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Juni 1852

Sie war verheiratet! Amy konnte es noch immer nicht richtig glauben. Sie hatte ein Gefühl, als perlten feine Champagnerbläschen durch ihre Adern! Mrs. Edward Harrison Tallant! Sie ging am Arm ihres gut aussehenden Ehemanns, und dort an der Ecke Willow und Pomegranate Street stand ihr Haus. Das Haus ihrer Träume, in dem ihr Leben nun endlich beginnen würde.

»Bitte, Ned, warte. Ich möchte es mir einen Augenblick lang ansehen, bevor wir unser gemeinsames Leben hier anfangen.«

»Noch einmal? Amy, Liebes, ich glaube, du liebst das Haus mehr als mich!« Er lachte, trotzdem wusste sie, dass sie seinen Unmut geweckt hatte.

Er würde lernen müssen, es zu verstehen. Das Haus lag ihr so am Herzen, weil es ihr gehörte. Nach dem Gesetz, mit allem Drum und Dran, und nicht nur, weil ihr Vater es ihr zu Lebzeiten treuhänderisch überlassen hatte. Es stand ihr frei, nach Gutdünken damit umzugehen, den Rest ihres Lebens darin zu verbringen, es ihren Kindern zu vermachen. Sie kannte keine andere Frau, die einen solchen Besitz ihr Eigen nennen konnte. Keine einzige. In dieser Hinsicht war ihr Vater sehr ungewöhnlich. Wie oft hatte Mutter ihm mit verkniffenen Lippen vorgehalten, er setze dem Mädchen nur Flausen in den Kopf, indem er es wie einen Jungen behandelte. Am Ende würde es Amy nur Kummer und Verdruss bringen, hatte sie immer gewarnt. Welcher Mann würde eine solche Frau schon heiraten wollen?

Mutter war besorgt um sie – und das aus gutem Grund. Amy war einundzwanzig Jahre alt, als ihre Mutter starb, und bis zu diesem Zeitpunkt hatte ihr kein einziger Mann je den Hof gemacht. Sie war nun einmal anders als die anderen, zu grobknochig und viel zu klug, als es gut für sie gewesen wäre. Sie hatte sich mit dem Dasein als alte Jungfer im Haus ihres Vaters in der Columbia Street abgefunden. Damit, für immer in ihrem schmalen Bett in jenem Zimmer im ersten Stock zu schlafen, von dem aus man den Hafen sehen konnte. Doch am Ende hatte sie dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen!

»Natürlich liebe ich dich am meisten«, erwiderte sie. »Aber sieh doch nur, ist es nicht wunderbar?« Wann immer sie das dreistöckige, knapp acht Meter breite und beinahe siebzehn Meter tiefe Haus mit seiner Fassade aus rötlich-braunem Sandstein betrachtete, erschien es ihr schöner als zuvor. Seine weitläufige, gemauerte Veranda, die ungewöhnliche Balustrade mit den geschnitzten Drei- und Vierpässen und den ehrwürdigen gotischen Bögen erschienen ihr als Inbegriff mittelalterlicher Baukunst.

Und nun war es endgültig fertig. Gestern waren die Eingangstüren endlich auf der Sarah Jane aus England eingetroffen, und Vater hatte sie mit Hilfe eines Transportwagens auf direktem Weg vom Hafen heraufbringen lassen. Bestimmt gab es in ganz Brooklyn Heights keinen Eingang, der diesem hier auch nur annähernd gleichkam. Imposante gotische Bögen waren in die hohen, schmalen Türflügel geschnitzt, während die Ecken raffinierte Dreipässe zierten. Sie waren so wunderschön! Im Lauf der Woche würden Schmiede kommen und die eleganten, mittelalterlich anmutenden Geländer und Zäune aufstellen. Dann würde Pierce, der Gärtner ihres Vaters, die Glyzinien vorbeibringen, die sie vor dem Haus einpflanzen wollte. Dort würden sie rasch wachsen und ranken, und jedes Jahr im Mai wäre die Luft geschwängert vom schweren süßlichen Duft der lavendelfarbigen Blüten. Oh, sie würden ein so glückliches Leben hier führen. Sie und Ned. Und ihre Kinder.

Amy Benedict – Amy Benedict Tallant, korrigierte sie sich – warf einen verstohlenen Blick auf ihren geliebten Ned und errötete ein wenig. Er sah so gut aus, war beinahe einen Meter achtzig groß – genug, um es mit ihrer für eine Frau ungewöhnlichen Größe aufnehmen zu können –, schlank, hatte tief liegende, dunkle Augen und eine markante, maskuline Kieferpartie. Selbst heute, da sie Mann und Frau geworden waren, spürte sie eine seltsame Mischung aus Begeisterung und Ungläubigkeit – dass dieser Mann, der jede Frau hätte haben können, die er wollte, sich ausgerechnet für sie entschieden hatte. Dass er die sonderbare, exzentrische siebenundzwanzigjährige Amy Benedict mit ihrem flammend roten Haar, den zahllosen Sommersprossen und der römisch geschwungenen Nase hatte haben wollen. Sie war ein Glückspilz!

Wie sehr sich Mama doch gefreut hätte, wenn sie heute die Hochzeit von Miss Amy Benedict und Mr. Edward Harrison Tallant miterlebt hätte. Amy hatte sämtliche Details ihrer Hochzeit – angefangen vom Stil ihres Brautkleids bis hin zu den Austern und dem Champagner, die halb drei serviert werden würden – darauf ausgerichtet, dass es Mamas Wünschen entsprochen hätte. Um zwölf Uhr mittags hatte die Zeremonie begonnen. Ihre Mutter hätte auf der für eine Trauung passendsten Uhrzeit bestanden.

Also standen sie Punkt zwölf Uhr mittags in der Plymouth Church, durch deren Fenster die Sonne hereinstrahlte: sie und Ned und ihre beiden Brautjungfern, ihre beste Freundin Harriet und ihre Cousine Lucy, außerdem Neds beide Begleiter und mehr als zweihundert gemeinsame Freunde, Verwandte und Geschäftspartner, die hinter ihnen auf den geschnitzten Kirchenbänken Platz genommen hatten.

Ihr Brautkleid war ein wahres Meisterwerk: Es war aus cremefarbenem Taft mit Plissee-Falten am Oberteil und langen Schleifenbändern, mit denen der Reifrock verziert war. Sie hatte sich eines der neuen leichteren Reifrockmodelle ausgesucht, das wirklich reizend aussah und darüber hinaus an einem warmen Junitag wie diesem gewiss kühler und angenehmer zu tragen war als die vielen traditionellen Schichten. Es gelang ihr zwar nicht herauszufinden, wie man sich möglichst graziös damit setzte, und in dem Augenblick, als sie die schmalen weißen Satinschuhe angezogen hatte, war ihr klar, dass ihre Füße bereits lange vor dem Abendessen zu schmerzen beginnen würden. Und das taten sie auch. Aber wen kümmerte das? Trivialitäten wie diese vermochten die Glut in ihrem Herzen nicht zu schmälern … ebenso wenig wie das Strahlen auf ihrem Gesicht.

Heute sah sie ganz besonders gut aus. Das hatten alle gesagt, und es stimmte. Außerdem hatte sie es heute Morgen selbst im Spiegel gesehen. Nun, da sie eine verheiratete Frau war – eine verheiratete Frau! –, funkelten ihre Augen, und ein weicher, rosiger Schimmer überzog ihre Haut. Sie war beinahe hübsch. Und warum auch nicht? Alle Bräute waren schön, hieß es doch immer. Warum also sollte ausgerechnet sie gegen diese Konvention verstoßen? Ein jämmerlich schlechter Scherz, dachte sie, aber typisch für mich. Dem armen Ned bot ihr Sinn für Humor allerdings nur selten Grund zum Lachen. Immer häufiger musste sie feststellen, dass er ihre Gewohnheit, das Leben von der heiteren Seite zu betrachten, irritierend unkonventionell fand.

Sie bemühte sich nach Kräften, nicht seinen Unmut zu erregen. Dennoch fühlte er sich nur allzu häufig zu Sticheleien veranlasst. »Werden Sie, Miss Benedict, jemals in der Lage sein, irgendetwas so zu machen wie alle anderen auch? Müssen Sie immer Ihren eigenen Weg gehen, Miss Benedict?« Und trotz seines unbefangenen Tonfalls entging ihr sein Stirnrunzeln nicht. Armer Ned, er war unter etwas weniger glücklichen Umständen aufgewachsen als sie – in einem kleinen Dorf in der Nähe von Albany, wo sein Vater als Schmied gearbeitet hatte. Bei ihnen gab es kein fröhliches Geplänkel, keine Diskussionen über Literatur und Politik beim Abendbrot, wie es im Hause ihres Vaters in der Columbia Street an der Tagesordnung war. Und wie es auch in der Pomegranate Street Nummer 7, dem Zuhause von Mr. und Mrs. Ned Tallant, sein würde!

