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Oktober 1855

Mrs. Edward Tallant gab ihre mittwochnachmittägliche Teegesellschaft, und ihr Salon war erfüllt von fröhlichen Damenstimmen. Die Fenster standen weit offen, um die warme Oktoberbrise hereinzulassen, die die duftigen Vorhänge kräuselte und Schatten auf den polierten Holzboden warf. Die Bäume ächzten unter ihren üppigen Früchten, und so manches Blatt hatte unter den ersten Vorboten von Väterchen Frost bereits eine goldene Färbung angenommen. Schon bald würde der Winter seine eisigen Finger nach allem ausstrecken, was wuchs und gedieh. Dennoch war es schwierig, sich an einem so strahlend schönen Tag das düstere, kalte Novembergrau vorzustellen, das schon in zwei Wochen Einzug halten würde. An diesem Tag zeigte sich der Altweibersommer in seiner schönsten Form im Garten, wo reife Kürbisse und die dicken, goldenen Blüten der Chrysanthemen um die schönste Färbung wetteiferten und das süße Aroma der heranreifenden Trauben durch die Fenster hereingetragen wurde.

Amy Tallant und ihre drei Gäste saßen im Kreis und tranken Jasmintee, knabberten Gebäck und Ingwer-Muffins, während sie die neuesten Klatschgeschichten austauschten. Amy saß mit mehreren Kissen im Rücken in einem bequemen Lehnstuhl und hatte die Füße auf einen Hocker gestellt. Nun, da sie sich im sechsten Monat befand, war ihr die Schwangerschaft deutlich anzusehen.

»Es war wirklich schwierig, damit aufzuhören, sich für die Abschaffung der Sklaverei einzusetzen«, sagte Amy lachend. »Und demnächst werde ich auch nicht mehr in die Kirche gehen können. Mr. Beechers Predigten werden mir wirklich fehlen. Er zieht einen so vollkommen in seinen Bann und gibt einem neuen Auftrieb. Er schafft es, dass man sich immer noch mehr anstrengen möchte. Aber …« Sie warf einen wehmütigen Blick auf ihren gewölbten Leib.

»Ich glaube, ich kann mir denken, weshalb dich die Kirchengemeinde schief ansieht«, sagte Harriet und beugte sich nach vorn, um einen weiteren Muffin von der Servierplatte zu nehmen. »Schließlich war mindestens die Hälfte von ihnen früher oder später im selben Zustand.« Sie schenkte Amy ein Lächeln und zwinkerte ihr zu.

»Wir vermissen deine Reden, liebe Amy«, meinte Susan. »Obwohl ich den Eindruck habe, dass es vielleicht ein versteckter Segen ist. Denn auf diese Weise widmest du wenigstens mehr Zeit dem Schreiben. Jede von uns kann ein paar Worte sagen, wenn es notwendig ist, aber nur sehr wenige bringen die Thesen so gut zu Papier wie du.«

»Und davon abgesehen«, warf Harriet ein, »erreichst du mit einem Pamphlet mehr Menschen.« Die Damen murmelten zustimmend. Amy lächelte dankbar. Sie hatte gute Freundinnen, die sie liebten und bewunderten. Sie hatte ihr geliebtes, schönes Haus. Sie setzte sich für eine Sache ein, die ohne Zweifel Engagement verdiente. Und, was am allerwichtigsten war, sie erwartete ein Kind!

In diesem Augenblick spürte sie die Bewegung des Kindes und legte eine Hand auf ihren Bauch, während sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Genau das war der Sinn und Zweck, eine Frau zu sein. Und damit nicht genug – sie hatte plötzlich Brüste, hübsche, runde Brüste, genauso wie jede andere Frau! Ihr Gesicht war nicht mehr so hager, und ihr Schultern und Arme waren ein wenig runder geworden. Alle bestätigten ihr, wie hübsch sie aussah.

Als Jemma mit dem kleinen Master Liam hereinkam, richteten sich alle Augenpaare auf die Tür. Liam war ein kräftiger Junge mit rosafarbenen Wangen, dichtem schwarzem Haar und hinreißenden blauen Augen. Er wand sich in Jemmas Armen und versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien.

»Da ist ja mein großer Junge!«, rief Amy. »Lass ihn runter, Jemma. Lass die Damen sehen, was mein kleiner Liebling in nur einer Woche geschafft hat.«

»Hast du ihm jetzt schon Griechisch beigebracht?«, fragte Abigail Chatham aus der Hicks Street.

