Читать книгу Das Haus der Geheimnisse - Marcia Rose - Страница 11
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ОглавлениеAm selben Tag
Liam Tallant und sein Fotograf Fred Loehmann standen an der Ecke Elizabeth und Fulton Street und schienen die Menschen nicht zu bemerken, die sich an ihnen vorbeischoben und sie anrempelten. Wie gebannt betrachteten sie die Brücke und suchten nach der besten Position für Freds Kamera. Von hier aus konnten sie den gesamten Brückenbogen erkennen, ebenso wie die Arbeiter, die die Aufhängungen mit geteerten Seilen an den Verankerungen befestigten und aus dieser Entfernung wie Ameisen aussahen, die sich an ein Spinnennetz klammerten.
»Sieh sie dir an!«, rief Liam. »Die haben keine Angst. Und alles, worum Kinsella uns gebeten hat, ist, dass wir ein paar kleine Stufen hinaufgehen und ein paar Bilder machen.« Er lachte. »So wie ich es sehe«, fuhr er fort, »brauchst du nur bis nach oben zu klettern, dich umzudrehen und deine Kamera auf die Sand Street zu richten.«
Fred warf ihm einen scharfen Blick zu. »Tatsächlich? Siehst du das so, ja? Nun, so wie ich es sehe, bist du derjenige, der mit dieser fünfzehn Pfund schweren Kamera auf der Schulter dort hinaufklettern sollte. Schließlich bist du doch der Reporter. Du bist der Berühmte hier, und dein Name steht jeden Tag in Zwölfpunkt-Schrift unter dem Artikel im Eagle.«
Liam lachte laut auf und zog damit die Blicke etlicher Passanten auf sich. Er hatte ein Lachen, das gewöhnlich im Umkreis von fünf Meilen zu hören und höchst ansteckend war. Zumindest konnte Fred nicht anders, als einzustimmen, ob er nun Liams Meinung war oder nicht.
Sie sahen beide wieder hoch, blinzelten gegen die Sonne an und musterten die enge Wendeltreppe aus Eisen, die sich auf der linken Seite des Brückenpfeilers nach oben wand – ein ziemlich beängstigender Anblick; und darüber hinaus wehte an diesem Tag eine recht steife Brise aus Norden über den East River. Keiner von ihnen war besonders erpicht auf den steilen Aufstieg mit all den Ausrüstungsgegenständen, die sie bei sich hatten. Aber es blieb ihnen keine andere Wahl. Der Brooklyn Daily Eagle brauchte seine Geschichte, und der Herausgeber Thomas Kinsella wollte ein Foto zu dem Artikel – auf das der Setzer in diesem Augenblick bereits wartete.
»Wenn deine Lizzie hier wäre«, stellte Fred fest, »dann wären wir schon lange auf dem Weg nach oben.«
Liam lachte wieder. »Wenn meine Lizzie hier wäre, dann wäre sie auf dem Weg nach oben.«
»Oh, was für ein wunderbares Foto ich doch von diesen sieben jungen Damen in ihren weißen Kleidern gemacht habe, deren Röcke sich im Wind bauschten und die in die Kamera lächelten, als wären sie gerade auf einem Spaziergang im Prospect Park und nicht auf einer schwankenden Brücke dreißig Meter über dem Boden.«
»Ich habe einen Abzug des Fotos neben meinem Hochzeitsfoto im Salon stehen. Und wenn Lizzie und ich einmal alt und grau sind, dann sehen wir es uns an und lachen darüber, was für eine kühne Frau sie war. Und sie wird mir einen Vortrag halten, wie sie es jetzt auch immer tut. Sie wird mir klar machen, dass für den Gang über die Fußgängerbrücke weniger Mut erforderlich ist als für ihre Besuche auf der Walter Street in den irischen Slums, wo sie jetzt jeden Tag unterwegs ist.«
»Ich kann all diesen Sozialarbeiterinnen nur meinen Respekt dafür zollen, dass sie ihre Zeit damit zubringen, diesen undankbaren irischen Kerlen zu helfen, die sich zu Tode saufen.«
»Fred, du verstehst das vollkommen falsch. Diese Ladies verschwenden ihre Zeit nicht mit Männern. Sie haben sich der Idee verschrieben, die Zustände für die Frauen und Kinder zu verbessern … und die Frauen und Kinder brauchen diese Hilfe weiß Gott dringend. Nein, nein, Frederick, du musst das verstehen. Meine Lizzi verbringt ihren Tag damit, dafür zu sorgen, dass das Geld für die Miete nicht in der Kneipe landet, dass die kranke Frau zum Arzt gehen kann und die Kinder die Schule besuchen. Ihr momentanes Lieblingsprojekt ist ein Club für junge Frauen, wo sie ihnen gute Manieren und ordentliches Betragen beibringt, so dass sie sich eine vernünftige Stellung suchen können. Und außerdem solltest du dich schämen, Fred Loehmann, schließlich weißt du, dass ich selber zur Hälfte Ire bin.«
»Na ja, du bist selber ein halber Iren-Kerl, wie ich schon immer gesagt habe. Aber du musst zugeben, dass die Brooklyner Iren zuerst das Geld für die Miete vertrinken und dann jammern, wie schwer das Leben sei.«
»Nicht alle Iren tun das. Denk an Henry Murphy. Er ist auch Ire, außerdem der Vorsitzende des Kuratoriums für den Brückenbau und ein aufrechter Bürger Brooklyns, oder etwa nicht?«
»Verstehe. Aber Henry ist kein typischer Ire … sieh mich nicht so streng an, Liam. Ich habe gesagt, dass es mir Leid tut, und das tut es auch.«
Der strenge Blick auf Liams Gesicht wich rasch einem fröhlichen Lachen. »Denk an Henry und die Fußgängerbrücke«, sagte er.