Wie schön doch Reverend Beecher die traditionellen Worte heute gesprochen hatte! Wie lebendig und neu hatten sie geklungen, als sie mit dieser tiefen, wohlklingenden Stimme vorgetragen worden waren. Und dabei hatte er ihr und Ned tief in die Augen gesehen, als wären diese ehrwürdigen Worte allein für sie beide erschaffen. Natürlich war Mr. Beecher überall für seine Eloquenz bekannt. Seine Stimme drang bis in die letzte Reihe, seine Augen strahlten, und die Worte der Hochzeitszeremonie schienen seine Inbrunst zu schüren. Und als er sagte: »Und damit erkläre ich euch zu Mann und Frau«, fühlte sie sich wirklich und wahrhaftig verheiratet. Glücklich verheiratet. Für immer und ewig. Sie konnte sich glücklich schätzen.

Und als sie aus der Kirche ins strahlende Sonnenlicht traten, sah sie die Grüppchen von Schulmädchen, die ihre Mittagspause damit zubrachten, kichernd und mit strahlenden Augen die Braut in ihrem Kleid zu bewundern und ihrem Ehemann schmachtende Blicke zuzuwerfen. Sie wusste, dass sie sich häufiger um die Mittagszeit vor der Kirche einfanden – schließlich hatte sie das Jahre zuvor selbst auch getan –, hätte aber nicht einmal im Traum daran gedacht, jemals selbst im Mittelpunkt derartiger atemloser Bewunderung zu stehen. Nie im Leben. Oh, wenn Mama nur lange genug gelebt hätte, um diesen Tag noch erleben zu dürfen! Es hätte sie so glücklich gemacht, ihre arme, unscheinbare Tochter am Ende doch noch als Braut zu sehen.

»Mrs. Tallant, unsere Gäste werden sich schon wundern, weshalb wir wohl mitten auf Straße herumstehen, wo wir uns ihnen doch anschließen sollten.«

»Sie haben selbstverständlich Recht, Mr. Tallant.« Mann und Frau! Mann und Frau! Ihr Herz konnte einfach nicht aufhören, diese wunderbaren Worte vor sich hin zu singen. Sie passte ihre Schritte den seinen an. Doch an der Ecke blieb sie stehen und sah verärgert auf ihre schmalen weißen Schuhe hinab. Die Pomegranate Street bestand aus festgetretener Erde, und die Willow Street hatte zwar Kopfsteinpflaster, doch verlief in der Mitte ein schmaler Abflussgraben. Die irischen Straßenreinigungstrupps kamen jeden Morgen, um die Abfälle einzusammeln, doch bereits am Nachmittag lagen sie wieder überall herum.

Sie raffte ihre Röcke und Unterkleider mit einer Hand und schickte sich an, die Straße zu überqueren, als Ned sie zu ihrer Überraschung auf seine Arme hob. »Wenn ich bei dir bin, brauchst du dir über irgendwelche Hindernisse keine Gedanken zu machen«, sagte er, was ihr unwillkürlich einen Schauer über Rücken und Arme jagte. Sie ließ ihren Kopf gegen seine kräftige Schulter sinken und gab sich dem Gefühl hin, klein und zart zu sein und geliebt zu werden.

Vor dem Bürgersteig setzte Ned sie wieder auf dem Boden ab, und Arm in Arm gingen sie die breiten Steinstufen hinauf und traten vor die großen Türen, die sich wie von Zauberhand öffneten, um sie eintreten zu lassen. In diesem Backsteingebäude soll das Glück zu Hause sein, schwor sich Amy voller Überzeugung. Ihr Glück würde ihren Vater mehr als entschädigen. Immerhin hatte das Haus in der Pomegranate Street Nummer 7 beinahe zwanzigtausend Dollar gekostet – ein kleines Vermögen. »Dieses Haus ist mein Hochzeitsgeschenk an meine geliebte Tochter, mein einziges Kind. Sie hat gesagt, dass es gotisch sein soll. Und wenn Miss Benedict ein Haus im gotischen Stil will, dann will ich, dass sie es auch bekommt – auch wenn es zwanzigtausend Dollar kostet«, hatte Vater zum Architekten gesagt.

»Mr. Benedict, dieser Stil wird aber nicht von jedermann als schön empfunden. Oder als angemessen.«

Doch Vater hatte nur gelacht und ihr liebevoll zugelächelt. »Mr. Lefevre, meine Tochter kümmert die Meinung der Nachbarschaft nicht, das kann ich Ihnen versichern.«

»Bravo!«, hatte der Mann mit verschwörerischem Lächeln erwidert. »Nun, Miss Benedict, dann werde ich ein Haus für Sie entwerfen, das unvergesslich sein wird.«

Schon vor langer Zeit hatte ihr Vater die ganze Straßenseite gekauft und versprochen, er wird ihr einen Bauplatz für ein eigenes Haus zur Verfügung stellen, sobald sie heiratet. Beim Gedanken daran, wie sie ihn all die Jahre damit geneckt hatte, musste sie unwillkürlich lächeln. »Ich schätze, du wirst dich von diesem Fleckchen Erde in der Pomegranate Street niemals trennen müssen. Denn es scheint, als würde mich kein Mann in Brooklyn haben wollen.«

»Eines Tages, Missy, wird ein Mann des Weges kommen und dich und all deine wunderbaren Fähigkeiten zu schätzen wissen, keine Sorge.«

Welche wunderbaren Fähigkeiten? Ihre großen Hände? Ihre nicht vorhandenen Brüste? Das schmale, blasse Gesicht, das ihre Mutter stets mit aufrichtiger Besorgnis betrachtet hatte? Aber der Vater hatte natürlich ihre Bescheidenheit, ihre Unschuld, ihre Intelligenz gemeint und vielleicht noch ihr kleines Talent für Aquarellmalerei und die Fähigkeit, Für Elise auf dem Klavier zu spielen.

Doch sie wussten beide, dass kein Mann nach solchen Dingen verlangte – wenn nicht wenigstens ein Quäntchen an Schönheit damit einherging. Und davon besaß sie, wie sie nur allzu gut wusste, eindeutig zu wenig. Einige Herren hatten ihr zwar auch schon mal gesagt, sie besäße eine edle Stirn und hübsche Augen. Trotzdem fühlten sie sich niemals veranlasst, sich in ihre Tanzkarte einzutragen, ihre Initialen in die Rinde eines der Bäume auf der »Love Lane« zu ritzen oder sie in einen Schatten zu ziehen, um einen verstohlenen Kuss von ihr zu ergattern.

Aber wen kümmerte das jetzt noch? Sie war Mrs. Edward Tallant, und wenn sie in vielen Jahren ihre Kinder vor dem Kamin um sich scharen und ihnen erzählen würde, was für ein hässliches Entlein sie einmal gewesen war, dann würden sie lachen, ihr einen Kuss auf die Wange drücken und sagen: »Aber nein, Mama. Niemals. Du bist doch die hübscheste Frau auf der Welt!« Fanden nicht alle Kinder ihre Mütter schön – selbst die Bengel auf den Straßen von Irishtown, deren Mütter graue und verhärmte Gesichter hatten, in denen sich die Müdigkeit und die Armut so unverkennbar abzeichneten? Ihre Kinder … allein der Gedanke daran ließ ihr beinahe den Atem stocken.

»Amy!« Neds ungeduldige Stimme holte sie in die Gegenwart zurück. Wie immer hatte sie ihre Gedanken unbekümmert schweifen lassen. Aber jetzt war es genug, schließlich war sie eine verheiratete Frau mit einem eigenen Haus und zahlreichen Verpflichtungen. Sie lächelte ihren Ehemann an, und gemeinsam betraten sie die großzügige Eingangshalle, wo ihre Gäste bereits mit erhobenen Gläsern warteten, um auf die frisch Vermählten anzustoßen. Amy arbeitete sich durch unzählige Umarmungen und Küsse, ehe sie schließlich vor Harriet Hewitt, ihrer besten Freundin, stehen blieb.