Harriet lachte. »Nein, aber er wird einen Paragraphen für ihr Pamphlet verfassen.«

Margaret beugte sich vor. »Wo wir gerade dabei sind, Amy, du hast versprochen, dass du uns heute etwas daraus vorliest.«

»Oh, meine Liebe, ich fürchte, es ist noch nicht fertig. Am Montag dachte ich, ich hätte es geschafft, aber heute Morgen kam mir ein neuer Gedanke … ein Gedanke über … über Sklaverei und … Frauen. Über uns, um genau zu sein.«

»Über Sklaverei? Und uns? Was für ein seltsamer Zusammenhang«, sagte Harriet. »Oh, seht nur!« Liam krabbelte mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf sie zu.

»Er kommt und will seine Mama besuchen. Wie süß!«

Amy lachte. »Nein, keineswegs, meine liebe Susan!« Die Damen brachen in schallendes Gelächter aus, als er sich entschlossen dem Tisch näherte, sich an der Kante hochzog, das größte Gebäckstück packte und es sich in den Mund stopfte.

»Jetzt registriert er vielleicht, dass ich da bin«, fügte Amy hinzu. »Liam! Liam, komm her, und setz dich auf Mamas Schoß!«

»Machen Sie sich keine Mühe, Miz Amy, ich nehm ihn gleich wieder mit zurück in die Küche. Sonst stopft er sich mit Süßigkeiten so voll, dass wir ihn nich dazu kriegen, noch was zu Abend zu essen.«

Amy beobachtete, wie sich Jemma graziös bückte, das Baby auf ihren Arm nahm und anschließend von einer Dame zur nächsten ging, so dass jede ihm einen Kuss auf seine rosafarbene Wange drücken konnte. Als sie so aufrecht in ihrem gestärkten Baumwollkleid und ihrem blütenweißen Turban dastand, sah sie beinahe königlich aus. Und wer konnte schon sagen, ob in Wahrheit nicht das Blut eines Königs aus ihrem Heimatland durch ihre Adern floss?

Aufmerksam betrachtete Amy ihr Dienstmädchen; mit einem Mal sah sie sie mit völlig anderen Augen. Noch nie hatte sie darüber nachgedacht, wie Jemma aussah. Sie war dunkelhäutig, eine Negerin, und sie sah anders aus als die Weißen, exotisch.

Aber in Afrika – war sie nach den Kriterien ihres eigenen Landes hübsch? Für eine Sekunde sah Amy eine andere Jemma – eine Jemma, die schön war, deren breite Nase wie geschaffen war für einen Ring und deren volle, breite Lippen wie üppige, weiche Kissen aussahen. Wessen Tochter war sie? Hatten ihre Eltern geweint, als sie in die Sklaverei verkauft worden war, in ein Land, das so weit entfernt war?

»Ich glaube«, sagte Amy, nachdem die Dienerin gegangen war, »dass wir Frauen mehr mit Jemma gemeinsam haben, als uns bewusst ist. Ich habe über die Sklaverei nachgedacht, und dabei ist mir klar geworden, dass Versklavung in einer Weise Unterwerfung bedeutet, die Frauen besonders betrifft. Wie schrecklich ist das Los der Sklavinnen! Sie werden gezwungen, sich ihrem Herrn hinzugeben, was sie auch immer dabei empfinden. Stellt euch vor, dass euch ein Mann befiehlt, zu ihm ins Bett zu kommen, den ihr nicht liebt! Und das, obwohl ihr bereits verheiratet seid! Es ist schauderhaft, absolut schauderhaft. Es ist unmenschlich!«

Margaret stellte klirrend ihre Teetasse ab. »Aber, Amy, sie heiraten doch nicht wirklich. Sie springen doch nur über irgendeinen Besenstiel.«

»Aber, liebe Margaret, das ist doch nicht der Punkt!«, wandte Harriet rasch ein. »Gezwungen zu werden, sich hinzugeben, darum geht es.« Sie erschauderte.

»Es ist ein Verbrechen«, fuhr Amy fort. »Und eine Sünde. Eine Sünde, die darüber hinaus noch jeder sehen kann …«

»Mulatten«, mischte Susan sich ein und nickte wissend.

