomatenpflanzen drohten unter der Last des heranreifenden roten Gemüses umzusinken. Jedes Tier schien sich um die Aufzucht seiner Nachkommenschaft zu kümmern: die Katzen, die Hunde, die Eichhörnchen, sogar die Vögel! Nur sie allein litt unter diesem Fluch!

Doch sie war wild entschlossen, gegen ihr Selbstmitleid anzukämpfen. Wenn Gott wollte, dass Amy Benedict Tallant keine Kinder bekam, dann würde sie sich der Aufgabe widmen, das Leben anderer Menschen leichter zu machen.

Sie hatte bereits damit begonnen, Jemma im Lesen und Schreiben zu unterrichten. Vielleicht könnte sie eine kleine Schule für entlaufene Sklaven gründen. Vielleicht sämtlichen Dienstmädchen Unterricht erteilen. Oder sie griff wieder einmal zur Feder und verfasste ein Pamphlet für die Durchsetzung der Frauenrechte. Etliche ihrer Freundinnen hatten sie bereits darum gebeten, mehr als einmal schon. Zwei von ihnen waren nach Seneca Falls gefahren und hatten der Abgabe der ersten Erklärung der amerikanischen Frauenrechtsbewegung durch Elizabeth Cady Stanton und Lucretia Mott beigewohnt. Wie sehr sie sich wünschte, ebenfalls dort gewesen zu sein! Doch sie hatte darauf verzichtet, da sie nur allzu gut wusste, dass dies eine neuerliche Auseinandersetzung mit Ned provoziert hätte.

Die Freiheit der Frauen war ohne jeden Zweifel wichtig. Dennoch war in ihren Augen die Abschaffung der Sklaverei im Moment eindeutig das vordringlichste Thema. Das entsetzliche Schicksal der Sklavinnen weckte ganz besonders große Empörung und Zorn in ihr. Sie waren in zweifacher Hinsicht versklavt: Erst vor kurzem hatte Jemma ihr anvertraut, dass sie von ihrem Herrn gezwungen worden war, sich ihm hinzugeben, wann immer ihm der Sinn danach gestanden hatte.

»Und auch der Aufseher«, hatte sie Amy mit gesenktem Kopf und zitternder Stimme gestanden. »Ich hab diesen Aufseher gehasst. Meistens war er betrunken, und ich war auch nich das einzige Mädchen, das er reingerufen hat. Aber als ich mein’n Kleinen bekommen hab, da hab ich das Gesicht von dem Mann nich drin sehen können. Er war einfach nur ’n süßes, kleines Baby, das nich darum gebeten hat, auf die Welt zu kommen. Oh, Miz Amy, er war so schön, und sie ham ihn mir weggenommen, sobald er entwöhnt war. Er hat so jämmerlich geweint. Oh, Miz Amy –« Und dann war sie in bittere Tränen ausgebrochen.

Es war schrecklich, schockierend und so unsagbar ungerecht. Amy kannte viele solcher Geschichten. Mr. Beecher war eine der führenden Figuren in der Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei, und seine Predigten kündeten ständig vom Grauen der Sklaverei. Aber es aus dem Mund eines hilflosen Mädchens zu hören, das höchstens sechzehn Jahre alt war, hatte sie vor Zorn und Mitleid beben lassen. Nichts, was sie je in ihrem Leben gehört hatte, berührte sie in diesem Maß.

Als sie nun mit ihrem vollen Korb zum Haus zurückging, dachte sie über ihre Dienstboten nach. Wie sich herausstellte, war es eine äußerst interessante Erfahrung, eine entlaufene Sklavin aufgenommen zu haben. Manchmal hatte sie das Gefühl, als wäre Jemma sehr viel mehr eine Fremde als Brigit. So besaß sie beispielsweise eine ganze Sammlung an Zaubern: Hasenfüße, bestimmte Arten von Steinen oder kleine Gewürzsäckchen. Und wehe ihr, wenn sie deren Wirksamkeit in Frage stellte, selbst wenn sie die Herrin war. Doch der Gerechtigkeit halber musste gesagt werden, dass Jemma nicht die einzige Dienstbotin mit ein wenig seltsamen Ansichten in ihrem Haus war. Auch Brigit und Cook, die Köchin, hielten eisern an irgendwelchen unkultivierten Vorstellungen fest. Zwischen Brigit, die sich nach wie vor standhaft weigerte, in einem Schlafzimmer ein Fenster zu öffnen, weil sie glaubte, dies öffne Krankheiten Tür und Tor, und Cook, die beim Anblick von frischem Obst und Gemüse, das Amy tagtäglich aus dem Garten hereinbrachte, angewidert das Gesicht verzog, war es für sie als Hausherrin manchmal nicht ganz einfach, dafür zu sorgen, dass die Dinge auf einigermaßen moderne Art und Weise erledigt wurden.