»Ja, meine liebe Amy, du hast in der Tat das schönste Haus«, sagte Harriet. »Du bist in der Tat die glücklichste Frau der Welt. Und Ned Tallant ist in der Tat der wundervollste Mann auf der Welt! Und darüber hinaus hast du einen Salon, und ich kann in Margaret Rawlings’ Augen sehen, dass sie und Henri in ihrem Haus auch einen haben müssen, sonst platzen sie!«

Sie brachen in Gelächter aus und fielen sich in die Arme. Harriet machte sich nur allzu gern über andere lustig. Die beiden waren seit ihrem sechsten Lebensjahr befreundet, und in all den Jahren war niemals ein böses Wort zwischen ihnen gefallen. Kein Tag verging, an dem sie nicht miteinander sprachen oder sich zumindest schrieben. Harriet war bereits seit Jahren verheiratet, und Amy war Taufpatin ihres Sohnes Thomas.

»Ich spotte nur. Ich liebe dein Haus, ganz besonders den Teesalon.« Amy strahlte vor Freude. Der Teesalon war inzwischen auch ihr Lieblingszimmer geworden. Durch eine Reihe Bogenfenster an seiner rückwärtigen Wand blickte man in den Garten mit den Feigen- und Aprikosenbäumen, der Trauerweide, der Stechpalme, dem Piment- und dem Lorbeerbaum, den Beeten mit unzähligen bunten Blumen und mit dem ordentlichen, kleinen Küchengarten, der von einer niedrigen Mauer umgeben war. Sie hakte sich bei Harriet unter und schlenderte in Richtung Teesalon, wo sich bereits zahlreiche Gäste um den Bräutigam scharten.

An der Tür blieb sie einen Moment lang stehen und genoss den Anblick der vielen Menschen, die gekommen waren, um mit ihnen zu feiern. Die Sonnenstrahlen, die durch die Fenster fielen, ließen das Rot und Blau der Perserteppiche strahlen und spiegelten sich in den schlanken Champagnergläsern wider. In vielen Jahren würde sie genau hier sitzen, umgeben von Freunden und Nachbarn, würde Tee einschenken und angenehme Gespräche führen – natürlich auch ein wenig Klatsch, aber nichtsdestotrotz angenehme und schöne Gespräche vielleicht über den neuesten Roman von Sir Walter Scott, Mr. Beechers Sonntagspredigt, die Probleme mit der Sklaverei –, während sie aus dem zarten Porzellan trinken würden, das Vater ihrer Mutter vor so vielen Jahren aus China mitgebracht hatte. Und dann würde das Kindermädchen die Kleinen hereinbringen, die alle Neds glänzendes, rabenschwarzes Haar und die dunklen, tief liegenden Augen hätten. Wie viele? Drei. Nein, vier.

Amy lachte innerlich auf. Noch nicht einmal eine Stunde verheiratet, und schon plante sie ein weiteres Kind! Bei diesem Gedanken wanderte ihr Blick zur Treppe, die hinauf in die Kammer im zweiten Stock führte, wo Neds und ihr Ehebett stand, auf dem sich dicke, mit feinstem Leinen bezogene Federdecken, Polster und Kissen türmten. Dort würden sie für den Rest ihres Lebens jede Nacht nebeneinander liegen. Sie spürte, wie das Blut in ihre Wangen stieg. Wenn jemand in diesem Augenblick ihre Gedanken lesen könnte, würde sie zweifellos als schamloses Flittchen, als Dirne gelten.

Doch sie konnte nicht anders. Wann immer Ned ihre Hand nahm oder sich zu ihr hinunterbeugte, um ihr einen sanften Gutenachtkuss auf die Wange zu drücken, wurden ihre Knie weich, und ihr Herz schlug bis zum Hals. Selbst beim bloßen Gedanken daran keimte eine lebhafte Erinnerung an seinen Duft in ihr auf – diesen Geruch nach Zigarren, Rum und nach etwas leicht Süßlichem, das sie jedoch nicht benennen konnte. Schon bald würde sie das wissen, worüber sie im Moment nichts als Spekulationen anstellen konnte. Sie holte tief Luft und ermahnte sich, an etwas anderes zu denken. Doch es wollte ihr nicht gelingen. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was sich wirklich zwischen einem Mann und einer Frau abspielte. Sie wusste nur, dass sie es über sich würde ergehen lassen müssen. Aber … was würde sie über sich ergehen lassen? Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte es sich einfach nicht vorstellen.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich in ihrem spitzenbesetzten Batist-Nachthemd unter der Bettdecke liegen, so dass nur noch ihre Hände zu sehen waren – ihre Hände, an deren linker nun ihr Ehering steckte. Sie sah Ned vor sich, sein geliebtes schroffes Gesicht, das sich ihrem immer weiter näherte, und dann …? Nichts. Schwärze. Vielleicht war es ja wirklich so unerfreulich, wie alle behaupten. Aber Ned war doch die Freundlichkeit in Person. Er würde ihr niemals wehtun. Niemals.

Sie musste sich diese Gedanken verbieten. Schrieb nicht Catherine Beecher so überzeugend, dass die Frauen von heute lernen mussten, sich von der Leidenschaft abzuwenden? »Leidenschaftslosigkeit ist eine Bestätigung der Würde der Frau.« Amy war sich nicht sicher, ob sie diese Meinung teilte, zumindest nicht gänzlich. Dennoch war es wichtig, sich nicht von niedrigen Gefühlen übermannen zu lassen, sondern dafür zu sorgen, dass man sich auf einem höheren spirituellen Niveau befand.

Erst vor wenigen Wochen hatte sie einen Vortrag am Brooklyn Institute besucht, wo die Rednerin die Frauen ermahnt hatte, die »Beherrscherin der Leidenschaft« in ihrem Heim zu sein. »Es ist Aufgabe der Frau, anzunehmen oder zu verwehren, zu gewähren oder zu verweigern.« Was für machtvolle Worte, was für ein machtvoller Gedanke! Dass Frauen, die in allen anderen Belangen stets als das schwache Geschlecht galten, diejenigen sein sollten, die plötzlich das Sagen hatten!

Inzwischen wandte sich die Hochzeitsgesellschaft ihr zu, lächelte und klatschte, während Edward an ihre Seite eilte, ihre Hand nahm und sie zärtlich küsste. »Die Braut!«, rief jemand, worauf alle ihr Glas erhoben und ihr zuprosteten. Amys Augen füllten sich mit Tränen. All das war so wunderschön. Alle, die ihr nahe standen und ihr am Herzen lagen, waren versammelt, um ihr Glück mit ihr zu feiern – ihr und Neds Glück natürlich. Der einzige Schatten, der diesen Tag trübte, war die Tatsache, dass niemand von Neds Familie anwesend war. Seine Eltern waren schon lange vor ihren Schöpfer getreten, und Ned war ein Einzelkind.

»Deine Familie ist nun auch die meine und liegt mir sogar noch mehr am Herzen. Deine Freunde sind die meinen, weil du mein bist«, hatte er gesagt, worauf ihr Tränen in die Augen getreten waren.

Nun standen Ned und sie beisammen, lächelten und plauderten mit ihren Gästen, während sie mit einem Auge ständig darüber wachte, dass alles perfekt arrangiert war und ihre Gäste sich wohl fühlten. Ihr Blick fiel auf Brigit, ihr neues Dienstmädchen, das in ihrem Kleid, der Schürze und dem gestärkten Häubchen auf ihrem dichten, schwarzen Haar ordentlich und gepflegt aussah. Zufrieden beobachtete sie, wie Brigit knickste, während sie Champagner nachschenkte, den Blick senkte und leise sprach. Sie hatte sie praktisch vom Fleck weg engagiert, was ihr zunächst ein wenig Sorgen bereitet hatte. Brigit war ihr erstes irisches Dienstmädchen, und alle um sie herum hatten sich zu düsteren Prophezeiungen und Warnungen bemüßigt gefühlt.