Erschüttert sahen sich die vier Frauen an. »Oh, ich könnte heulen, wenn ich nur daran denke, wie diese Frauen von zu Hause verschleppt und von so genannten zivilisierten Männern so grob behandelt und … und …« Sie hielt inne, während sich ihr Gesicht vor Verlegenheit rötete.

»Es gibt ein Wort dafür, Harriet, und wenn wir zu empfindlich sind, es auszusprechen, dann wird es uns nie gelingen, all dem ein Ende zu bereiten. Deshalb sage ich es, meine lieben Freundinnen. Vergewaltigung.« Amy starrte sie herausfordernd an und fragte sich, ob sie sie wegen ihrer wenig damenhaften Ausdrucksweise rügen würden.

Aber ihre Gäste erhoben keinerlei Einwände, sondern beschäftigten sich emsig mit ihren Tassen, Teelöffeln und Servietten. Das Unaussprechliche war ausgesprochen.

Amy wusste, was ihre Freundinnen dachten – dass sie über die Maßen unverblümt und mutig war. Eine einzigartige Frau. Aber ihre Kraft war nichts als Illusion und reichte nicht tiefer als unter die oberste Hautschicht. Es war so einfach, mit dem Finger auf Südstaaten-Plantagenbesitzer zu zeigen, die ihre Sklavinnen zwangen, ihnen zu Willen zu sein. Und ebenso einfach war es, das Wort »Vergewaltigung« im Zusammenhang mit unbekannten Frauen dunkler Hautfarbe auszusprechen.

Aber was wäre, wenn sie ihnen ihre eigene Geschichte erzählen würde? Wenn sie ihnen gestehen würde, wie sie dieses Baby – den Erben ihres Mannes, das Baby in ihrem Bauch, auf das sie so lang gewartet hatte, das sie sich ersehnt und erfleht hatte – empfangen hatte? Was, wenn sie mit dem Finger anklagend auf Ned Tallant zeigen und »Vergewaltigung« schreien würde?

Verzweifelt versuchte sie, diese Gedanken beiseite zu schieben und sich stattdessen auf das Baby zu konzentrieren, das sie unter dem Herzen trug; dieses Kind, das sie niemals zu bekommen geglaubt hatte. Und das sie wollte, oh, lieber Gott, trotz allem, was geschehen war, so verzweifelt und um jeden Preis wollte.

Es war erst im März, und doch schien es ihr ein ganzes Jahrhundert zurückzuliegen, manchmal sogar noch länger. Nachdem sie ihre Absicht verkündet hatte, Brigits Baby zu behalten, machte Ned eine Zeit lang den Eindruck, als würde er die Veränderung im Haus akzeptieren. Er würdigte das Kind zwar kaum eines Blickes, das war jedoch nicht weiter ungewöhnlich. Männer interessierten sich nie für Kinder. Er blieb lange aus, und oft machte er sich nicht einmal die Mühe, vor dem Morgengrauen nach Hause zu kommen. Alles war wie immer – abgesehen davon, dass sie inzwischen Liam hatte, den sie lieb haben und um den sie sich kümmern konnte. Er war ein sonniges Kind, lachte viel und begann vor Vergnügen zu zappeln, wenn er sie erkannte. Wie sehr sie ihn liebte! Ihn anzuschauen genügte schon, um ihre Stimmung zu heben.

Ihr Vater amüsierte sich über sie: »Du blühst ja regelrecht auf, mein Liebes. Man könnte wirklich glauben, er wäre dein eigenes Kind.«

»Aber Vater, er ist mein Kind«, antwortete Amy. Und genau so empfand sie es auch. Es gab Augenblicke, in denen es ihr schwer fiel zu glauben, dass sie ihn nicht selbst zur Welt gebracht hatte.

Und so vergingen die ersten Wochen mit ihm in einer Wolke des Glücks. Zum ersten Mal seit langer Zeit war sie wieder glücklich und zufrieden. Wenn Ned sich doch auch über das Familienleben freuen könnte!

Aber sie wusste, dass diese Hoffnung vergeblich war. Ned war höflich, aber distanziert und machte sich kaum die Mühe, mit ihr zu reden. Das war das kleinere Übel, denn oft musste sie schon erleben, dass Ned Tallant in der Lage war, sie ausgesprochen hart anzufassen. Deshalb war es eindeutig vorzuziehen, wenn er ihr keine Beachtung schenkte. Sie beschloss, die Dinge hinzunehmen, wie sie waren – schließlich entsprach dies doch der christlichen Lehre.