Fred fiel in sein Gelächter ein. »Dein Artikel war wirklich herrlich humorvoll – wie Murphy gesagt hat, er würde niemals einen Fuß auf dieses Ding setzen. Und das hat er auch nie getan.«
»Oh, Lizzie musste wirklich auf ihn einreden wie auf ein krankes Pferd, bis er erlaubt hat, dass sie und ihre Freundinnen die Brücke überqueren. Die Frau ist wirklich äußerst redegewandt, ich war zutiefst beeindruckt.«
»Hast du sie damals nicht zum ersten Mal gesehen? Und wenn ich mich recht entsinne, warst du derjenige, der auf sie einreden musste wie auf ein krankes Pferd – bis du sie an dem Punkt hattest, dass sie dir erlaubt hat, sie zu besuchen.«
»Was für eine Frau, habe ich damals gedacht. Und das denke ich noch immer. Selbst nach fünf Jahren. Sie waren die ersten Frauen, die die Brücke überquert haben.« Liam lachte. »Aber nicht die letzten. Donnerwetter! Es scheint ihnen nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen zu sein, wie gefährlich das war. Dieser Arbeiter, O’Rourke, hat es auf den Punkt gebracht: ›Die Frauen werden sich am schnellsten hier wohl fühlen und sorglos ihre Sonnenschirme hin und her schwingen, während tapfere Männer sich mit beiden Händen festklammern.‹«
Die beiden Männer lachten abermals, ehe Fred den Kopf senkte und Liam anstieß. »Sieh dir das an!« Er deutete auf eine gut gekleidete Frau mittleren Alters, die an ihnen vorbeiging und ihren Rock ein Stück hob, als sie auf den Bürgersteig trat, so dass ihre wohlgeformten, schlanken Fesseln zum Vorschein kamen.
»Oh, Fred, du wirst dich nie ändern. Alle Frauen haben Beine, das weißt du doch. Also gibt es keinen Grund, sich so darüber aufzuregen. Warte, bis du ein glücklich verheirateter Mann bist. Dann wirst du damit aufhören, den Frauen ständig nachzustarren.«
»Nein, nein, Liam. Es waren nicht nur ihre Fesseln – obwohl ich zugeben muss, dass sie wirklich sehr ansehnlich sind. Aber eine Sekunde lang kam sie mir so … ich weiß nicht … so bekannt vor.«
»Nun, jetzt ist sie jedenfalls weg. Also, lass uns mit unserem Foto weitermachen. Je länger wir warten, umso kältere Füße bekomme ich. Nein, je länger ich warte, umso klarer wird mir, dass ich eigentlich am liebsten ins Black Horse gehen und mir einen hinter die Binde gießen würde, um ganz ehrlich zu sein. Aber in diesem Fall würde mich Mutter gar nicht erst zum Abendessen hereinlassen.«
»Deine Mutter! Sie riecht den Alkohol im Atem eines Mannes schon aus zwei Häuserblocks Entfernung! Sogar nachdem man Nelken gekaut hat.«
»Wohl war. Aber schließlich hat sie ihre Gründe …«
Wann immer Liam an Ned Tallant dachte, erinnerte er sich an den stets präsenten süßlich-sauren Geruch nach Alkohol. Es war nicht viel, was ihm im Gedächtnis geblieben war, schließlich war Ned aus Liams Leben verschwunden, als er gerade sechs Jahre alt gewesen war. Doch er konnte sich noch genau an den rauen Bart, das laute Lachen und die abrupten Stimmungswechsel erinnern – in der einen Sekunde war er noch bester Laune und warf Liam übermütig in die Luft, doch schon in der nächsten zeigte er sich kalt und gleichgültig. Es war beängstigend für das Kind, da es nie wusste, welchem Vater es gegenüberstehen würde, wenn dieser am Abend nach Hause kam. Und häufig versteckte sich Liam im Kinderzimmer, um nicht bemerkt zu werden.
Die lebhafteste Erinnerung an diesen Mann, den er Vater nannte, war die an jenen Abend, als er sie für immer verließ. Es war an Teddys viertem Geburtstag. Das würde er zeit seines Lebens nicht vergessen, weil Jemma in der Diele ein knallrotes Banner aufgehängt hatte, auf dem eine große Vier aus bunten Leinenfetzen aufgenäht war.
An diesem Abend hatte Teddy sich in den Schlaf geweint, weil Vater nicht gekommen war – weder zu seiner Geburtstagsparty, noch als sie schon lange zu Bett gegangen waren. Liam, der hellwach im anderen Bett lag, presste sich das Kissen auf die Ohren, um es nicht mit anhören zu müssen. Er hatte Mitleid mit Teddy. Es schmerzte so sehr, wenn ein Erwachsener ein Versprechen vergaß – ein Versprechen und ein Geburtstagsgeschenk.