Aber all das war doch letzten Endes die Mühe wert? Sie liebte das Haus, von ganzem Herzen sogar. Und als sie nun den Kopf hob und die Fenster des Salons betrachtete, freute sie sich über die Maßen darüber, dass dieses Haus mit seinen schönen Einrichtungsgegenständen ihr gehörte. Dass es ihr Zuhause war. Obwohl sie es niemals jemandem erzählen würde, schlenderte sie häufig von Zimmer zu Zimmer, berührte diesen Tisch oder jenes Bild, ließ ihre Hand über den Damast oder Brokat oder Samt eines Stuhls, eines Kissens oder eines Vorhangs gleiten und erfreute sich in einem Maß daran, dass es gewiss eine Sünde war.

Sie nahm den schweren Korb auf und rüstete sich innerlich, Cook ein weiteres Mal zu erklären, dass Gemüse laut der neuesten Erkenntnisse der Ernährungslehre sehr gesund sei und täglich gegessen werden müsse – was auch, so entsetzlich es sein mochte, die Tomaten mit einschloss. Die arme Cook, sie war schon so alt, dass sie sich noch daran erinnern konnte, wie man ihr als Kind erzählt hatte, die »Liebesäpfel« seien giftig. Deshalb war es nahezu unmöglich, sie von den neuesten hauswirtschaftlichen Methoden und Denkansätzen zu überzeugen.

Doch als sie die Küche betrat, war Cook nirgendwo zu sehen. Stattdessen saß Brigit vornüber gebeugt an dem geschrubbten Eichentisch und schluchzte bitterlich.

»Meine liebe Brigit. Was ist nur los mit dir?« Amy stellte den Korb ab, eilte zu dem Mädchen hinüber, setzte sich neben sie und legte ihr einen Arm um die Schultern.

Doch als einzige Antwort war nur neuerliches Schluchzen zu hören.

Geduldig wartete Amy, bis die kräftigen Schultern zu beben aufhörten, ehe sie das Mädchen mit sanfter Stimme aufforderte, ihr zu sagen, was sie bedrückte. Doch Brigit schüttelte lediglich seufzend den Kopf.

»Schh, Kind, nichts kann so schlimm sein. Ich helfe dir, was auch immer passiert ist. Aber das weißt du doch, oder nicht?«

Wieder brach Brigit in Tränen aus und vergrub ihr tränenüberströmtes, gerötetes Gesicht in den Händen.

»Brigit, wir haben jetzt keine Zeit für so etwas. Wenn du in Schwierigkeiten steckst, dann muss ich es wissen, damit ich dir helfen kann. Also komm schon, du musst mir vertrauen.«

Zwischen ihren verzweifelten Schluchzern kam schließlich die Wahrheit ans Licht. »Ich bekomme ein Kind.«

Amy saß einen Augenblick schweigend am Tisch und musterte Brigit zutiefst enttäuscht. Sie hatte das Mädchen für eine entschlossene, liebenswerte Schülerin und für den lebenden Beweis gehalten, dass jeder Mensch, aus welchen Verhältnissen er auch stammen mochte, in der Lage war, etwas aus seinem Leben zu machen. Und nun dies!

»Oh, dieser Dan Meara. Hat dich deine Mutter denn nicht gewarnt, dich vor dem Hunger der Männer in Acht zu nehmen? Nun, dafür ist es jetzt zu spät. Aber mach dir keine Gedanken, Brigit, er wird dich heiraten –«

Brigit schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein, Mrs. Tallant. Ich bin eine schreckliche Sünderin, und Gott bestraft mich! Daniel Meara ist nicht der Vater! Er hat mich immer mit Respekt behandelt.«

»Aber … wer dann?«

»Das … das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Doch, das kannst du.«

»Niemals. Niemals. Ich habe einen heiligen Eid darauf geschworen.«

»Oh, mein Liebes.« Ihr war klar, dass es sinnlos war, weiterzubohren. Ein heiliger Eid war ein heiliger Eid, und sie kannte ihre Brigit. Die würde sich nicht umstimmen lassen. Welchen Mann auch immer sie schützte, seine Identität würde niemals ans Licht kommen.