Ins Haus der Benedicts in der Columbia Street war Brigit gekommen, ohne den Unterschied zwischen einem gusseisernen Kochtopf und einer silbernen Terrine zu kennen. Sie hatte noch nie in ihrem Leben einen Brüsseler Teppich gesehen, ja wahrscheinlich noch nicht einmal so etwas wie den polierten Holzboden darunter. In einem Raum mit Lehmboden und einer Feuerstelle mit einem einzelnen Topf darauf war Brigit O’Neal aufgewachsen. »Aber, Miss, ich brenne darauf, zu lernen, wie man die richtigen Dinge tut und sagt.«

»Sehr gut, Brigit, ich nehme dich beim Wort«, hatte Amy erwidert und sofort damit begonnen, ihr neues Mädchen zu unterweisen. Und was für eine Aufgabe war daraus geworden! Wochenlang hatte sie nahezu jeden Augenblick des Tages für die Ausbildung von Brigit aufgewendet. So hatte sie ihr gezeigt, wie das Mobiliar abzustauben war, wie man an die Tür ging und die Gäste in der richtigen Weise begrüßte. Sie hatte Brigit sogar zeigen müssen, wie man die große Zinkwanne in der Küche zum Baden benutzte, und hatte sie angewiesen, jede Woche ihr schweres, gelocktes Haar zu waschen.

Das Mädchen hat sehr schnell gelernt. Und am Ende hat es sich als äußerst erfrischend erwiesen, zu beobachten, wie es unter dem Einfluss ihrer Herrin aufgeblüht ist. »Langsam kann ich mir vorstellen, wie es sein muss, ein Kind großzuziehen«, hatte Amy eines Nachmittags zu Harriet gesagt. »Ich glaube, deine Aufgabe ist noch schwieriger«, hatte Harriet lachend erwidert. »Ich meine, dein irischer Schützling muss sich erst ihre schlampige Arbeitsweise abgewöhnen, bevor sie in der Lage ist, zu erfassen, was du ihr beibringst.«

Schlampig? Nein. Unwissend, nicht ausgebildet und unerfahren. Aber mit einer sehr raschen Auffassungsgabe gesegnet. Immerhin hatte sie in den drei kurzen Monaten ihren auffälligen irischen Dialekt abgelegt, so dass nur noch ein kleiner, durchaus charmanter Hauch davon zu hören war. Und man brauchte sie nur anzusehen! Mit ihrem schwarzen Haar, den tiefen Grübchen und den hellgrünen Augen, die umgeben waren von dichten, langen Wimpern, sah sie beinahe hübsch aus. Sie war lebhaft und gelehrig, so dass ihr Amy sogar das Lesen und Schreiben beibrachte.

Doch das hatte sie bisher keiner Menschenseele anvertraut. Sie wusste genau, dass Harriet sie nicht verstehen würde. Vater würde nur die Brauen heben und ihr einen belustigten Blick zuwerfen: Er war an die manchmal etwas eigenwilligen Einfälle seiner Tochter gewöhnt und konnte damit umgehen, selbst wenn er anderer Meinung war. Und Ned wollte sie damit überraschen, denn sie hatte vor, Brigit ab sofort als ihr Stubenmädchen einzusetzen.

Ah, und hier war endlich Mr. Beecher, der die Hände nach Ned und ihr ausstreckte und seine guten Wünsche kundtat. Was für ein hervorragender Prediger er doch war. Es war ein so großes Glück, ihn in Brooklyn Heights zu haben. Er war einer derjenigen, die an vorderster Front leidenschaftlich für die Abschaffung der Sklaverei kämpften. Wann immer er in der Kirche predigte, strömten die Leute herein, so dass kaum noch Platz zum Stehen war. Um in Henry Ward Beechers Kirche zu gelangen, musste man immer nur der Menschenmenge nachgehen.

Strahlend musterte Beecher das Paar, griff nach einem Glas Champagner, hob es und sagte: »Meine Damen und Herren, das glückliche Brautpaar. Möge es gedeihen … und sich vermehren.« Seine etwas zögerliche Aufforderung wurde mit unterdrücktem Gelächter quittiert. »Ihre geheiligte Liebe soll frei sein von Eigennutz, so tief wie das Leben und stärker als der Tod«, fuhr er fort. »Am heutigen Tage sind wir Zeugen, dass diese beiden jungen Menschen bereit sind, zum größten und nobelsten Abenteuer des Lebens aufzubrechen. Das Ziel ihrer Verbindung soll eine neue Familie sein. Das höchste Gut, das ein Mann in einer Gesellschaft haben kann, ist seine Familie. Derjenige, der eine gute Familie sein Eigen nennt, hat seinem Land wahrlich ein unersetzliches Geschenk gemacht. Und was unsere errötende Braut betrifft – ihre Freude und Pflicht werden ihre vielen Kinder sein, mit denen sie gesegnet sein wird, wie wir alle hoffen.« Zustimmendes Gemurmel. »Das Herz des Hauses ist, wie wir alle wissen, die Mutter. Die Liebe einer Mutter ist einzigartig, sie ist unersetzlich und heilig. Die Liebe einer Mutter erfüllt ein Heim, schenkt ihm gemeinschaftliche Stärke und spirituelle Harmonie. Wir, die Amy Benedict Tallant kennen, wissen, dass sie im Sinne aller christlichen Ideale der Ehefrau und Mutterschaft leben wird.«

»Hört, hört«, murmelten die Gäste, die sich um den Prediger versammelt hatten.

»Und deshalb, meine Damen und Herren, überlasse ich Ihnen nun mit allen Wünschen für ihr Glück und ihre Gesundheit – Mr. und Mrs. Edward Tallant.«

»Mr. und Mrs. Edward Tallant«, wiederholten die Gäste und leerten ihre Gläser.

Nun trat Amys Vater einen Schritt vor, um seinen Toast auszubringen. »Edward, du hast eine sehr außergewöhnliche Frau geheiratet. Ich warne dich, sie hat ihren eigenen Kopf, der so manches Mal ungewöhnliche Wege einschlägt, ehe er schließlich den heimatlichen Hafen erreicht.« Diese Bemerkung löste leises Gelächter bei den Anwesenden aus, das er mit einem wohlwollenden Nicken quittierte. »Auf den stolzen Kapitän und seinen großartigen ersten Maat. Möge ihre Reise über die Meere des Lebens vom Himmel gesegnet sein.«

»Auf Amy! Auf Ned!«, stimmten die Anwesenden mit erhobenen Gläsern ein.

»Oh Vater!« Amy schlang ihre Arme um seinen Hals und drückte ihn an sich.

»Der nächste Toast ist der meine!«, rief Ned und ließ sich nachschenken.

Amy trat einen Schritt zurück und musterte liebevoll und stolz ihren Bräutigam. Er überragte beinahe sämtliche Anwesenden und stach mit seinem glänzenden, dunklen Haar und den breiten Schultern aus jeder Menge hervor. »Auf Amy«, sagte Ned, hob sein Champagnerglas und lächelte den Versammelten zu. »Eine Frau von so ausgeprägtem Feingefühl, dass ich mich nur fragen kann, weshalb sie ein Raubein wie mich ausgewählt hat. Diese zarte Blüte der Weiblichkeit bedarf sorgfältiger Aufzucht und guter … Pflege.« Die Bemerkung löste schockiertes, doch zustimmendes Lachen aus, und Amy hatte das Gefühl, im nächsten Augenblick vor Stolz über Neds Esprit und seine Unbekümmertheit platzen zu müssen.

»Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, Amy«, fuhr er fort und wandte sich ihr zu, um ihr ins Gesicht sehen zu können, »um dafür zu sorgen, dass die rauen Winde des Geschäftslebens dir niemals Schaden zufügen, so dass du dich deiner Aufgabe widmen kannst, den Garten unserer Liebe und Zuneigung zu hegen und zu pflegen. Ich werde mich bemühen, dafür Sorge zu tragen, dass die Sonne stets auf dein helles Haar scheint und dass du und unsere Kinder im angenehmen Klima unserer Verbindung gedeihen. Ich werde dich immer beschützen, dich ehren und darauf Acht geben, dass dich die Härten des Lebens außerhalb unserer heiligen vier Wände niemals treffen werden.«

Er trank ihr zu, dann wartete er, bis sämtliche Anwesenden seinem Beispiel folgten und ebenfalls noch einmal die Gläser hoben. Amy spürte, wie sich ihre Wangen röteten. Sie war nicht daran gewöhnt, auf diese Weise im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu stehen. Vielleicht fühlte sie sich deshalb ein wenig unbehaglich. Verwirrt nahm sie einen Schluck aus ihrem Glas – und sah direkt in Harriets blaue Augen, die auf ihr ruhten. In diesem Moment hob Harriet eine Augenbraue – eine Geste, die typisch für sie war und die Amy verriet, dass ihrer Ansicht nach etwas gefehlt hatte. Und im nächsten Augenblick wusste Amy ganz genau, was ihr Sorgen bereitete.