Teddy war noch ein Baby, kein großer Junge von sechs Jahren wie Liam. Der war schon groß genug, um zu wissen, dass es unfair war, und auch er war ein wenig enttäuscht. Teddy sollte Pfeil und Bogen bekommen, um damit auf die große Zielscheibe vor dem Strohballen hinten im Garten zu schießen, und er hätte es Liam bestimmt als Ersten versuchen lassen. Das tat er immer, weil Liam sein großer Bruder war. Sie hatten schon eine ganze Woche lang Pläne geschmiedet, wie sie im Garten Ivanhoe spielen würden.
Vaters tiefe Stimme weckte sie beide zur selben Zeit auf. Sie saßen in ihren Betten und versuchten zu verstehen, was passierte.
»Vater ist zu Hause!«, rief Teddy glücklich, stand auf und wollte gerade die Treppe hinunterlaufen, als Liam ihm eine Hand auf die Schulter legte. Selbst vom oberen Treppenabsatz aus konnte Liam erkennen, dass Vater wieder eine seiner »Launen« hatte. Sein Gesicht war dunkelrot, er sprach ein wenig undeutlich und bewegte sich mit übertriebener Vorsicht. Mutter, deren offenes Haar sich über ihren Rücken ergoss, stand im Morgenrock mit gekreuzten Armen vor ihm. Ihre Stimme klang vollkommen ruhig, während die seine immer lauter und zorniger wurde.
»Geh!«, sagte sie. »Geh einfach.«
»Wohin denn?«
»Das interessiert mich nicht.«
Teddy begann zu wimmern. Liam presste seine Hand auf den Mund des Bruders. Er wusste, dass es besser war, die Aufmerksamkeit des Vaters nicht auf sich zu ziehen, wenn der in dieser Verfassung war. Plötzlich wünschte er sich voller Inbrunst, sie lägen wieder sicher in ihren Betten. Aber eine einzige Bewegung, ein Knarren auf dem Treppenabsatz, und Vater stünde augenblicklich hier oben und zöge seinen Gürtel aus den Schlaufen. Deshalb hörten sie mit angehaltenem Atem alles mit an.
Die Stimmen wurden immer lauter. Sie stritten sich und schrien sich an. »Du weißt, was nicht in Ordnung ist«, brüllte Vater irgendwann. »Es ist dieser Bastard, den du so bevorzugst! Ich verfluche den Tag, an dem ich zugestimmt habe, ihn zu behalten!« Instinktiv hatte Liam schon immer gewusst, dass Vater so dachte, doch als er es nun so deutlich hörte, brannte sein Gesicht vor Scham und Demütigung. Mit all seiner Kraft wünschte er sich, Vater möge für immer von dieser Welt verschwinden.
Und dann – auch heute noch erschien es ihm vollkommen unmöglich – packte Mutter Vater am Kragen und schlug ihn zu Boden, ehe sie einen zornigen Fluch ausstieß. Noch nie in seinem Leben hatte Liam solche Worte aus dem Mund seiner Mutter gehört. »Gott möge dich verdammen!«, stieß sie hervor. »Verschwinde! Hau ab!«
Vater griff nach dem länglichen Paket – die Schachtel, in der sich wahrscheinlich der lang ersehnte Pfeil und Bogen befanden – und zerbrach es lachend, ehe er aus dem Haus stürmte.
»Du wirst mich nie wiedersehen!«, schrie er.
Am ganzen Leib zitternd schlang Liam die Arme um sich, während er spürte, wie jene namenlose Angst in seinem Inneren Übelkeit aufsteigen ließ. Er hatte sich gewünscht, sein Peiniger würde verschwinden, und nun war er verschwunden. Seine Qual hatte ein Ende! Vater würde ihn nie wieder auf diese besondere Weise ansehen und sagen: »Warum wurdest du geboren? Du hast noch nie irgendetwas richtig gemacht.« Aber was würde aus ihnen werden, wenn Vater nicht mehr da war?
Teddy weinte bitterlich. Vater hatte sein Geburtstagsgeschenk zerbrochen. »Nein, nein, ich will es wiederhaben. Ich will meine Pfeile und den Bogen. Ich will meinen Vater! Komm zurück. Komm zurück!« Liam wusste genau, dass Teddy Mutter für all das verantwortlich machen würde – sowohl für den Verlust des Vaters als auch des Geschenks, während in Liams Erinnerung für immer das Bild jenes Mannes eingebrannt war, der mit gebleckten Zähnen die verletzenden Worte ausspie.
Es schmerzte ihn auch heute noch, als erwachsener, verheirateter Mann, als Journalist, als Mann von Welt. Und was Teddy betraf – nun, der hatte seine Ansicht nicht geändert. Er hatte Ned Tallant verehrt, ob betrunken oder nüchtern, und wann immer ihn Liam daran erinnerte, was für ein Ungeheuer Ned gewesen war, wenn er getrunken hatte, wollte Teddy nichts davon hören.
Liam atmete tief ein und ließ die Luft langsam aus seinen Lungen entweichen. Schluss mit den Erinnerungen. »Also gut, Fred, wir haben lange genug hier herumgestanden. Lass uns den todesmutigen Weg hinter uns bringen.«
Langsam schlenderten sie über die Fulton zur Front Street, wobei sie diversen Kutschen, Fußgängern und Zeitungsburschen auswichen. Als sie die Fulton Street überquerten, stieß Fred Liam plötzlich an. »Sieh mal. Ist das nicht dein Bruder dort drüben?«
»Teddy? Wo?«
»Vor dem Slanes.« Fred deutete auf den Schnapsladen auf der anderen Straßenseite, vor dessen ausladendem Holzvordach diverse Kutschen standen.