»Sie können mich auf die Straße setzen. Ich habe es verdient. Ich bin schlecht, schlecht, schlecht, und Sie haben vollkommen Recht, wenn Sie mich verachten.«

»Das würde ich niemals tun, Brigit. Du hast einen Fehler gemacht, aber du bist schon gestraft genug. In diesem Haus bist du in Sicherheit, und wenn deine Zeit gekommen ist, werden wir dafür sorgen, dass alles so erledigt wird, wie es sein muss.«

In diesem Augenblick hörte sie ein Geräusch an der Tür. Als sie sich umdrehte, sah sie Ned. Wie seltsam. Normalerweise kam er so gut wie nie in die Küche, und es war noch ziemlich zeitig.

»Du bist sehr früh hier, Liebling«, sagte sie und erhob sich, um ihn mit einem freundlichen Lächeln zu begrüßen.

»Was ist hier los?«, fragte er. »Zuerst empfängt mich keiner, dann rufe ich schon seit mindestens zehn Minuten nach dir. Und jetzt finde ich dich hier in der Küche neben einem heulenden Dienstmädchen.«

Amy lachte leise. »Deine Beobachtungen sind korrekt, mein Lieber. Aber wir haben hier ein paar kleine Schwierigkeiten, musst du verstehen.«

Er runzelte die Stirn. »Schwierigkeiten?«

»Unsere Brigit ist … ein Fehltritt … sie ist gefallen. Nun, ich will ganz aufrichtig sein. Brigit hat sich den fleischlichen Genüssen hingegeben.«

»Sie kriegt ein Kind! Was für eine Schande! Sie kann auf keinen Fall hier bleiben, nicht in diesem Zustand!«

»Ned!«, protestierte Amy. »Das ist deiner nicht angemessen! Wo bleibt deine christliche Nächstenliebe? Ganz gewiss verdient ein gefallenes Mädchen unseren Schutz.«

»Nein, sage ich! Sie verdient überhaupt nichts! Sie ist eine Hure, und ich sage: Hinaus mit ihr! Das ist mein letztes Wort!«

Amy sah zu Brigit hinüber, aus deren Gesicht sämtliche Farbe gewichen war. Sie sah aus, als würde sie jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. Das konnte Amy nicht zulassen.

Mit gestrafften Schultern stand sie aufrecht vor Ned und sah ihm in die Augen. »Nein, Ned!«

»Du wagst es, dich mir zu widersetzen?« Er schwankte ein wenig, und ihr wurde klar, dass er auf dem Nachhauseweg im Dent’s eingekehrt war. Sein Anblick ließ neue Entschlossenheit in ihr aufsteigen.

»Ja, Ned, ich widersetze mich dir. Ich habe Brigit mein Wort gegeben, dass sie in diesem Haus sicher sein wird. Und genauso wird es auch sein.«

Er trat einige Schritte nach vorn, und einen schrecklichen Moment lang glaubte sie, er würde sie schlagen. »In meinem Haus –«, fing er an, doch sie fiel ihm ins Wort. »Du zwingst mich, dich noch einmal daran zu erinnern, dass dies mein Haus ist.«

Er stieß einen lautstarken Fluch aus und stürmte aus der Küche. Ihr war klar, dass sie ihn erst in den frühen Morgenstunden wiedersehen würde. Nun, dann sollte es wohl so sein. Dieses Mal war es ihr vollkommen gleichgültig.

Sie sah zu Brigit hinüber, die noch immer zusammengesunken am Tisch saß, so allein, so schutzlos. Nur Amy konnte sie beschützen, und genau das würde sie tun, komme, was da wolle.

Und dann würde es ein Baby im Haus geben. Ein Baby, das man lieb haben, großziehen, unterrichten und formen konnte und um das man sich kümmern musste. Sie spürte, wie sie neuen Mut schöpfte, und sah schon die kleinen Fingerchen mit winzigen, perfekten Nägelchen vor sich, diese kleinen strampelnden Beinchen, das Gurren, das rosarote Mündchen und die großen, runden Augen. Sie holte tief Luft, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie glücklich war. Sie würde sich um Brigit kümmern – um Brigits willen, um des kleinen Babys willen, und, wie es schien, um ihrer selbst willen.

Das Haus der Geheimnisse

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