Ned hatte mit großer Überzeugungskraft und voller Wärme gesprochen, und sie war sich sicher, dass alle im Raum seine Worte als reizend und liebevoll empfanden. Alle – außer ihr und Harriet Hewitt.

In seiner Ansprache war nicht ein einziges Wort vorgekommen, mit dem er sie beschrieben hätte. Sie wusste, dass sie Ned Kummer bereitete. Nur allzu oft ertappte sie ihn dabei, wie er sie mit völlig verblüfftem Gesichtsausdruck anstarrte. Er konnte nicht verstehen, was in ihrem Kopf vorging und weshalb sie sich so sehr von anderen unterschied. Und wenn sie versuchte, es ihm zu erklären, war er nur umso verwirrter.

Erst vergangene Woche hatte sie ihm ein kurzes Pamphlet gezeigt, das sie gegen die Sklaverei verfasst hatte. Sie wollte, dass er ihre Ansichten zum Thema Sklaverei nicht nur als Frauengerede abtat. Sie wollte, dass er sie besser kennen lernte. Schließlich war dies doch Sinn und Zweck der Verlobungszeit: ein Maß an Intimität zu erlangen, aus dem später eine harmonische Ehe erwachsen konnte.

Doch er hatte nur einen flüchtigen Blick darauf geworfen, so dass er den Inhalt unmöglich erfasst haben konnte, und gesagt: »Warum kannst du einfach nicht deine Rolle als Frau anerkennen?«

Beim Gedanken daran spürte sie einen Stich der Enttäuschung in ihrem Inneren. Hatte er ihr nicht immer erzählt, wie sehr er ihre Intelligenz, ihre guten Manieren und ihre Bildung bewunderte? An diesem Abend hatte sie ihn noch einmal daran erinnert.

»Ja, meine Liebe, aber damit habe ich natürlich die Rolle als meine Frau gemeint. Ich bin sehr stolz auf deine vielseitige Bildung. Aber … eben auf deinem eigenen Gebiet, Amy. Ich halte es für löblich, dass du über eine gut leserliche Handschrift verfügst und das Haushaltsbuch eigenständig führen kannst und … dass du dich um die Erziehung unserer Kinder kümmerst. Was ich jedoch nicht verstehen kann, ist, weshalb du dich nicht mit dem abfinden kannst, wozu du geboren bist. Nun, ich bin sicher, du wirst ein wenig ruhiger werden, wenn du erst einmal Kinder bekommen hast.«

»Ja, das werde ich wohl«, hatte Amy ihm erwidert. Armer Ned. Er musste noch so vieles über die Frauen lernen, aber statt es ihm zu erschweren, musste sie versuchen, die Dinge ein wenig leichter für ihn zu machen.

Harriet hatte ihr schon immer prophezeit, ihre rasche Auffassungsgabe würde ihr irgendwann zum Verhängnis werden. »Deine Zunge wird dich noch mal ins Unglück stürzen, Amy Benedict.

Eine Frau muss stets Herrin ihrer Worte und ihres Benehmens sein. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir den Ruf eines zänkischen alten Weibsstücks, einer alten Hexe oder einer Klatschbase bekommen.«

Sie wollte ein guter Mensch und eine ebenso gute Ehefrau sein, und nun waren die Würfel gefallen. Sie war Mrs. Edward Tallant, bis dass der Tod sie schied, und es war ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass ihre Ehe glücklich wurde.

Ohne auf Harriets wissenden Blick einzugehen, schaute sie zu Ned und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

Ned Tallant ließ seine Augen durch den Raum schweifen. Die Crème der Gesellschaft von Brooklyn war hier versammelt, und nun war er Teil von ihr, was ihn über die Maßen freute. Denn seit dem Tag, als er einen Koffer gepackt und die Schmiede seines Vaters und das überfüllte, schäbige Holzhaus in Schenectady hinter sich gelassen hatte, in dem er sein ganzes Leben verbracht hatte, war genau dies sein Ziel gewesen. Er wollte verdammt sein, wenn er den Rest seines Lebens damit zubrachte, den Pferden anderer Leute neue Hufe zu schmieden und ihre Töpfe und Kessel zu flicken. Er war für Höheres bestimmt. Es musste einen Grund geben, weshalb er mit einem angenehmen Äußeren und einem brillanten Verstand gesegnet war. Und dieser Grund war ganz bestimmt nicht, dass er sich in der höllischen Hitze einer Schmiede zu Tode schwitzte. Nein, Ned Tallant würde sein Leben in bester Gesellschaft und umgeben von Luxus verbringen!

Aber als er nach Kalifornien gekommen war, waren die besten Claims unglücklicherweise bereits abgesteckt gewesen. In dieser grässlichen Zeit war das Glück nicht auf seiner Seite. Er hatte kein Glück im Geschäft, kein Glück im Spiel und ganz besonders nicht in der Liebe. Aber das war jetzt vorbei, und inzwischen war er ein anderer Mann. Die Jahre in Kalifornien, der Kampf, der Schmutz, die Enttäuschungen, die zerstörten Träume – all das war wie weggewischt. Auf dem Weg zurück in den Osten hatte er sich geschworen, dass er diese drei Jahre vergessen würde. Und sollte ihn jemand danach fragen, würde er antworten: »Während des Goldrauschs bin ich nach Kalifornien gegangen, um ein Abenteuer zu erleben. Ich habe meinen Teil abbekommen.« Das würde genügen. Das, sein Aussehen und seine guten Manieren.

Und er hatte Recht behalten, oder nicht? Denn er war in New York – nun ja, zumindest beinahe –, der aufregendsten Stadt der Welt, und er hatte eine reiche Erbin geheiratet. Keine Schönheit, aber eine Frau, die einigermaßen nett, angenehm und eifrig darauf bedacht war, ihm Freude zu bereiten. Wenn er Schönheit suchte, nun, dann würde sie sich an anderen Orten ohne weiteres finden lassen. Was würde wohl sein Vater sagen, wenn er ihn heute hier sähe: in seinem neuen, maßgeschneiderten Anzug, während er seiner reichen Braut mit dem besten französischen Champagner aus exquisitestem, österreichischem Kristallglas zuprostete. Er würde Ned auf den Rücken klopfen und sagen: »Das ist mein Junge! Heirate die Tochter des Chefs, genau mein Ratschlag!«

Aber nein, das war reine Phantasie. In Wahrheit würde sein Vater mit finsterer Miene auf dem Absatz kehrtmachen und irgendetwas murmeln wie: Mein Sohn hat sich schon immer wie ein feiner Pinkel benommen und versucht, jemand zu sein, der er in Wahrheit nicht ist. Genau das ist es gewesen, was Ned von seinem Erzeuger zu hören bekommen hat, wenn er versucht hat, seine Lebenslage zu verbessern. Niemals ein ermutigendes Wort, nicht von George Tallant. Ned sollte in den Verhältnissen leben, in die er hineingeboren worden war, und so sterben, wie er gelebt hatte. Er sollte nicht nach irgendetwas anderem streben als dem, was die Familie schon immer ernährt hat. Zum Teufel damit!

Und nun hat er es getan! Er hat es tatsächlich getan! Er war ein gemachter Mann. Horace Benedict hatte ihn schon als seinen Sohn betrachtet, noch bevor Reverend Beecher überhaupt die Worte aussprach, die ihn endgültig an Amy banden.

Die Umstände, unter denen er Horace kennen lernte, waren wirklich außergewöhnlich. Es war an einem düsteren, feuchten Februartag, und in den Docks an der South Street stank es erbärmlich nach verfaulendem Fisch und all den anderen Abfällen, die dort abgeladen wurden. Um dem Regen zu entgehen, betrat er eine Taverne am Catherine Slip. Neben ihm standen drei Männer am Tresen und unterhielten sich über Geschäfte – offenbar waren sie im Reedereigeschäft –, und ein grauhaariger Herr beklagte sich bitter, wie schwierig es sei, einen guten Assistenten zu finden, um den jungen Mann zu ersetzen, der in den Westen gegangen war, um dort sein Glück zu machen.

Ned holte tief Luft. Brachte er den Mut auf, die Gelegenheit beim Schopf zu packen?