»Das wundert mich nicht. Slanes ist einer von Teddys Lieblingsorten.«
»Und sieh nur, wer bei ihm ist. Kein anderer als unser ehrenwerter Bürgermeister, Mr. Seth Low höchstpersönlich.«
»Ich schätze, wir sollten den beiden Gentlemen Guten Tag sagen, Frederick. Denn wenn Teddy Tallant mit Seth Low spricht – ganz besonders seit der dafür gesorgt hat, dass Teddy im Kuratorium für den Bau der Brücke aufgenommen wurde –, ist irgendetwas im Busch. Könnte eine gute Geschichte für die Zeitung werden.«
Eilig überquerten sie die Straße und gingen auf die beiden eleganten jungen Männer zu, die vor dem Slanes herumstanden. Seth Low war leicht zu erkennen: Er war ziemlich groß, hatte dichtes, dunkles, gewelltes Haar und einen buschigen Schnurrbart und war stets tadellos gekleidet.
Doch trotz seiner Größe wurde er von Teddy Tallant noch überragt. Liams Bruder schlug nach seinem Großvater väterlicherseits, und vom alten Mr. Tallant, dem Dorfschmied, wurde behauptet, er hätte mühelos eine Kuh über seinen Kopf stemmen können. Teddy besaß dieselbe breite Brust und kräftige Schultern – sein Schneider benötigte für die Herstellung eines Mantels oder eines Hemdes zusätzlichen Stoff – und hatte darüber hinaus den markanten Kiefer und das gut aussehende, wenn auch ein wenig grobe Gesicht von ihm geerbt. Haut, Haar und Backenbart waren eher dunkel. Beide Männer waren nach der neuesten Mode gekleidet, die den Stil und die Eleganz der englischen Aristokratie widerspiegelte, obwohl es bei Teddy für gewöhnlich so aussah, als platze er beinahe aus allen Nähten.
Manche Leute fanden, dass Liam und Teddy sich ähnlich sahen, obwohl sie keine richtigen Brüder waren. Beide waren recht breitschultrig, kräftig und dunkelhaarig. Doch Liam war einige Zentimeter kleiner als sein Stiefbruder, und bei näherem Hinsehen konnte man seine keltischen Wurzeln eindeutig erkennen.
Die vier Männer begrüßten einander herzlich und schüttelten sich die Hände, als wären sie die besten Freunde. Denn tatsächlich waren Liam und sein Bruder nahezu bei jedem Thema verschiedener Meinung und gingen nicht gerade freundschaftlich miteinander um. Seth Low gehörte den Republikanern an, während der Eagle stets eine Bastion der Demokraten gewesen war. Doch da der Herausgeber Thomas Kinsella ein erbitterter Feind des Brooklyner Kandidaten der Demokraten war, standen sowohl er selbst als auch die Zeitung Low inzwischen äußerst loyal gegenüber.
»Ihr Artikel über Boss McLoughlin hat mir gut gefallen«, stellte Low fest und stieß ein bellendes Lachen aus. »Endlich lesen wir die Wahrheit schwarz auf weiß.«
»Ich dachte mir schon, dass das Ihre Zustimmung findet«, erwiderte Liam geistesabwesend. Was hatte sein Bruder vor? Er kannte Teddy zu gut, um ernsthaft zu glauben, dass er sich auch nur einen Pfifferling um die Belange der Stadt scherte.
Low wandte sich an Teddy Tallant. »Hast du den Artikel deines Bruders in der heutigen Ausgabe des Eagle gesehen?«
»Ja, ich glaube schon. Was ist damit?«
»Unser guter Freund McLoughlin. Liam hat ihn in die Ecke gedrängt mit der Frage, weshalb er Boss genannt wird, wenn er doch nicht ganz Brooklyn unter Kontrolle hat. Und er hat eine halbe Ewigkeit um den heißen Brei herumgeredet und erwidert, Hunderte von Männern würden ihn so bezeichnen, weil er mal ihr Boss bei der Marine gewesen sei. Ha! Ich meine, du weißt selber, wie lange das her ist! Es ist ein Witz!«
»Er ist ein Witz!«, bemerkte Teddy, wofür er einen anerkennenden Schlag auf den Rücken erntete.
»Wie Recht du hast! Und weißt du, was er noch gesagt hat? Dass er sein Bestes tut, um die Männer davon zu überzeugen, so zu denken wie er.«
»Er überzeugt sie mit Schmiergeld«, sagte Teddy, was mit schallendem Gelächter quittiert wurde.
»Sie werden sich vielleicht weniger freuen«, sagte Liam an Low gewandt, »wenn Sie sehen, was ich für die morgige Ausgabe geschrieben habe.«
»Was könnte das wohl sein?«, fragte Low beiläufig, zog eine Zigarre hervor, deren Enden er mit einem silbernen Knipser entfernte.