Doch eines Abends, als sie sich hinter dem Wandschirm auszog, wurde die Tür zum Schlafzimmer aufgerissen, und er stand da – Stunden früher und weniger betrunken als gewöhnlich.

»Komm sofort hinter diesem Schirm vor!«

»Einen Augenblick, Ned.«

»Ich habe gesagt, sofort, und ich meine es auch so.«

»Und ich habe gesagt, einen Moment, Ned. Ich muss erst –« Doch weiter kam sie nicht, denn er stürzte auf sie zu und fegte mit einer kurzen Handbewegung den zarten japanischen Wandschirm zu Boden.

»Ned!« Zutiefst erschrocken versuchte sie, ihre Blöße zu bedecken.

Doch Ned lachte nur, ein Lachen, das ihr Gänsehaut verursachte. »Ich will deine Schönheit betrachten, meine Liebe. Bedeck dich nicht mit den Händen, sondern komm her, und dreh dich herum. Ich will dich in all deiner weiblichen Pracht ansehen.«

Sie war zu schockiert, um etwas zu erwidern. Als sie sich umdrehte, um nach ihrem Morgenmantel zu greifen, wurde sie plötzlich gepackt. Wie ein Schraubstock umfasste seine Hand ihre Schulter und grub sich schmerzhaft in ihr Fleisch.

»Wage es nicht!«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Du bist meine Frau, verdammt noch mal, und wenn ich sage, du sollst dich zeigen, dann wirst du gehorchen!«

»Niemals!«

Statt einer Antwort hob er die Hand gegen sie, das Gesicht wutverzerrt und dunkelrot. »Verdammt, Weib! In der ganzen Stadt gibt es keinen Ort, an dem man mich nicht als Henne in meinem eigenen Haushalt bezeichnet. Und nur weil dein Vater beschlossen hat, dich mit Geschenken zu überhäufen, bringst du mich in diese unerträgliche Lage, dass ich um alles betteln muss, was ich will. Verdammt, ich bin hier der Hahn

»Ned! Hör auf! Du tust mir weh!« ‘

»Ich werde nicht aufhören! Ich bin es leid, dich ständig um einen Gefallen bitten zu müssen. Und ich sage dir jetzt, Mrs. Tallant, dass es einen Platz in diesem Haus gibt, an dem ich regiere!«

Grob drängte er sie zum Bett, warf sie auf die Matratze, spreizte ihre Beine mit seinem Knie und ließ sich schwer auf sie sinken, während er seine Hosen herunterzog. Und im nächsten Moment war er in ihr und stieß heftig atmend und erbarmungslos zu. Sein Atem roch sauer und schal. Sie schloss die Augen und wandte ihr Gesicht ab, doch er riss ihr Kinn mit Gewalt wieder zurück. »Ich will zusehen, wie du dich fügst. Nur ein einziges Mal«, stieß er zwischen den Zähnen hervor.

Er konnte sie nicht daran hindern, die Augen zu schließen, ebenso wenig wie sie es verhindern konnte, dass Tränen über ihre Wangen liefen. Als er das sah, lachte er und schob sich mit einem kraftvollen Stoß in sie, der ihn augenblicklich zum Höhepunkt brachte. Danach zog er sich von ihr zurück, als wäre sie schmutzig.

»Denk daran«, sagte er mit einem Anflug von Triumph in der Stimme. »Von jetzt an denk immer daran: Du bist meine Frau, und du wirst dich mir fügen, wann immer ich es will.«

Der Schmerz in ihrem Körper und das Gefühl, wie eine gewöhnliche Hure behandelt worden zu sein, hielten noch Stunden danach an. Sie war sicher, dass er die Absicht hatte, ihren Willen zu brechen. Er hatte es ihr oft genug angekündigt. Von diesem Tag an lebte sie in ständiger Angst vor dem nächsten Mal.

Aber wem konnte sie schon von dem entsetzlichen Vorfall erzählen? Er hatte ihre Ehe für immer entwürdigt. Das heilige Band zwischen Mann und Frau, die Verbindung, von der sie geglaubt hatte, sie sei ein Ausdruck der Liebe und des Zusammenhalts, war besudelt und entweiht. Amy musste ihr normales Leben weiterführen und durfte sich nicht das Geringste anmerken lassen. Ned näherte sich ihr nie wieder in dieser Weise, und sie stellte mit einer Mischung aus Erleichterung und Trauer fest, dass ihre Ehe beendet war.