»Entschuldigen Sie, Sir, aber ich habe zufällig Ihr Gespräch mit angehört. Ich war im Westen, deshalb liegt mein Abenteuer bereits hinter mir. Ich habe im Reedereiwesen in San Francisco und in New Orleans Erfahrungen gesammelt …« Was nur zum Teil gelogen war, denn er hatte tatsächlich als Schiffsbelader gearbeitet. Dies kam der Wahrheit nahe genug, und er wusste aus langjähriger Erfahrung, dass er in der Lage war, sich neue Dinge sehr rasch anzueignen. »Wie es der Zufall will, Sir, bin ich neu in New York und suche nach einer Stellung. Vielleicht würden Sie es ja für eine Woche mit mir versuchen.«

Und seine entschlossen und aufrichtig vorgebrachten Worte fielen auf fruchtbaren Boden. Horace Benedict – denn mit ihm sprach Ned – musterte ihn durch den Dunst der Taverne von oben bis unten und fand offenbar Gefallen an dem, was er sah …

»Sie sehen wie ein Gentleman aus«, sagte Horace nach einem Moment, »und Ihr Auftreten gefällt mir. Außerdem sehen Sie aus, als hätten Sie genug Kraft, auch noch dem übelsten Unruhestifter standzuhalten. Ja, Sie sehen aus, als wären Sie in der Lage, mit allem fertig zu werden, und glauben Sie mir eines, junger Mann, genau das passiert in einer großen Reederei jeden Tag.«

Ned lächelte in sich hinein. Der Arbeit in der Schmiede seines Vaters hatte er seine kräftige Brust und seine breiten Schultern zu verdanken, und zum ersten Mal in seinem Leben war er froh, dass man ihn gezwungen hatte, all die Jahre am Blasebalg zu arbeiten.

Er hatte keine schriftlichen Referenzen vorzuweisen und hätte ohne weiteres auch ein Dieb oder ein Hochstapler sein können. Nichtsdestotrotz verließ sich Horace, wie er ihm später anvertraute, »auf sein Gefühl, dass es funktionieren würde«, und engagierte ihn vom Fleck weg. Und Horace hatte nie einen Anlass, seinen spontanen Entschluss zu bereuen. Einen angemessenen Platz in der Gesellschaft einzunehmen, das war alles, was Ned Tallant wollte. Und nun hatte er es geschafft. Endlich konnte er sich entspannen und sich zurücklehnen.

Er war verheiratet, seine Existenz war gesichert, er stand in seinem neuen Zuhause und mischte sich unter all die feinen Pinkel. Das Mittagessen an seinem Hochzeitstag hatte aus Austern und Champagner bestanden, und schon bald würden die Geiger eine Weise anstimmen, zu deren Klängen die Hochzeitsgesellschaft tanzen würde. Seine Hochzeit war das gesellschaftliche Ereignis dieser Frühlingssaison und würde im Daily Eagle mit einem detaillierten Artikel bedacht werden. Am liebsten hätte er laut aufgelacht, als er darüber nachdachte, wie gut das Leben doch war.

In diesem Moment begegneten seine Augen denen Amys. Erfüllt von einem ungeahnten Gefühl der Zuneigung für sie, ging er auf sie zu. Sie entsprach keineswegs seiner Vorstellung von Schönheit, und sie war zweifellos dünner als jede andere Frau, mit der er je das Bett geteilt hatte. Aber, bei Gott, sie war seine Frau, und ihre unverhohlene Bewunderung für ihn rührte ihn zutiefst und weckte ein Gefühl der Zärtlichkeit in ihm. Sie verdiente es, dass er sich Mühe gab. Er hatte sich geschworen, sich zu bemühen, sie zufrieden zu stellen.

Dennoch war sie ein seltsames Geschöpf, das ständig zu viel redete und so viele Flausen und merkwürdige Ideen im Kopf hatte. Sie redete zum Beispiel so liebevoll von diesem Haus wie die meisten Leute von ihren Kindern. Ihm gefiel das Haus durchaus gut – es hatte ein Vermögen gekostet, es zu bauen, von der Einrichtung einmal ganz abgesehen –, und es war zweifellos der schönste Ort, den er je sein Eigen genannt hatte. Doch es war bei weitem nicht mit dem Anwesen der Benedicts zu vergleichen. Für den Augenblick würde es noch genügen, aber für die Zukunft hatte er ehrgeizigere Träume. Er hatte Pläne, auch wenn es vorläufig klüger war, sie seinem Schwiegervater gegenüber nicht zu erwähnen.

Zum einen hatte er die Absicht, eines Tages in diesem schönen weißen Haus zu leben, das ein gebührliches Stück von der Straße zurückversetzt stand und mit seinen Rasenflächen und Blumenbeeten, den schattigen Eichen, Ulmen, Walnuss- und Kastanienbäumen so ruhig und friedvoll aussah.

Er würde nie den Tag vergessen, an dem Amy ihm erzählte, was ihr Vater damit vorhatte. »Es ist ein Haus, das seines Meisters würdig ist«, bemerkte er. »Ich hoffe, ich bin seiner auch eines Tages würdig.«

»Was meinst du damit?« Amy klang ein wenig verblüfft.

»Warum … ich meine, eines Tages, wenn dein geliebter Papa nicht mehr … nun, wenn er von uns gegangen ist, werden wir natürlich dort leben.«

»Oh, nein, Ned. Niemals.«

»Was soll das heißen?« Seine Stimme klang schärfer als beabsichtigt. Aber es gefiel ihm nicht, wenn eine Frau in diesem Ton mit ihm sprach.

»Oh, mein Lieber. Es tut mir Leid. Ich … ich dachte nur, du wüsstest es. Vater will, dass das Haus nach seinem Tod auf das Seaman’s Institute übergeht, so dass ältere, mittellose Seeleute die Möglichkeit haben, darin zu wohnen. Es ist sein Wille. Deshalb werden wir niemals darin wohnen.«

»Damit willst du mir also sagen … dass dieses herrliche Anwesen einmal in die Hände tattriger alter Saufbolde geraten wird, die mit dem Messer Schnitzereien in die Mahagonivertäfelungen machen und auf die Teppiche spucken? Das kann nicht sein Ernst sein«, rief er verblüfft. Sie standen auf der Columbia Street. Er öffnete das Tor und ging den Pfad zu den Bäumen hinauf, wobei er vollkommen vergaß, den Arm seiner Verlobten zu nehmen.

Sie folgte ihm und schwatzte weiter. Sie war mit dem Wissen groß geworden, was aus dem Haus einmal werden würde. Für sie war es vollkommen normal.

»Oh, Ned«, fuhr sie leichthin fort. »Niemand wird irgendwelche Schnitzereien ins Treppengeländer machen oder sonst einen Schaden anrichten. Und du kennst doch Vaters Ansichten. Er sagt so oft, dass er nur ein Fischer aus Gloucester ist, der hierher kam und sein Vermögen nur dank Gottes Gnade und des Schweißes ehrlicher Seeleute gemacht hat. In Vaters Augen ist es so, dass er eine Schuld damit begleicht.«

»Es gibt keinen Mann, für den ich größere Bewunderung hege als für deinen Vater. Aber ich bin anders und hoffe sehr, dass ich einmal alles meinen Söhnen vermachen werde. Dein Vater hat keine Söhne. Bis jetzt natürlich. Ab jetzt wird alles ganz anders werden …«

Inzwischen hatten sie den Garten erreicht, wo das Grundstück in Richtung Fluss hin abfiel. Unmittelbar unterhalb von ihnen lagen hunderte Schiffe mit Masten wie ein Wald schlanker, hoch aufragender Bäume. Einige von ihnen lagen vor Anker, während zahlreiche andere langsam an ihnen vorbeizogen. Barkassen, Zweimaster, Schaluppen, Schoner, Klipper – bestückt mit den Flaggen so vieler Länder, in Diensten so vieler Reedereien.

Auf der anderen Seite des Flusses war die gesamte Spitze Manhattans mit seinen dicht an dicht stehenden Häusern und den zahllosen Werften zu erkennen. Auch dort waren überall Masten von Schiffen zu erkennen, deren Segel eingerollt waren, während die Wimpel in der Brise ratterten. Darüber hinaus waren etliche Fähren zu sehen, die von Ufer zu Ufer fuhren. An diesem Tag pflügte sogar ein großer Raddampfer wie ein riesiges Seeungeheuer durch das Wasser. Ned Tallant blickte auf den Hafen hinaus und sah ein Vermögen vor sich, das es zu machen galt.