»Es gefällt mir nicht, dass Ihre neuen Mitglieder sich gegen Washington Roebling verbünden. Dieser Mann ist ein Genie! Er verdient etwas Besseres als das!«
»Einen Augenblick, Liam. Der Bau dieser Brücke dauert viel zu lang, und die Öffentlichkeit ist es langsam leid, auf die Fertigstellung zu warten. Wir verbünden uns nicht gegen Roebling –«
»Ich will nur ein paar Fragen beantwortet haben, das ist alles«, warf Teddy ein, während sein Gesicht sich rötete. »Es hat nichts mit seinem Charakter zu tun. Er ist einfach zu krank, und es heißt, er verlöre langsam den Verstand.«
»Ja, ich weiß«, erwiderte Liam sarkastisch. »Und es heißt, dass Emily Roebling als Chefingenieurin eingesprungen sei und nicht mehr nur als Vermittlerin arbeitet. Unsinn! Alles nur Gerüchte. Nichts davon ist wahr. Der Mann mag körperlich krank sein, aber er ist eindeutig bei klarem Verstand.«
»Haben Sie Beweise dafür?«, fragte Low ruhig.
»Emily Roebling steht mit meiner Mutter in Kontakt. Nun, sie war erst letzten Dienstag zum Abendessen bei uns und hat gesagt, er überwache die Arbeiten durch sein Fernglas und bestimme, was zu passieren hat. Gentlemen, glauben Sie mir einfach, wenn ich sage, dass Washington Roebling immer noch der Boss ist.«
Teddy reckte kampflustig das Kinn. »Nun, dann soll er sich mit uns treffen und uns überzeugen. Der Zeitpunkt, die Brücke zu eröffnen und für den Verkehr freizugeben, ist schon lange überfällig.«
Liam musterte seinen Bruder mit einer Mischung aus Verärgerung und Verständnis. Das war Teddy, wie er leibte und lebte. Einige seiner politischen Freunde hatten dafür gesorgt, dass er gemeinsam mit Seth Low zum Mitglied des Kuratoriums ernannt worden war, um – davon war Liam fest überzeugt – dafür zu sorgen, dass eine bestimmte Landparzelle in der Nähe der Brooklyn Bridge für die künftige Erweiterung des Bahnhofs gekauft wurde, was einen enormen Profit versprach. Es war geplant, die New York Central Railroad über die Brücke bis nach Brooklyn fahren zu lassen, weshalb der Straßenkörper im Augenblick mit der doppelten Stahlmenge verstärkt wurde.
»Sag mir, Bruder«, fuhr Liam freundlich fort, »hat dein plötzliches Interesse mit der zügigen Fertigstellung der Brücke zufällig etwas mit Parzelle 2719B zu tun, die im Norden an die High Street, im Osten an die Furman grenzt und im Westen –«
»Jeder Sohn Brooklyns interessiert sich für die Brücke«, stieß Teddy entrüstet hervor, »an der, wenn ich dich daran erinnern darf, beinahe seit zwölf Jahren gebaut wird. Kannst du den Bürgern einen Vorwurf daraus machen, dass sie eine Veränderung an der Spitze fordern?«
Low richtete sich zu voller Größe auf. »Roebling ist ein kranker alter Mann«, verkündete er mit feierlicher Stimme, »und nun liegt dieses überaus wichtige Projekt in den Händen einer Frau – einer Frau! –, die mehr über die Locken auf ihrem Kopf und den Schnitt ihres Unterrocks als über Stahl, Kabel und Seile weiß! In den Händen einer Frau, die nicht einmal den Hauch einer Ahnung von Architektur und Konstruktion hat.«
Er lachte. »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Reden schwinge. Aber diese Sache erregt mich wirklich sehr. Dieser Mann geht jedem Kontakt mit anderen Menschen aus dem Weg. Er sagt, er lässt sich nicht auf den Präsentierteller setzen. Auf den Präsentierteller setzen! Alles, was wir wollen, ist, dass er zu einer unserer Versammlungen kommt. Es würde uns alle beruhigen, zu sehen, dass er noch immer im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten ist.«
Liam entging nicht, dass das Thema Parzelle 2719B irgendwie im Gespräch untergegangen war. Was machte ein Mann mit Lows Fähigkeiten und offensichtlicher Intelligenz nur mit einem Hitzkopf wie Teddy Tallant? Brauchte er so dringend eine Stimme gegen Roebling, dass er das Eigennützige an Teddys Motiven nicht bemerkte? Low durchschaute ihn ohne jeden Zweifel … im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen. Teddy stammte aus gutem Hause und hatte gute Manieren, war stets charmant, gab sich als großzügiger Gastgeber, Bonvivant und wohlwollender Kamerad.
Aber Liam wusste, was Teddy in Wahrheit war: ein stinkfauler, ungebildeter Klotz, der nichts anderes vom Leben wollte als eine Menge Spaß. Und der jeden für seine Zwecke benutzte, um zu bekommen, was er wollte. Was ihm auch regelmäßig gelang. Doch so groß auch die Verlockung sein mochte, Teddys Bewunderern den wahren Charakter seines Bruders zu enthüllen, so hatte sich Liam geschworen, darauf zu verzichten.