Doch aus düsteren Momenten konnte, so schien es, auch etwas Strahlendes erwachsen … wie sie bei einer Überfahrt auf der Fähre nach New York erkannte. Sie und Ned waren gemeinsam mit Harriet und George Hewitt auf dem Weg zum Theater, standen an der Reling und schwatzten über dies und jenes, als sie plötzlich in Ohnmacht fiel. Gerade hatte sie noch an der Reling gestanden und interessiert den fünfmastigen Schoner betrachtet, der gerade auslief, und plötzlich lag sie auf dem Deck und sah die Gesichter über sich, die sich nach ihrem Befinden erkundigten.

George neckte sie mit der Bemerkung, sie sei nach all den Jahren wohl nicht mehr seefest. Aber Harriet, die übers ganze Gesicht strahlte, hatte verstanden. Als sie eine ruhige Bank gefunden hatten, wo niemand sie hören konnte, griff sie nach Amys Hand. »Oh, meine Liebe, ich freue mich so für dich! Warum hast du es mir denn nicht erzählt?«

»Dir was erzählt, Harriet?« Amy fühlte sich noch immer ein wenig unsicher auf den Beinen.

»Amy, Liebes. Zieh mich nicht auf. Ich bin deine älteste und beste Freundin, und wir haben uns seit unserem sechsten Lebensjahr immer unsere wichtigsten und dunkelsten Geheimnisse anvertraut. Es verletzt mich beinahe ein wenig, dass du mir nichts gesagt hast –«

»Harriet, um Himmels willen, hör auf, in Rätseln zu sprechen.«

Harriet lächelte. »Rätsel, ja? Bist du zufällig einen Monat überfällig?«

»Einen Monat –? Oh. Oh, meine Güte! Harriet, glaubst du etwa –«

Harriet nahm Amy in die Arme. »Meine Liebe, ich freue mich so für dich. Und für Ned.«

Ned! Auf einen Schlag kam die Erinnerung an diese grauenvolle Nacht wieder hoch, doch dieses Mal war sie gegen den Schmerz gewappnet. Dieses Mal gelang es ihr, sie beiseite zu schieben und nur noch zu denken: Ich bin schwanger! Ich bin endlich schwanger.

»Ned«, sagte sie laut. »Oh ja, Ned.«

»Er wird sich darüber freuen, dass du schwanger bist, wie George jeden Monat, in dem er erfährt, dass ich es nicht bin.«

Ned freute sich tatsächlich sehr. »Endlich ein richtiger Sohn«, sagte er. Wie sie es hasste, dass er Liam als »Bastard«, an dem seine Frau einen Narren gefressen hat, behandelte. Doch sie konnte nichts dagegen tun, außer Liam doppelt zu lieben. Zumindest benahm sich Ned inzwischen einigermaßen anständig, kam an den meisten Abenden zum Essen nach Hause und betrank sich nur in den Tavernen.

Jetzt waren die Freundinnen beim Wiederaufbau des Parker Collegiate Institute angelangt und diskutierten darüber, welche Schule in der Gegend die beste für ihre Töchter wäre.

»Was wird ihnen all diese Ausbildung nützen«, warf Amy ein, »wenn sie am Ende doch nur heiraten und versprechen müssen, den Ehemann zu lieben, zu ehren und ihm zu gehorchen?«

»Meine Güte, was ist denn so falsch daran? Das haben wir doch alle getan.«

»Versteht ihr denn nicht, dass das auch eine Form der Sklaverei ist?«

»Oh, Amy«, meinte Margaret. »Manchmal sind deine Gedanken wirklich sehr seltsam. Die Ehe ist doch keine Sklaverei.«

»Müssen wir Ehefrauen uns nicht unterwerfen, unserem Herrn und Meister gehorchen und –«

»Wenn es eine Frau auf der Welt gibt, die ihrem Herrn und Meister nicht gehorcht, dann ist das ganz bestimmt Mrs. Edward Tallant!«, sagte plötzlich eine Stimme an der Tür.

Sämtliche Köpfe fuhren herum. Ned stand im Türrahmen und lächelte grimmig. Amys Freundinnen hielten ihn alle für einen netten, intelligenten und witzigen Mann. Nur sie konnte erkennen, was darunter verborgen lag.

»Amy ist bekannt für ihren unabhängigen Geist«, bemerkte Harriet.