»Ich habe diesen Ausblick schon immer geliebt«, sagte sie. »Als ich noch ganz klein war, gehörte es zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, Vaters Schiffe aus all denen da unten herauszupicken. Als ich vier war, konnte ich schon alle verschiedenen Schiffstypen benennen und sagen, welche Ladungen sie an Bord hatten.« Sie lachte. »Von unserem Salon aus hat mir Vater Geographie beigebracht. Noch bevor ich Charleston in South Carolina auf der Karte gefunden hatte, konnte ich schon die chinesischen Häfen aufzählen. Ich wollte schon immer einmal nach China … eigentlich will ich das noch immer.«

»Nach China! Wozu denn? Dort gibt es doch nur Heiden!«

Amy lachte. »Nicht ganz, Ned. Vergiss die Missionare nicht.«

»Das ist kein Ort für eine Frau.«

»Ned! Wie kannst du so etwas sagen? Die Chinesen waren schon zivilisiert, als sich die Briten die Gesichter noch blau angemalt haben.«

»Sie haben so viele seltsame Ideen, Miss Benedict! Nun gut, was können ein oder zwei Mädchenträume schon schaden? Genau aus diesem Grund müssen sich Männer um die Geschäfte kümmern. Weil du meine zukünftige Frau bist, sage ich dir jetzt, dass ich sehr viele Ideen habe, wie ich Benedict and Company zu noch größerem Ruhm führen kann.«

»Es ist wunderbar für Vater, einen so klugen Mann an seiner Seite zu haben, der ihm einen Teil der Last von den Schultern nimmt. Wie sehen denn deine Ideen aus, Ned?«

»Du würdest das ohnehin nicht verstehen.«

»Vater diskutiert seit meinem zehnten Lebensjahr seine geschäftlichen Angelegenheiten mit mir.«

»Ich bin sicher, dass er die Dinge für ein so kleines Mädchen ein wenig vereinfacht hat.«

»Dann vereinfache deine Ideen doch auch, Ned, bitte. Alles, was du tust, interessiert mich so sehr.«

Er lächelte und nahm ihre Hand. »Nun gut … also. Der Handel mit China ist schön und gut, aber überall sonst könnte man größere Profite machen.« Er hielt inne und holte tief Luft. »Im Zuckergeschäft, beispielsweise«, fuhr er fort.

Sie wandte sich ihm zu, um ihm in die Augen sehen zu können, und entzog ihm ihre Hand. »Zucker!« Sie spie das Wort förmlich aus. »Ich weiß genau, was das bedeutet. Zucker, Rum und dieser abscheuliche, entsetzliche Sklavenhandel!«

»Nun ja –«

»Oh, Ned, das kann nicht dein Ernst sein! Und wenn doch, dann musst du mich anhören. Ich muss dir sagen, dass –«

»Amy! Du schreist! Was ist nur mit dir los?«

»Es tut mir Leid, Ned, aufrichtig Leid, dass ich die Stimme erhoben habe. Aber du weißt, dass Sklaverei gegen das Gesetz ist.«

Er lächelte. »Natürlich weiß ich das. Und trotzdem werden noch immer Sklaven mit dem Schiff hergebracht, und die Eigentümer dieser Schiffe sind wohlhabende Männer.«

»Bitte, versuch doch zu verstehen. Solltest du Vater vorschlagen, dass Benedict and Company sich an diesem entsetzlichen Handel beteiligt, dann wird er jeglichen Respekt vor dir verlieren. Ich verspreche dir, mein lieber Ned, dass ihn eine derartige Idee zutiefst verletzen würde. Er würde vielleicht sogar … ich weiß nicht, was er in diesem Fall tun würde.«

»Jeder Geschäftsmann strebt nach dem größtmöglichen Profit. Dein Vater setzt sich offenbar für die Abschaffung der Sklaverei ein, trotzdem glaube ich, dass er sich das Ganze noch einmal überlegt, wenn er weiß, welche Profite in diesem Geschäft stecken.«

»Niemals!«

Er unterdrückte seinen Unmut und nahm ihre Hände. »Sieh nur, wie zu zitterst. Das ist allein meine Schuld. Frauen sind so zart besaitet. Ich hätte dir gegenüber niemals derart irdische Dinge anschneiden dürfen. Ich bitte dich um Verzeihung. Es wird nie wieder vorkommen.«

Er hatte nicht die Absicht, die Idee zu verwerfen, sich im Sklavenhandel zu betätigen – welche seltsamen Ansichten seine Frau zu diesem Thema auch immer vertreten mochte. Für ihn war all das keineswegs abscheulich. Natürlich würde er selbst nie einen Sklaven halten, niemals. Aber wenn die Herrschaften in Georgia oder Alabama das Gefühl hatten, Sklaven zu benötigen, wer sollte sie ihnen dann verwehren? Wenn er das täte, dann würde ein anderer seinen Platz einnehmen … und den Profit dafür einstreichen.

Doch das war die Zukunft, und heute war ihre Hochzeitsnacht. Schon bald würden er und seine Frau die Treppen hinaufsteigen, und er würde ein neues Leben anfangen.

Der Nachmittag verging wie im Flug – ein Glas Champagner nach dem anderen, Walzer, Polka, schottischer Reel und Gigue, Unmengen von Köstlichkeiten, die die beiden Dienstmädchen mit einem Knicks anboten. Er konnte nicht umhin, die Reize des jüngeren Mädchens zu bemerken, dieser Irin, die Amy für ihre Dienste im Haus ausgebildet hatte. Sie besaß hübsche, runde Brüste und eine Haut wie eine Kamelie, und in ihren Augen lag ein Flackern, das großes Feuer und Leidenschaft verhieß. Er wusste genau, was sie im Sinn hatte. Sie kam sehr viel häufiger an ihm vorbei, als es eigentlich notwendig gewesen wäre, und beugte sich so tief hinunter, dass er ungehindert einen Blick auf ihre weichen, jungen Brüste werfen konnte. Er malte sich aus, wie sie sich unter seinen Händen anfühlen würden – so jung, so weich und so geschmeidig. Er musste lächeln. Wenn er weiterhin solche Gedanken hegte, wäre es vielleicht gar nicht so schwierig, sich mit ein wenig Enthusiasmus seiner knochigen Frau zu widmen.

Amy war nervös. Ihre Handflächen waren schweißnass, und das Herz hämmerte in ihrer Brust. Sie saß aufrecht vor den mit Spitzen besetzten Kissen in ihrem breiten Ehebett. Die duftigen Musselin-Vorhänge waren vorgezogen, und im Kamin prasselte ein fröhliches Feuer vor sich hin, während im Schein einer flackernden Kerze Schatten an der Zimmerdecke tanzten. In einer Minute würde er in der Tür des Ankleidezimmers erscheinen, das Schlafzimmer durchqueren und ins Bett kommen … in ihr Bett.

Und da war er schon – in seinem weißen Leinennachtgewand. Ihr Mund fühlte sich auf einmal ganz trocken an. Seine Beine! Seine Beine waren wie Baumstümpfe. Über und über mit gekräuselten dunklen Haaren bedeckt. Was würde mit ihr geschehen? Was würde er tun?

Die Gedanken wirbelten so wild in ihrem Kopf umher, dass sie kaum denken konnte. Auf einmal war er neben ihr, beugte sich über sie und küsste ihre Hände. »Amy, meine Liebe, hab keine Angst. Ich würde dir nie wehtun. Niemals«, sagte er. Dann blies er die Kerze aus, so dass das Zimmer im goldenen Dämmer des Feuers lag. Im nächsten Augenblick lag er neben ihr – eine riesige Gestalt, die sich ihr zuwandte, die Arme um sie legte, ihr Haar streichelte und sie leidenschaftlich auf den Mund küsste, während er sie näher an sich zog.

Er schob das Nachthemd über ihre Hüften und ließ seine Hand an ihrem Oberschenkel nach oben wandern. Eine Woge der Hitze, wie sie sie noch nie erlebt hatte, flutete über ihren gesamten Körper hinweg. Ihre Haut fühlte sich feucht an und begann zu prickeln. Sie begann zu zittern wie Espenlaub. Ihre Glieder schienen ihr auf einmal nicht mehr gehorchen zu wollen. Sie wollte seinen Namen sagen und ihn bitten aufzuhören. Ihn bitten, sie nicht zu liebkosen, seinen Mund nicht auf ihren Hals zu pressen. Doch sie war nicht in der Lage, auch nur ein Wort herauszubringen.