Deshalb wandte er sich an Low und sagte mit ernster Miene: »Washington Roebling mag zu einem Einsiedler geworden sein, aber das bedeutet noch lange nicht, dass sein geistiger Zustand gelitten haben muss. Der Mann hat diesem Projekt sein halbes Leben und seine Gesundheit geschenkt – einem Projekt, das, wie Sie zugeben müssen, Brooklyn in der ganzen Welt berühmt machen wird. Und ihn dieser Position nur wegen einiger Gerüchte zu berauben … nun, mir persönlich erscheint das äußerst verwerflich. Und wer könnte es denn besser, frage ich Sie, Gentlemen? Er hat seine Fähigkeiten doch wieder und wieder unter Beweis gestellt.«
»Du hast gut reden«, schnaubte Teddy, »du trägst schließlich nicht die Verantwortung für die Fertigstellung der Brücke.«
»Ah, Teddy geht wie immer ganz in seinen Bürgerpflichten auf. Ich hoffe, dieses hohe Maß an Verantwortung lastet nicht zu schwer auf deinen Schultern.«
Teddy presste die Lippen aufeinander. »Es ist mir schon immer aufgefallen, dass ihr Zeitungsleute gern über allem steht. Aber um ehrlich zu sein, ich bin eure ewige Arroganz langsam leid.«
»Ted, Ted«, sagte Low beruhigend. »Der Journalist ist doch der natürliche Feind des Politikers, wie du sicher weißt.«
»Und vice versa«, schaltete sich Fred ein, der bisher damit beschäftigt war, seine Kamera aufzubauen. »Aber in der Zwischenzeit wollen die Herren vielleicht für das Vögelchen in die Kamera lächeln.«
Teddys Miene erhellte sich augenblicklich, und er schob sich näher an Seth Low heran, hob das Kinn und straffte die Schultern. Kurz darauf war die Aufnahme im Kasten, und das Gespräch bewegte sich auf neutralerem Terrain. »Frederick und ich müssen diese höllische Treppe hinaufsteigen und den Lesern des Brooklyn Daily Eagle einen atemberaubenden Blick über unsere herrliche Stadt bieten«, entschuldigte sich Liam.
»Was ist mit dieser Parzelle? Wenn man überhaupt darüber reden kann«, meinte Fred, als sie auf den Fuß des Brückenpfeilers zugingen.
»Soweit ich weiß, haben der junge George Cartwright, die beiden Van Eck Brüder und ein paar andere eine Firma gegründet, die eine Parzelle Land gekauft hat. Offenbar hat einer von ihnen Wind von dem Plan bekommen, die New York Central Railway über die Brücke fahren zu lassen, lange bevor die Öffentlichkeit davon erfahren hat. Daraufhin haben sie sich zusammengeschlossen und die Parzelle so billig wie möglich gekauft. Und meinem Bruder haben sie offenbar eine prozentuale Beteiligung versprochen, die er schätzungsweise dann bekommt, wenn er im Kuratorium in ihrem Sinne stimmt.«
»Kannst du das beweisen?«
»Wenn ich einen Beweis hätte, mein lieber Frederick, dann stünde er bereits auf der ersten Seite des Eagle. Teddy kann nicht das einzige der neuen Mitglieder sein, die gekauft sind. Die ganze Sache stinkt. Wenn es herauskommt, wird das eine unglaubliche Geschichte.«
»Politiker sind die Fliegen auf dem Rücken der Gesellschaft«, bemerkte Fred. »Wir müssen kratzen, bis sie davonfliegen.«
Lachend machten sie sich an den gefährlichen Aufstieg die schmalen Windungen der Eisentreppe hinauf. Liam klammerte sich mit aller Kraft an das Geländer – aber das würde natürlich nicht in seinem Artikel auftauchen! Er hatte sich das Stativ unter den Arm geklemmt und hoffte inbrünstig, dass es ihm nicht entglitt und in die Tiefe stürzte. A propos Tiefe – es war keine besonders verlockende Vorstellung, auszurutschen und hinunterzufallen. Er wollte lieber gar nicht erst darüber nachdenken, wie hoch oben er inzwischen schon war.
Aber sollte es eine Wahl geben, wer in die Tiefe stürzen würde – das Stativ oder Liam O’Neal Tallant –, dann würde es wohl Auf Wiedersehen, liebes Stativ heißen.
Fred war unmittelbar vor ihm und jonglierte mit der unhandlichen Kamera, während er sich am Geländer festklammerte, sodass die Knöchel an seiner Hand deutlich hervortraten.
»Du siehst fast so aus, als wärst du nervös«, rief Liam.
»Wer, ich? Nervös? Mach dich nicht lächerlich! Ich liebe es, fünfzig Meter über dem Boden zu sein. Es ist ein wunderbares Abenteuer!«
»Herausforderung wäre wohl eher le mot juste, findest du nicht auch?«
»Albtraum, mon ami. Albtraum ist das treffende Wort.«
Liam brach in Gelächter aus, verkniff es sich aber sofort wieder, um jede Erschütterung zu vermeiden. Die Stufen waren so schmal und steil, dass sich ihm schon bei der geringsten Bewegung der Magen umdrehte. Im nächsten Augenblick hörte er Fred aufschreien, und das Herz blieb ihm stehen.