»Viel zu bekannt, würde ich sagen«, erwiderte Ned. Amy starrte ihn an. Er sprach die Worte übertrieben gedehnt aus, was augenblicklich ihren Argwohn weckte. Er hatte mitten am Tag getrunken, und er wagte es, herzukommen und sie vor ihren Freundinnen zu demütigen! Sie würde dafür sorgen müssen, dass er ging, ehe er irgendetwas Widerwärtiges sagen konnte.

Sie erhob sich mühsam, trat neben ihn und sah lächelnd in seine ausdruckslosen Augen. »Ned, Lieber, du siehst müde aus. Vielleicht wäre es besser, du würdest nach oben gehen und dich eine Weile hinlegen«, schlug sie ruhig vor.

»Mrs. Tallant hat mich ins Bett eingeladen, Ladies. Soll ich ihrer reizenden Einladung Folge leisten?«

Amy wurde rot. Sie konnte sich nicht überwinden, sich umzudrehen und ihren Freundinnen ins Gesicht zu sehen.

»Es ist schon halb fünf, du meine Güte. Meine Familie wird sich schon fragen, wo ich bleibe«, hörte sie Harriet plötzlich hinter sich sagen.

Die Damen waren bemüht, seine Worte zu ignorieren, ihn zu ignorieren. Die Geräusche verrieten Amy, dass sie bereits aufstanden und sich zum Gehen fertig machten. Sie spürte, wie ihre Wangen vor Scham glühten.

Mit einem Abschiedsgruß und einem flüchtigen Kuss auf Amys Wange machten sich die Freundinnen eilig auf den Weg. An der Eingangstür blieb Harriet stehen und drückte ihre Hand. »Ich schreibe dir, sobald ich zu Hause bin, meine Liebe. Und morgen musst du mich besuchen kommen.« Amy nickte. Wenn sie sich doch nur endlich alles von der Seele reden könnte.

Als die drei Damen die Treppe hinuntergingen, kam ihnen Amys Vater mit besorgter, zorniger Miene entgegen. Er zwang sich bei ihrem Anblick zu einem Lächeln, lüftete den Hut, verbeugte sich und begrüßte sie mit seiner gewohnt ruhigen, höflichen Art. Doch als sie um die Ecke der Willow Street verschwunden waren, kehrte der ernste Ausdruck auf sein Gesicht zurück. Er kam die letzten Stufen herauf, blieb vor Amy stehen und legte ihr eine Hand an die Wange. Diese zärtliche Geste rührte sie so sehr, dass ihr die Tränen in die Augen schössen. Unfähig, etwas zu sagen, wandte sie sich ab und lief ins Haus zurück.

Wortlos gingen sie und ihr Vater die Treppe hinunter ins Esszimmer, wo Ned sie nicht hören konnte. Amy schloss die Tür hinter sich und hoffte, dass Ned inzwischen zu Bett gegangen war.

»Vater, lass mich Jemma rufen, damit sie dir frischen Tee bringt«, schlug sie vor. »Wie es der Zufall will, hat Cook Ingwer-Muffins gebacken, die du so gern isst, und ich glaube –«

»Meine liebe Tochter.« Mit trauriger Miene breitete er die Arme aus.

Das war zu viel. Sie senkte den Kopf und begann zu schluchzen. Er trat zu ihr, legte ihr einen Arm um die Schultern und führte sie zum Sofa.

»Oh Vater, verzeih mir, es ist mein Zustand.« Sie sah zu ihm auf, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.

»Amy, du brauchst dich vor mir nicht mehr zu verstellen.«

»Oh, Vater!«

Er saß ruhig neben ihr, bis ihre Tränen versiegten und tupfte mit seinem großen Taschentuch sanft ihr Gesicht trocken, so wie er es immer getan hatte, als sie noch ein Kind gewesen war und sich die Knie aufgeschlagen hatte. Nur dass diesmal mehr als eine zärtliche Umarmung nötig wäre, um diese Wunde zu heilen. »Oh Vater, verzeih mir. Ich bin so dumm.«

»Wenn du dumm bist, dann bin ich es auch, meine liebe Amy. Weil ich ebenso von Ned Tallant überzeugt war wie du, Neuerdings fehlt er sehr oft im Büro. Seine Entschuldigungen kamen mir zwar immer schon merkwürdig vor, aber ich wollte ihn nicht zu Unrecht beschuldigen. Aber heute Nachmittag gab es keinen Zweifel mehr. Nachdem er vom Mittagessen zurückkam, war er eindeutig betrunken und hat sich dazu noch sehr schlecht benommen. Es tut mir Leid, dass ich dir all das sagen muss, Amy, aber du und ich, wir waren immer sehr offen zueinander. Es wäre schrecklich für mich, wenn das jetzt anders wäre. Ich mache mir Sorgen um dich, mein Liebes. Und ich sehe, dass diese Sorge durchaus berechtigt ist. Willst du mir nicht erzählen, weshalb du weinst? Hat er dir wehgetan?«

Sie hob den Kopf. »Nein!« Warum log sie so bereitwillig?