Sie konnte kaum glauben, was er da tat! »Nein, nein«, murmelte sie, worauf er irgendetwas flüsterte, das sie jedoch nicht verstehen konnte, da er sein Gesicht an ihrem Hals vergraben hatte. Es schmerzte, doch sie biss sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuschreien. Und dann, auf einmal, hörte der Schmerz auf, und sie klammerte sich an ihn, atemlos von diesem vollkommen neuen Gefühl, von dem sie sich wünschte, es möge sofort aufhören, nein, es möge niemals mehr aufhören. Sie drängte ihre Hüften diesem eigentümlichen, harten Ding entgegen, das sie in so große Verzückung versetzte. Dann spürte sie ein rhythmisches Pulsieren tief in ihrem Inneren, und abermals begannen ihre Arme und Beine so schrecklich zu beben. Seine Bewegungen änderten sich, wurden plötzlich sehr schnell, und auch sein Atem beschleunigte sich zusehends. Und im nächsten Moment hielt er inne, gab ein Keuchen von sich und sank auf ihrer Brust zusammen.

Gleich darauf richtete er sich auf und zog sich zurück. »Oh, bitte, Ned«, sagte sie. Schon jetzt vermisste sie die Wärme und das Gewicht seines Körpers. »Bitte bleib.« Doch er hörte sie nicht mehr.

Großer Durst trieb Ned aus dem Bett. Er taumelte durch die Dunkelheit. Wo hatte das irische Mädchen nur den Wasserkrug hingestellt? Er tastete im Zimmer umher und fand ihn schließlich auf der Kommode. Er schenkte sich ein Glas ein, trank es aus und schenkte noch einmal nach. Gütiger Gott, wie sehr er sich wünschte, es wäre Whiskey. Er könnte jetzt wirklich einen Drink vertragen.

Er war verwirrt und verdrossen und musste in Ruhe ein paar Minuten nachdenken. Er war verärgert über seine Frau. Sie war wirklich ein seltsames Geschöpf. Eine Lady sollte nicht in so unschicklicher Weise zittern und schreien. Ihm war klar gewesen, dass sie ein wenig ungewöhnlich war, aber das hier war mehr gewesen als nur ein wenig unkonventionell. Das hier war … er wollte das Wort nicht einmal in Gedanken aussprechen. Aber sie hatte sich vielmehr wie eine Hure denn wie eine Dame benommen. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob sie tatsächlich noch Jungfrau gewesen war. Doch, ja, das war sie. Vielleicht lag es an ihrem fortgeschrittenen Alter. Möglicherweise hatte sich die Tatsache, dass sie bis zu ihrem siebenundzwanzigsten Lebensjahr Jungfrau gewesen war, auf ihren Verstand ausgewirkt.

Und seine eigene Erregung war noch viel verwirrender. Damit hatte er nicht gerechnet. Als er sie gebeten hatte, seine Frau zu werden, hatte er eine gute Partie im Auge gehabt, mehr nicht. Leidenschaft war in diesem Arrangement nicht vorgesehen. Und jetzt, heute Nacht, glomm sie plötzlich in seinen Lenden, ausgerechnet entfacht von diesem sonderbaren Wesen … Oh Gott. Er brauchte wirklich einen Drink.

Das erste Mal hatte er in Kalifornien geheiratet. Betsy, oh, mein Gott, diese Betsy mit ihren üppigen Brüsten, ihrer schlanken Taille, ihrem runden Hinterteil, das so fest war, als bestünde es aus Marmor, und ihren schräg stehenden, grünen Augen, mit denen sie jeden Mann entflammen konnte, wenn sie ihn nur ansah! Wie sehr er sie gewollt hatte! Vom Augenblick an, als er sie das erste Mal gesehen hatte, hatte er an nichts anderes mehr denken können. Er hatte augenblicklich aufgehört, zu Huren zu gehen, so tief waren seine Gefühle für sie gewesen, obwohl sie ihn beinahe einen Monat hatte zappeln lassen, ehe sie ihn an sich herangelassen hatte.

Und was für eine Nacht es war! Sie hatte ein Dutzend Kerzen angezündet, so dass sie einander ansehen, die Erregung des anderen betrachten konnten. Sie schliefen nicht in dieser Nacht. Stundenlang sorgte sie dafür, dass er bei ihr blieb, und wenn seine Manneskraft nachzulassen drohte, sagte sie Dinge zu ihm, von denen er nie geglaubt hätte, sie jemals aus dem Mund einer Frau zu hören. Und als er dachte, er sei am Ende seiner Kräfte angelangt und hätte seine nächtlichen Dienste geleistet, ging sie mit der Raffinesse ihrer Zunge ans Werk. Oh, Betsy kannte jeden Kniff, um einen Mann bei der Stange zu halten.

Ned kniff die Augen zusammen und krümmte sich innerlich beim Gedanken an seine Besessenheit von ihr. Denn nach dieser ersten Nacht wusste er, dass er nicht mehr ohne sie leben konnte, ja, nicht einmal mehr an etwas anderes denken. Er musste sie haben. Es gab sogar Zeiten, als er sich mitten am Tag von der Arbeit davonstahl, um zu ihr zu gehen und sich in ihr zu verlieren. Es war ein Hunger, der niemals gänzlich gestillt werden konnte, ein Hunger, der sich aus sich selbst nährte, und der wuchs, bis er seine Seele zu verschlingen drohte. Und sie erwiderte seine Leidenschaft. Sie war stets bereit für ihn, stets entflammt. Er hatte gedacht, sie liebte ihn. Verdammt, er hatte gedacht, er liebte sie. Er hatte sie sogar geheiratet!

Und dann kam der Tag, als er in das kleine Haus trat und das vertraute Stöhnen hörte. Mit klopfendem Herzen ging er in Richtung Schlafzimmer. Verdammt, sie hatte die Tür weit offen gelassen, und da waren sie. Sie und der dunkelhaarige Fremde. Sie saß auf seinen Hüften, den Kopf in den Nacken gelegt, die seidigen Brüste bebend, während ihr Haar sich über ihren Rücken ergoss und sie ihre Lust laut hinausschrie.

In diesem Augenblick kehrte er ihr für immer den Rücken, nahm sein Geld aus der Zuckerdose und suchte das Weite. Er wusste nicht, wohin er ging, sondern arbeitete sich einfach trinkend nach Norden vor, bis er wieder auf Zivilisation stieß.

Dort blieb er eine Weile, trank weiter und arbeitete in den Docks, wann immer er konnte. An diese sechs Monate seines Lebens hatte er praktisch keine Erinnerungen, er wusste nur, dass er am Ende nichts mehr in Händen gehabt hatte.

Eine der Huren unten an den Docks, eine ältere Frau namens Nancy, hatte Mitleid mit ihm und nahm ihn mit zu sich nach Hause, steckte ihn in ihr Bett und sorgte dafür, dass er seinen Rausch ausschlief, sich wusch und wieder auf die Beine kam.

»Du bist noch zu jung, viel zu jung, viel zu gut aussehend und viel zu klug, um dein Leben in der Gosse zu verbringen. Du solltest zusehen, dass du wieder in den Osten kommst, wo du hingehörst.«

Und das tat er auch. Er nahm die Postkutsche, dann noch eine und schließlich den Zug. Wo immer es Arbeit gab, nahm er sie an, bis er so viel verdient hatte, um die nächste Etappe zu bezahlen. Es hatte Monate gedauert, doch am Ende war er bis nach New York gekommen, wo er ein neues Leben anfangen konnte. Er hatte alles hinter sich gelassen, außer dem winzigen Bild von Betsy, das er an einem ganz besonderen, geheimen Ort versteckt hielt.

Mit Betsy war die Liebe etwas Fieberhaftes, Leidenschaftliches gewesen, ein dringendes Bedürfnis, das ihm keine Sekunde Frieden geschenkt hatte. Er war sich sicher gewesen, dass es dieses Mal anders wäre. Er hatte angenommen, Amy würde ein wenig wimmern, ein paar Tränen vergießen und sich schließlich trotz ihrer damenhaften Missbilligung fügen. Er hatte erwartet, seinen ehelichen Pflichten nachzukommen und nichts dabei zu empfinden.

Und stattdessen war sie erregt gewesen und hatte gestöhnt und sich in seinen Armen gewunden. Und er war ebenfalls erregt gewesen – mehr als seit einer halben Ewigkeit. Eines hatte er sich geschworen: Niemals wieder würde er zulassen, von der Leidenschaft einer Frau abhängig zu sein. Heute Nacht hatte er die Kontrolle verloren, und das würde nie wieder vorkommen. Er nahm noch einen Schluck Wasser. Er war davon ausgegangen, genau zu wissen, was er bekommen würde. Und jetzt begannen Zweifel an ihm zu nagen.

Das Haus der Geheimnisse

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