»Verdammt! Da fliegt er, mein Hut, hinunter in den Fluss und zur Küste von Spanien. Und ich hatte ihn so gern und sah so gut damit aus. Ah, mein Hut, ein Königreich für meinen Hut, der mich so lange begleitet hat –«
»Ja, Frederick, wir wissen es. Du und deine Melone, ihr wart unzertrennlich. Aber vielleicht gehst du jetzt endlich zu Ovington’s und kaufst dir einen ordentlichen Hut.«
Sie arbeiteten sich weiter hinauf. Liam vermied es sorgsam, in die Tiefe zu blicken. Ihn überkam doch schon ein leichtes Schwindelgefühl, wenn er nur von einem Punkt aus nach unten sah, der höher war als das zweite Stockwerk. Und ausgerechnet er war mit einer unerschrockenen Frau verheiratet, bei der der Anblick von Bergen keinerlei Angst auslöste und deren Lieblingsbeschäftigung es war, auf den Felsen rund um das Mohonk House Hotel außerhalb der Stadt herumzuklettern. Er hatte ihr nie gestanden, dass ihm derartige Ausflüge den Schweiß auf die Stirn trieben, nur Fred wusste von seiner Höhenangst. Nun, er und Fred hatten bei ihrer Arbeit für den guten, alten Eagle auch schon so einiges erlebt. Donnerwetter! Einmal waren sie sogar auf den Kirchturm der Trinity Church gestiegen, des höchsten Gebäudes New York, um Thomas Kinsellas Wunsch nach einem beeindruckenden Panoramafoto zu erfüllen. Bei diesem Ausflug war ihm mächtig übel gewesen, und Fred war es nicht viel besser ergangen. Damals hatten sie einen Schwur geleistet: Niemand sollte jemals erfahren, wie sehr sie geschwitzt hatten – insbesondere nicht der Herausgeber ihrer Zeitung.
»Hier!«, rief Fred, als sie etwa drei Viertel des Aufstiegs hinter sich hatten und sich auf halbem Weg zwischen den auf der Brücke verlaufenden Bahngleisen und dem höchsten Punkt des Pfeilers befanden. »Von hier aus ist es perfekt.«
»Aber Kinsella hat gesagt, ganz hinauf.«
»Kinsella wird bestimmt nie herkommen und es überprüfen. Hier ist es gut. Zumindest ich kann nicht höher, und das macht die Stelle perfekt.«
Es dauerte einige Minuten, bis Fred sich und die Kamera auf der Treppe in Position gebracht hatte, so dass Liam ihm das Stativ reichen konnte. Anschließend ging Liam so weit wie möglich nach oben, um die Kamera festzuhalten, damit Fred das Stativ daran befestigen konnte. Endlich waren sie fertig. Fred stieß einen lauten Seufzer aus. Liam wusste, was sein Freund dachte – der Weg nach unten war sehr lang, und sie befanden sich sehr weit oben und waren nun gezwungen, auf Brooklyn, den East River und den Hafen hinabzusehen. Das rief ein seltsames Gefühl im Magen hervor.
Andererseits war die Aussicht absolut atemberaubend. Innerhalb weniger Sekunden hatte Liam alles um sich herum vergessen und nur noch Augen für das, was sich vor ihm auftat: ein Anblick, den nur wenige vor ihm je genossen hatten. Und wenn diese Treppe erst einmal abgebaut wäre, würde sich nie wieder jemand über denselben Anblick freuen können.
Vorsichtig drehten sich die Männer um, damit sie auf Brooklyn sehen konnten. »Heiliges Kanonenrohr!«, stieß Fred hervor. »Was für ein Ausblick!«
Von ihrem Standort aus war Brooklyn durch das Netz aus Kabeln und die Lücken zwischen den Balken der Straße unmittelbar unter ihnen zu erkennen. Auf der einen Seite zogen sich endlose Hausdächer verschiedenster Art bis zum Greenwood Cemetery, der meilenweit entfernt im Dunst lag, während in der anderen Richtung –
»Sieh mal dort, Fred. Das Haus meines Großvaters! Siehst du es? Dieses große rote Dach!« In seiner Begeisterung bemerkte Liam nicht einmal, wie weit er sich über das Geländer beugte. »Die Columbia Street! Was für ein Anblick! Was für ein imposantes Haus war das früher. Ich weiß noch, wie Mutter einmal mit Teddy und mir hingefahren ist, um Großvater zu besuchen. Er war ein netter alter Mann, der immer mit einer dieser dicken Wolldecken um die Knie in einem Sessel saß, von dem aus man den Hafen überblicken konnte. Und er zeigte und erklärte uns die verschiedenen Schiffe. ›Das ist eine Schonerbark, keine Brigantine …‹ Jetzt fällt mir alles wieder ein. ›Und was ist das, junger Mann? Richtig, das ist eine Schaluppe. Und wie nennt man das große Segel. Gut! Hauptsegel ist korrekt.‹ Er war wirklich ein einzigartiger Mann, Fred. Er hat seine Flotte praktisch aus dem Nichts aufgebaut. Am liebsten hat er uns immer erzählt, er sei nur ein einfacher Fischer aus Gloucester in Massachusetts. Damals stammte die Hälfte der Yankee-Kaufleute von dort. Und die andere Hälfte waren Holländer, die sich diesen neureichen Anfängern gegenüber eindeutig überlegen fühlten.«
»Neureiche Anfänger! Und jetzt«, erwiderte Fred, »fühlen sich genau diese Yankee-Kaufleute natürlich dem Rest der Welt überlegen. Deine Mutter ist die einzige Ausnahme von dieser Regel –«