Er seufzte. »Nun, inzwischen weiß ich, dass er dafür bekannt ist, schnell aufzubrausen, wenn er getrunken hat. Ich wünschte nur, ich hätte schon früher davon gehört, dann hätte ich ganz bestimmt etwas dagegen unternommen. Aber es ist sinnlos, sich über Dinge Gedanken zu machen, die sich nicht mehr ändern lassen. Was soll jetzt geschehen, das ist die Frage. Aber zuerst musst du mir erzählen, was dich so unglücklich macht.«

Für den Bruchteil einer Sekunde musste sie gegen die Versuchung ankämpfen, ihm alles zu erzählen. Es wäre eine so große Erleichterung. Doch dann wurde ihr klar, dass sie es nicht konnte. Sie konnte ihrem geliebten Vater nicht auf diese Weise wehtun. »Er hat mich mit einer ungehobelten Bemerkung vor meinen Freundinnen blamiert, Vater. Es ist nicht das erste Mal, dass er sich so schlecht benimmt, und ich kann ihn einfach nicht mehr lieben.« Wehmütig deutete sie auf ihren gewölbten Bauch. »Aber ich fürchte, ich bin zu spät darauf gekommen.«

»Unsinn, Liebes. Es gibt so etwas wie Scheidung. Ich glaube, er ist ein bekannter Gast in … nun … gewissen Etablissements …, was dir natürlich die Gründe in die Hand gibt, die du brauchst. Ich werde dir nach Kräften helfen, und wie du weißt, verfüge ich über beträchtlichen Einfluss.«

»Scheidung!«

»Heißt das, du stimmst zu?«

»Es klingt durchaus verlockend, Vater, das muss ich zugeben. Vom Verstand her stimme ich dir zu. Aber es hat so lange gedauert, bis ich mich endlich als Frau fühlen konnte! Ich habe doch schon ein Kind und bekomme bald noch ein zweites, deshalb kann ich nicht an Scheidung denken.«

»Ich kann dafür sorgen, dass es sich für ihn lohnt, dich zu verlassen.«

»Nein, nicht jetzt. Noch nicht.«

Nachdem sie ihrem Vater versichert hatte, dass ihr nichts geschehen würde, verließ er das Haus. Sobald er fort war, ging sie ruhelos im Zimmer auf und ab, fuhr mit den Fingern über den Samt der Vorhänge, die glatte Oberfläche einer chinesischen Vase, das polierte Holz der Kommode. Sie würde dieses Haus niemals verlassen, wie groß ihre Schwierigkeiten auch immer sein mochten.

Entschlossen, an ihrem Pamphlet weiterzuarbeiten, griff sie nach ihren Papieren. Plötzlich hielt sie angewidert inne. Heuchlerin! Sie hatte geschrieben, dass Frauen sich über ihre Gefühle erheben und Gleichberechtigung und Freiheit in ihrer Ehe fordern – oder anderenfalls gehen müssten. Doch für sich selbst hatte sie diese Möglichkeit abgelehnt. Sie würde Ned nicht fortschicken. Sie konnte es nicht.

Als das Kind in ihrem Bauch zu strampeln und zu treten begann, lehnte sich Amy gegen die Kamineinfassung. Sie hasste Ned Tallant! Und dennoch erfüllte sie die Vorstellung, er könne sie verlassen, mit so großer Furcht, dass sie kaum Luft bekam. Das verstand sie einfach nicht. Wie war es möglich, dass sie sich ein Leben ohne den, der sie quälte und beschämte, nicht vorstellen konnte? Dass sie Angst davor hatte, ohne ihn sein zu müssen. Frauen waren eben einfach schwache Geschöpfe. Sie legte den Kopf auf den Kaminsims und weinte bittere, hilflose Tränen.

Das Haus der Geheimnisse

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