»Auch meine Mutter ist einzigartig. Sie und mein Großvater haben sich sehr nahe gestanden. Es war schwer für sie, ihr Elternhaus zu verkaufen, aber sie musste es tun, weil die Steuern enorm hoch waren und mein Vater schon lange vorher angefangen hatte, Geld von Benedict and Company zu stehlen. Das kam erst nach dem Tod meines Großvaters ans Licht, als sich ein Vermögensprüfer die Bücher ansah. Deshalb hat sie nur sehr wenig Bargeld geerbt und konnte Großvaters Traum, aus dem Haus ein Heim für alte, mittellose Seeleute zu machen, nicht in die Tat umsetzen. Sie hat das Land verkauft und das Geld verwendet, um die Firma zu retten. Ich sage dir, Fred, als Teddy erwachsen war und ihm klar wurde, wie wenig ihm hinterlassen worden war, konnte auch das Haus in der Pomegranate Street seinen Zorn nicht bändigen. Er war der Erbe, verdammt noch mal! Er war der Erbe, und er würde das nicht hinnehmen! Er hat sogar vor Wut den teuren venezianischen Spiegel meiner Mutter zerbrochen. Er hat getobt und gebrüllt und Dinge gesagt, die ich bis an mein Lebensende nicht vergessen werde. Ich habe mich bemüht, ihn zu beruhigen, und bin mit ihm nach draußen gegangen in der Hoffnung, sein Zorn würde an der frischen Luft verrauchen …«
Was bei diesem Spaziergang gesagt wurde, konnte Liam weder verzeihen noch jemandem erzählen, nicht einmal seinem guten Freund Fred. Nicht einmal seiner geliebten Frau. Ted hatte ihn angefahren und die Zähne gebleckt wie ein Tier, das bereit war zum Angriff. »Du Abschaum! Du Stück Dreck! Sohn eines verlotterten Dienstmädchens und Gott weiß wem! Du hast auf absolut gar nichts ein Recht, und trotzdem soll alles zwischen uns aufgeteilt werden? Dieser verrückte alte Kerl! Und unsere Mutter sollte ins Irrenhaus eingewiesen werden, denn sie ist ebenso verrückt wie er! Ich muss sofort hier weg! Mir wird schon übel, wenn ich nur einen von euch ansehe … und das schließt auch Lizzie mit ein!«
Liam verspürte den innigen Wunsch, ihm einen Kinnhaken zu verpassen. Das wäre die richtige Antwort auf den Hass und den Zorn seines Bruders. Doch er tat es nicht. Stattdessen drehte er sich um, ging ohne ein weiteres Wort wieder ins Haus und überlegte sich eine halbwegs plausible Erklärung für seine Mutter. Und er beschloss, nie wieder an diesen Abend zurückzudenken. Nie wieder. Was ihm auch beinahe gelungen wäre. Am nächsten Tag machte Ted seine Drohung wahr und zog mit Sack und Pack in ein Junggesellen-Apartment im Mansion House, das nur wenige Blocks entfernt in der Willow Street stand.
Liam riss sich aus seinen Gedanken. »Sieh dir nur diese Stadt an«, sagte er zu Fred. »Brooklyn steht an der Schwelle zu wahrer Größe. Und genau das ist meine Überschrift für morgen! Wenn dein Foto nur halb so gut ist wie meine Worte …«
Er hielt einen Augenblick inne, ehe er mit ernsterer Stimme fortfuhr. »Auf der Schwelle zu wahrer Größe. Das ist mein voller Ernst, Fred. Ich glaube, dass Brooklyn immer weiter wachsen wird. Es gibt so viel Platz, ganz im Gegensatz zu dieser engen Insel dort drüben. Wir werden nicht das Schlafzimmer New Yorks sein, oh nein! In hundert Jahren, Fred … in hundert Jahren … 1982. Das klingt so seltsam, nicht wahr? 1982 wird niemand mehr wissen, dass New York sich als den Mittelpunkt des Universums betrachtet hat, weil Brooklyn dann nämlich das kulturelle und wirtschaftliche Zentrum sein wird. Sieh dir nur all diese Schiffe an. Und wir haben noch immer genug Küste. New York ist jetzt schon so überfüllt, dass man kaum von einer Straße zur nächsten gelangt, wohingegen wir Platz haben, um uns praktisch endlos ausdehnen zu können! Ja, Fred, 1982, wenn die New York Central regelmäßig über die Brooklyn Bridge donnert … wenn es überall Strom gibt und die Luft erfüllt ist von Flugapparaten und jedes Gebäude bis zum Himmel reicht, zehn Stockwerke hoch, vielleicht sogar noch mehr, und Aufzüge an der Außenfront hat, die auf und ab fahren …«
»Ja, ja«, grinste Fred. »Was für ein Bild! Und in dieser Zeit wird sogar ein armer kleiner Fotograf wie ich fließend heißes Wasser und elektrisches Licht in jedem Zimmer haben, und – soll ich es zu sagen wagen? – einen Abort im Haus. Oh, wie himmlisch!«
»Können wir jetzt nicht wieder hinuntergehen und für festen Boden unter den Füßen sorgen?«, fragte Liam. »Ich bin sicher, wir haben inzwischen alle Bilder, die wir brauchen. Mir wird schon wieder ein wenig übel.«
»Wenn ich auch noch nicht alle Bilder hätte, würde es mir wohl wenig nützen zu protestieren, wenn ich es recht sehe. Ah, in den Geschichtsbüchern von 1982 wird es geschrieben stehen, dass Liam Tallants Höhenangst die Nachwelt beinahe um eines ihrer besten Fotos gebracht hätte, wäre da nicht jener tapfere Fotograf Frederick Loehmann gewesen, dem es gelungen war, diese spektakuläre Aussicht einzufangen, die bis heute ihresgleichen sucht.«
»Die Nachwelt mag davon hören, aber bitte erzähl es meiner Lizzie nicht, sonst wird sie mich für den Rest meines Lebens damit aufziehen.«